• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "EuGH-Urteil zu Bereitschaftsdiensten: Für die Ärzte ändert sich zunächst wenig" (05.09.2003)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "EuGH-Urteil zu Bereitschaftsdiensten: Für die Ärzte ändert sich zunächst wenig" (05.09.2003)"

Copied!
4
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 365. September 2003 AA2279

V

oraussichtlich am Dienstag, dem 9. September, wird der Europäi- sche Gerichtshof (EuGH) das endgültige Urteil im Rechtsstreit Dr.

Norbert Jäger (Az.: C-151/02) verkün- den. Der Kieler Assistenzarzt klagt für die Anerkennung des Bereitschaftsdien- stes als Arbeitszeit und beruft sich auf

die Richtlinie 93/104/EG. Deutsches und europäisches Arbeitsrecht wider- sprechen sich im Hinblick auf die De- finition des Bereitschaftsdienstes. Es wird davon ausgegangen, dass der EuGH auch für Deutschland feststellt, dass Bereitschaftsdienste, die ein Arzt im Krankenhaus leistet, im vollen Um- fang als Arbeitszeit zu werten sind. Frag- lich ist, welche rechtlichen und tatsäch- lichen Folgen sich aus einer solchen Entscheidung ergeben.

Die ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) definiert den Bereitschaftsdienst als die Zeitspan- ne, während derer ein Arbeitnehmer, oh-

ne dass er unmittelbar am Arbeitsplatz anwesend sein müsste, sich für Zwecke des Betriebs an einer vom Arbeitgeber bestimmten Stelle des Betriebs aufzu- halten hat, damit er erforderlichenfalls seine volle Arbeitstätigkeit sofort oder zeitnah aufnehmen kann. Insoweit un- terscheidet sich der Bereitschaftsdienst

von der so genannten Rufbereitschaft, bei der sich der Arbeitnehmer an einem Ort eigener Wahl aufhalten kann, von dem er bei Bedarf aus tätig wird.

Zeiten des Bereitschaftsdienstes zäh- len nach herkömmlicher Auffassung nicht als Arbeitszeit im Sinne des § 2 Abs. 1 Arbeitzeitgesetz (ArbZG).Aller- dings folgt dies nicht aus der dort getrof- fenen Definition der Arbeitszeit, wo- nach Arbeitszeit „die Zeit von Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhe- pausen“ ist.Als „Arbeit“ ließe sich auch das Bereithalten zur Arbeit auf Abruf noch verstehen, ohne gegen Ausle- gungsgrenzen zu verstoßen. Trotzdem

EuGH-Urteil zu Bereitschaftsdiensten

Für die Ärzte ändert sich zunächst wenig

Die absehbare Einordnung des Bereitschaftsdienstes als Arbeitszeit hat keinen unmittelbaren

Einfluss auf bestehende Arbeitsverträge.

Jörg Laber

Einer für alle: Der Kieler Assistenzarzt Dr. Norbert Jäger klagt vor dem Europäischen Gerichtshof für die Anerkennung des Bereitschaftsdienstes als Arbeitszeit. Foto: dpa

sagbar. Es bleibt offen, wie der Transfer von Fortbildungen in die Praxis gelin- gen kann und ob Studenten, die in pro- fessioneller Kommunikation geschult wurden, die besseren Ärzte werden.

Die Annahme, dass erfolgreiches medizinisches Handeln die Etablierung eines guten Kontakts zwischen Arzt und Patient voraussetzt, wird dem Er- fahrungswissen vieler Ärzte entspre- chen. Zusätzlich wird es notwendig sein, mehr als bisher eine Verbindung zwi- schen gelungener Kommunikation und einer effektiven und damit kostengün- stigen Behandlung wissenschaftlich nachzuweisen. Möglich ist, dass sich die- ser Zusammenhang nur unzureichend durch Forschung belegen lässt – ohne dass deshalb die alltagspraktische Gül- tigkeit geschmälert wäre.

