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Archiv "Benzodiazepin-Abhängigkeit: Klinik der Entzugs-Syndrome" (03.02.1984)

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ÜBERSICHTSAUFSATZ

1. Einleitung

Im Aufsatz über die Ätiologie der Benzod iazepi n-(BZ-)Abhäng ig- keit*) hatten wir auf Gemeinsam- keiten und Unterschiede hinge- wiesen, welche die Besonder- heiten der BZ-Abhängigkeit im Gesamt aller zur Abhängigkeit führenden Mißbrauchsmuster charakterisieren. Ähnlich wie beim Alkoholismus (nicht zufällig finden sich Alkohol, Schlafmittel und Tranquilantien zusammen in einer Abhängigkeits-Kategorie der WHO-Klassifikation) begeg- nen wir Patienten mit gewisser- maßen einfacher Gewöhnung, vergleichbar den „Spiegel-Trin- kern" (Delta-Alkoholiker nach Jel- linek), viel häufiger als progre- dienten BZ-Toxikomanien, die den süchtigen Trinkern (Gamma- Alkoholikern nach Jellinek) äh- neln. In beiden Bereichen (Alko- hol und BZD) gibt es zwar Über- gänge von der Delta- zur Gamma- Abhängigkeit, aber niemals den umgekehrten Weg.

Das aktuelle ärztliche Problem ist in anderer Weise als beim Alkoho- lismus der zu einfacher Gewöh- nung führende Dauergebrauch von BZD. Beim Delta-Alkoholiker entstehen körperliche Abhängig- keit mit Unfähigkeit zur Abstinenz und verschieden ausgeprägte al- koholtoxische Organschäden, und mit Recht betrachtet man die- se Patienten als Alkoholkranke.

Von der Persönlichkeitsstruk- tur her handelt es sich in über- wiegendem Maße um Menschen ohne charakteristische Beson- derheiten, der „Durchschnitts-

mensch" ist betroffen, der in ebensolchem soziokulturellen Umfeld lebt. Das Trinkverhalten seiner „Umgebung" (hier als bio- graphisch relevante Umwelt be- griffen) prägt seinen eigenen