Daher kann es sinnvoll sein, die Dis- kussion in eine andere Richtung zu len- ken, nämlich neben dem Bemühen um zusätzliche Rationalisierung und Effek- tivitätssteigerung auch die Grenzen die- ses Ansatzes für die Anwendbarkeit in der medizinischen Versorgung in den Blick zu fassen. Es wird zu fragen sein, inwieweit Konzepte, die die Relevanz der Arzt-Patient-Beziehung für den Er- folg medizinischer Interventionen ver- nachlässigen, für die Praxis tauglich sind. Es muss über Werthaltungen und normative Konzepte diskutiert werden, also darüber, was das Ziel einer ärztli- chen Behandlung sein soll und was ei- nen guten Arzt ausmacht.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2003; 100: A 2277–2279 [Heft 36]

Anschriften der Verfasser:

Peri Terzioglu Diplom-Psychologin Reformstudiengang Medizin Charité, Humboldt-Universität zu Berlin E-Mail: Peri.Terzioglu@charite.de Britta Jonitz

Fachärztin für Innere Medizin E-Mail: britta.jonitz@charite.de Prof. Dr. med. Ulrich Schwantes Facharzt für Allgemeinmedizin, Psychotherapie Institut für Allgemeinmedizin

Charité, Humboldt-Universität zu Berlin E-Mail: Ulrich.Schwantes@charite.de Prof. Dr. med. Walter Burger Facharzt für Pädiatrie

Charité, Humboldt-Universität zu Berlin E-Mail: walter.burger@charite.de

(2)

ist die Rechtslage eindeutig: Die gesetz- liche Zuordnung des Bereitschaftsdien- stes zur Ruhezeit und gerade nicht zur Arbeitszeit ergibt sich zwingend aus §§ 5 Abs. 3 und 7 Abs. 2 Nr. 1 ArbZG.

Nach § 5 Abs. 3 ArbZG können in Krankenhäusern und anderen Einrich- tungen zur Behandlung, Pflege und Be- treuung von Personen „Kürzungen der Ruhezeit durch Inanspruchnahme wäh- rend des Bereitschaftsdienstes . . . zu an- deren Zeiten ausgeglichen werden“. § 7 Abs. 2 Nr. 1 ArbZG gestattet es, in einem Tarifvertrag „abweichend von § 5 Abs. 1 die Ruhezeiten bei Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft den Besonderheiten dieser Dienste anzupassen, insbesondere Kürzungen der Ruhezeit infolge von In- anspruchnahme während dieser Dienste zu anderen Zeiten auszugleichen“.

Beide Vorschriften im Arbeitszeitge- setz setzen mithin voraus, dass die Zeiten des Bereitschaftsdienstes, während de- rer der Arbeitnehmer nicht in Anspruch genommen wird, Ruhezeit, jedenfalls keine Arbeitszeit darstellen. Ein anderes Verständnis ist widerspruchsfrei nicht möglich. Die Bewertung des Bereit- schaftsdienstes als Ruhezeit, soweit nicht Arbeit tatsächlich anfällt, entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers. In der Gesetzesbegründung zu § 7 Abs. 2 Nr. 1 ArbZG heißt es, Rufbereitschaft und Bereitschaftsdienst seien „arbeits- zeitrechtlich grundsätzlich als Ruhezeit zu werten“.Würden gleichwohl auch die Zeiten der Nichtinanspruchnahme als Arbeitszeit behandelt, wären die in §§ 5 Abs. 3, 7 Abs. 2 Nr. 1 ArbZG enthalte- nen, auf Bereitschaftsdienste bezogenen Regelungen sinnentleert, und ein An- wendungsbereich für sie würde nicht mehr vorhanden sein.

Die europäische Arbeitszeitrichtlinie

Das seit dem 1. Juli 1994 geltende Ar- beitszeitgesetz dient wesentlich der Um- setzung europäischen Rechts, nämlich der so genannten Arbeitszeitrichtlinie.

Nach § 2 Nr. 1 Arbeitszeitrichtlinie ist Arbeitszeit jede Zeitspanne, während derer ein Arbeitnehmer gemäß den ein- zelstaatlichen Rechtsvorschriften und/

oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Ar- beitgeber zur Verfügung steht und seine

Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahr- nimmt. Nach Art. 2 Nr. 2 Arbeitszeit- richtlinie ist jede Zeitspanne außerhalb der Arbeitszeit Ruhezeit.

In Anwendung dieser Vorschriften hat der EuGH durch Urteil vom 3. Oktober 2000 auf Ersuchen eines spanischen Ge- richts zur Auslegung des Begriffs Ar- beitszeit im Sinne der Richtlinie 93/104 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeit- gestaltung vom 23. November 1993 Stel- lung genommen und festgestellt, dass Be- reitschaftsdienst, wie ihn spanische Ärzte und mit der Pflege beschäftigte Personen in Teams zur medizinischen Grundver- sorgung in Form persönlicher Anwesen- heit in den Räumen einer öffentlichen Gesundheitseinrichtung leisten, insge- samt zur Arbeitszeit im Sinne der Richtli- nie gezählt werden muss (RsC 303-98).

Diese Rechtsprechung hat der EuGH am 3. Juli 2001 in der Entscheidung

„CIG/Sergas“ bestätigt (RsC 241/99).

Demnach ist die vertragsgemäße Anwe- senheit in den Räumlichkeiten des Ar- beitgebers, verbunden mit der Pflicht, bei Bedarf jederzeit berufliche Tätigkeit auf- zunehmen, in vollem Umfang Arbeitszeit im europarechtlichen Sinne, das heißt im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der EG-Arbeits- zeitrichtlinie. Darauf, was die betreffen- den Personen außerhalb der Zeiten tatsächlich geleisteter Arbeit tun oder tun dürfen, insbesondere, ob es ihnen ge- stattet ist zu schlafen, kommt es nicht an.

Aus der Rechtsprechung des EuGH ist zu folgern, dass die Umsetzung der Arbeitszeitrichtlinie im deutschen Ar- beitszeitgesetz teilweise nicht mit der EG-Richtlinie zur Arbeitszeit verein- bar ist. Denn hierzulande wird Bereit- schaftsdienst generell nicht zur Arbeits- zeit gerechnet, sondern nur jene Zeiten, in denen während des Bereitschafts- dienstes tatsächlich gearbeitet worden ist. In seinem Urteil vom 5. Juni 2003, über das bislang nur eine Pressemit- teilung vorliegt, hat der 6. Senat des BAG zutreffend festgestellt, dass das SIMAP-Urteil des EuGH weder auf na- tionale noch auf berufsspezifische Be- sonderheiten abgestellt hat.

Die Reaktionen von Legislative und Judikative in Deutschland sind unter- schiedlich. Zum Teil folgen deutsche Gerichte dem EuGH (zum Beispiel das Arbeitsgericht Gotha am 3. April 2001, Az.: 3 BV 1/01), zum Teil wird seine

Rechtsprechung für unerheblich erach- tet (so das Arbeitsgericht Lübeck am 17. Januar 2001, Az.: 4 Ca 3055/00: Ret- tungsdienst), oder sie legen dem EuGH die Frage der Vereinbarkeit der natio- nalen Normen mit dem europäischen Arbeitszeitrecht vor, wie dies das Lan- desarbeitsgericht Schleswig-Holstein mit Beschluss vom 12. März 2002 vollzogen hat (Az.: 3 Sa 611/01).

Bewegung im Bereich der Normset- zung hat es (soweit ersichtlich) bislang nicht gegeben. Weder sind Bemühun- gen erkennbar, tarifvertragliche Rege- lungen abzuändern oder gar das Ar- beitszeitgesetz der Arbeitszeitrichtlinie anzugleichen. Derzeit werden weder kurz- noch mittelfristig entsprechende Änderungen zu erwarten sein. Ob und wann die Tarifvertragsparteien zu ei- nem Konsens kommen, ist unklar. In Bezug auf das Arbeitszeitgesetz ist eine eigenständige Novelle derzeit nicht an- gedacht. Die nächste Gesetzesände- rung dürfte allein der Umsetzung einer Novelle der EG-Richtlinie Arbeitszeit dienen. Die anstehende Novelle zur EG-Arbeitszeitrichtlinie befasst sich nicht mit dem Thema Arbeitszeit und Bereitschaftsdienst im Krankenhaus .

Keine direkte

Anspruchsbeziehung

Nach ganz überwiegender Auffassung in Rechtsprechung und Literatur ist die Regelung der Bereitschaftsdienste im Arbeitszeitgesetz mit dem Gemein- schaftsrecht unvereinbar. Trotzdem führt dies nicht zu ihrer Nichtigkeit, sondern nur zu ihrer Unanwendbarkeit.

Sämtliches Gemeinschaftsrecht, sowohl Primär- als auch Sekundärrecht, bean- sprucht Vorrang vor dem nationalen Recht (Bundesverfassungsgericht, Az.:

2 BvR 197/83). Der Vorrang besteht nicht nur gegenüber staatlich gesetztem Recht, sondern auch gegenüber Tarif- normen, etwa § 15 Bundesangestellten- tarifvertrag (EuGH,Az.: C-184/89). Das Gleiche gilt mit Blick auf entgegen- stehende Regelungen in Dienst- oder Betriebsvereinbarungen. Der Anwen- dungsvorrang setzt allerdings eine un- mittelbare Geltung und Wirkung des Gemeinschaftsrechts voraus. Im Ar- beitsrecht sind nur solche Normen des T H E M E N D E R Z E I T

A

A2280 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 365. September 2003

(3)

Gemeinschaftsrechts unmittelbar an- wendbar, die Rechte und Pflichten im Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer oder zwischen ihnen und staatlichen Stellen begründen können (BAG, Az.: 1 ABR 2/02).

Im Unterschied zu verschiedenen Normen des Primärrechts und Rege- lungen in EG-Verordnungen kommt der Richtlinie jedoch keine unmittelba- re Wirkung zu. Vielmehr wenden sich Richtlinien nach Art. 249 Abs. 3 EG an die Mitgliedsstaaten und verpflichten diese, die betreffenden Vorgaben in na- tionales Recht umzusetzen (BAG, Az.:

1 ABR 47/95). Die Befugnis zur unmit- telbaren Rechtsetzung haben die Ge- meinschaftsorgane nur dort, wo sie Ver- ordnungen erlassen können (EuGH, Az.: C-91/92).

In Ausnahmefällen können aller- dings auch EG-Richtlinien unmittelba- re Wirkung entfalten. Der EuGH ver- tritt insoweit in ständiger Rechtspre- chung die Auffassung, dass sich ein Mit- gliedsstaat, der eine Richtlinie gar nicht oder nicht ordnungsgemäß innerhalb der vorgesehenen Frist umgesetzt hat, gegenüber seinen Bürgern nicht auf diese Säumigkeit berufen kann. Im In- teresse der praktischen Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts kommt der Richtlinie in einem solchen Fall unmit- telbare Wirkung zugunsten der Bürger zu, wenn die betreffende Vorschrift eine inhaltlich hinreichend bestimmte und unbedingte Regelung enthält (EuGH, Az.: Rs 148/78 und Az.: C-253/96). Das Bundesverfassungsgericht hat die Ver- einbarkeit dieser Rechtsprechung mit dem deutschen Zustimmungsgesetz zum EWG-Vertrag bestätigt (BVerfG, Az.: 2 BvR 687/85).

Die insoweit mögliche unmittelbare Wirkung und der damit verbundene Anwendungsvorrang einer nicht umge- setzten Richtlinie beschränkt sich indes auf das Verhältnis zwischen Bürger und säumigem Staat. Dagegen kommt einer nicht umgesetzten Richtlinie im Ver- hältnis zwischen Bürgern untereinan- der keine unmittelbare Geltung zu (EuGH, Az.: C-91/92.). Dies bedeutet, dass zwischen einem privaten Arbeitge- ber und einem Arbeitnehmer eine Richtlinie deshalb keine unmittelbare Anspruchsbeziehung begründen kann.

Gegenüber einem solchen Arbeitgeber

kann sie vor einem nationalen Gericht nicht in Anspruch genommen werden.

Liegen die Voraussetzungen für eine unmittelbare Wirkung der Richtlinie – wie stets im Verhältnis privater Perso- nen zueinander – nicht vor, kommt ein Anwendungsvorrang der Richtlinie und die damit verbundene Unanwend- barkeit der entgegenstehenden natio- nalen Vorschriften von vornherein nicht in Betracht.

Als „Staat“, dem gegenüber eine nicht ordnungsgemäß umgesetzte, hin- reichend bestimmte und unbedingte Vorschrift einer Richtlinie unmittelba- re Wirkung entfaltet, sind nach der Rechtsprechung des EuGH vor allem die Gebietskörperschaften, zum ande- ren aber auch alle Organisationen und Einrichtungen anzusehen, die dem Staat oder dessen Aufsicht unterstehen oder mit besonderen Rechten ausge- stattet sind, die über diejenigen hinaus- gehen, die nach den Vorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten (EuGH, Az.: C-188/89).

Das Bundesarbeitsgericht hat in sei- nem Beschluss vom 18. Februar 2003 ei- nerseits festgestellt, dass die Zuordnung von Bereitschaftsdienst zur Arbeitszeit im Sinne von Art. 2 Nr. 1 Richtlinie 93/104/EG durch die SIMAP-Rechtspre- chung des EuGH auf die Verhältnisse in Deutschland übertragbar ist, ohne dass ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH notwendig ist.Dabei hat das BAG

betont, dass nach dem Arbeitszeitge- setz vom 6. Juni 1994 nach nationalem Recht Bereitschaftsdienst nicht als Ar- beitszeit anzusehen ist. Ein der Richtlinie 93/104/EG entsprechendes anderes Ver- ständnis sei auch im Wege der gemein- schaftsrechtskonformen Auslegung nicht möglich, da anderenfalls die Rechtsan- wendung die Grenzen der Auslegung des nach dem Wortlaut eindeutigen Arbeits- zeitgesetzes überschritte. Die gemein- schaftsrechtskonforme Auslegung des Arbeitszeitgesetzes käme einer Teilauf- hebung gleich.Eine solche Befugnis steht den Arbeitsgerichten nach Art. 20 Abs. 3 GG indes nicht zu.

Präjudizwirkung des Urteils im Fall Jäger

Das LAG Schleswig-Holstein hat dem EuGH im Fall Jäger am 12. März 2003 er- neut einen Fragenkatalog vorgelegt, um in einer Vorabentscheidung eine Rechts- klärung von Grundsatzfragen zum The- ma ärztlicher Bereitschaftsdienste zu er- reichen (LAG Schleswig-Holstein, Az.: 3 Sa 611/01). Nachdem eine erste mündli- che Verhandlung in der Rechtssache Jä- ger vor dem EuGH am 25. Februar 2003 stattgefunden hat (Az.: C-151/02), hat am 8. April 2003 der Generalanwalt seine Schlussanträge vorgetragen, von denen der Gerichtshof in aller Regel nicht mehr entscheidend abweicht. Dámso Ruiz- T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 365. September 2003 AA2281

Nur wenn die arbeitsvertraglich bisher zulässige Anordnung von Bereitschaftsdienst zu einer Überschreitung der höchstzulässigen Arbeitszeit oder zur Nichteinhaltung von Ruhepausen/

Ruhezeiten führt, ändert sich nach dem 9. September etwas für die Krankenhausärzte.

Foto:Caro/Teich

(4)

Jarabo vertrat die Auffassung,dass es sich bei dem Bereitschaftsdienst, den ein Arzt in einem deutschen Krankenhaus leistet, in vollem Umfang um Arbeitszeit im Sin- ne der Richtlinie 93/104/EG über be- stimmte Aspekte der Arbeitszeitgestal- tung handelt – und zwar auch insoweit, als es ihm gestattet ist, in Zeiten der Nichtinanspruchnahme zu schlafen. Die- se Zeiten der Untätigkeit während des Bereitschaftsdienstes könnten somit nicht als Ruhezeit eingestuft werden, zu- mal wenn dem Arbeitnehmer nicht eine bestimmte Zahl von zusammenhängen- den Ruhestunden garantiert sei.

Die Richter des Gerichtshofs sind im Anschluss daran in die Beratung der Rechtssache eingetreten. Das Urteil wird für den 9. September erwartet. Es wird davon ausgegangen, dass auch in diesem Fall der Gerichtshof dem Schlussantrag des Generalanwalts fol- gen wird und erstmalig explizit auch für Deutschland festgestellt wird, dass Be- reitschaftsdienste, die ein Arzt in einem Krankenhaus leistet, in vollem Umfang Arbeitszeit im Sinne der Arbeitszeit- richtlinie darstellen.

Fraglich ist, welche rechtlichen und tatsächlichen Folgen sich aus einer der- artigen Entscheidung ergeben.

Unzweifelhaft entfaltet ein Vorabent- scheidungsurteil bindende Wirkung im Hinblick auf das Ausgangsverfahren, das zu der Vorlage des nationalen Gerichts Anlass gegeben hat, also für das Verfah- ren Jäger vor dem LAG Schleswig-Hol- stein. Dies gilt sowohl für das zuständige Gericht als auch für jedes andere deut- sche Gericht, das in derselben Sache zu entscheiden hat, das heißt insbesondere das BAG (soweit die Revision zu ihm zu- gelassen wird) und das zuständige Ar- beitsgericht, das nach einer etwaigen Zu- rückverweisung durch das LAG Schles- wig-Holstein zu entscheiden hätte.

Die Bindungswirkung im Ausgangs- verfahren besteht darin, dass die natio- nalen Gerichte den anhängigen Rechts- streit „Jäger“ entsprechend der Auffas- sung des EuGH zu entscheiden haben.

Sie dürfen von dessen Spruch nicht ab- weichen, das heißt, sie haben das ar- beitszeitrechtliche Gemeinschaftsrecht in der vom EuGH gegebenen Ausle- gung auf den Ausgangsfall Jäger anzu- wenden beziehungsweise dürfen für ungültig erklärtes Recht nicht mehr zur

Anwendung bringen. Sie sind nicht be- fugt, den Inhalt der Vorabentscheidung zu überprüfen oder abzuändern.

Entfaltet die Vorabentscheidung des EuGH nach allgemeiner Auffassung grundsätzlich unmittelbar Bindewir- kung nur im Hinblick auf das Ausgangs- verfahren, so schließt dies nicht aus, dass auf die in einem Vorabentschei- dungsurteil aufgezeigten Lösungen auch im Rahmen anderer Verfahren zurück- gegriffen werden kann, in denen es um die gleichen oder ähnliche gemein- schaftsrechtliche Vorfragen geht. Man kann insoweit von der Leitfunktion oder Präjudizwirkung der Vorabent- scheidung sprechen.

Kein Einfluss auf Arbeitsverträge

So folgt aus der Feststellung, wonach letztinstanzliche Gerichte nicht zur Vorlage verpflichtet sind, wenn die glei- che Streitfrage bereits vom EuGH im Rahmen eines anderen Verfahrens ent- schieden worden ist, dass zumindest letztinstanzliche Gerichte die frühere Entscheidung des EuGH ihrer Urteils- findung zugrunde liegen müssen, es sei denn, sie entschließen sich, etwa im Lichte geänderter Umstände, zu einer erneuten Vorlage.

Insoweit folgerichtig hat der 1. Se- nat des BAG am 18. Februar 2003 die SIMAP-Rechtsprechung des EuGH in vollem Umfang seinen Feststellungen und Rechtsausführungen zugrunde ge- legt. Das BAG hat sich dabei allerdings außerstande gesehen, das geltende na- tionale Arbeitszeitgesetz im Lichte der Arbeitszeitrichtlinie auszulegen, da dem der vorhandene Wortlaut entge- gensteht. Dessen Änderung sei allein Sache des Gesetzgebers.

Einen unmittelbaren Handlungsauf- trag an den Gesetzgeber wird aber das zu erwartende Urteil des EuGH in der Sache „Jäger“ als Vorabentscheidung nicht enthalten. Vielmehr erzeugt es ausschließlich unmittelbare Wirkungen zwischen den dortigen Parteien. Von daher lässt sich schwer voraussagen, ob und, wenn ja, wann der deutsche Gesetz- geber nach einer die SIMAP-Recht- sprechung aller Wahrscheinlichkeit nach bestätigenden Entscheidung des

EuGH im Fall Jäger eine Anpassung des Arbeitszeitgesetzes an die Vorga- ben der Arbeitszeitrichtlinie vorneh- men wird. Mit einer sofortigen Ände- rung ist nicht zu rechnen.

Insoweit sind auch die nichtstaatli- chen Krankenhäuser und andere Ein- richtungen des Gesundheitswesens nicht verpflichtet, ihre derzeitige Handha- bung der Arbeitszeiten beziehungswei- se Bereitschaftsdienste zu ändern. Es ist dann allein Angelegenheit der betroffe- nen Ärzte, in jedem Einzelfall Rechte zu suchen, wenn die Krankenhäuser weiterhin die erwarteten Feststellungen des EuGH nicht umsetzen.

Hervorzuheben ist, dass für die An- wendung des privaten Arbeitsrechts weder die bisherige SIMAP-Rechtspre- chung noch die erwartete Entscheidung im Fall Jäger durch den EuGH unmit- telbare Folgen herbeiführen kann. Die Auslegung von Arbeitsverträgen, Be- triebs- oder Dienstvereinbarungen so- wie Tarifverträgen bestimmt sich nach allgemeinen Grundsätzen, unter ande- rem auch nach den Definitionen der Parteien. So werden zum Beispiel be- reits nach geltendem Tarifrecht des öf- fentlichen Dienstes die Begriffe Ar- beitsbereitschaft, Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft unterschiedlich de- finiert. Folgen hat die Beurteilung von Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes deshalb nur, wenn die arbeitsvertraglich an sich zulässige Anordnung von Bereitschafts- dienst zu einer Überschreitung der höchstzulässigen Arbeitszeit, Nichtein- haltung von Ruhepausen oder Ruhezei- ten führt. Der Arbeitnehmer kann inso- weit ein Leistungsverweigerungsrecht geltend machen, der Betriebsrat einen nach öffentlichem Recht unzulässigen Dienstplan ablehnen. Für die arbeits- vertraglichen Entgeltansprüche ist die Frage dagegen unerheblich. Sie richten sich ausschließlich nach den anzuwen- denden Bestimmungen. Hieran wird auch die zu erwartende Entscheidung des EuGH im Fall Jäger nichts ändern.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2003; 100: A 2279–2282 [Heft 36]

Anschrift des Verfassers:

Dr. jur. Jörg Laber Bismarckstraße 11–13 50672 Köln T H E M E N D E R Z E I T

A

A2282 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 365. September 2003

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

tet zu bekommen, die im Zusammenhang mit Telekommunikationsdienstleistungen, die gegenüber einem in einem anderen EU-Mitgliedstaat ansässigen Unternehmen erbracht

Im be- sprochenen Urteil bestätigt der EuGH dabei seine Rechtsprechung, wonach eine steuerliche Benachteiligung, die eine (ehemals unselb- ständig erwerbstätige)

56 und 58 EG-Vertrag sind dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegenstehen, nach der bei der

Unter Berufung auf das in der Rechtssache Deutsche Shell ergangene Urteil 16 stellt der EuGH sodann fest, dass die Niederlassungs- freiheit nicht dahin verstanden werden kann,

Bei Gesprächen zwischen Wissenschaftlern, religiö- sen und gesellschaftlichen Führungs- persönlichkeiten, die allerdings nicht Teil des Regimes sind, sowie Vertre- tern

Ge- wiss, der wendige Witwer Zardari er- klärte schon beim Amtsantritt, der Krieg gegen den Terror sei nicht nur Sache der Amerikaner, sondern auch Pakistans.

In vielen Fällen ist die Verweigerung des Militärdienstes allerdings Ausdruck politischer Überzeugungen – sei es, dass sie in der Ablehnung jeglicher Anwendung

32 Die Kommission trägt vor, der Wortlaut der Übergangsregelungen lasse eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit erkennen. 33 Diese Bestimmungen stellten eine Ausnahme von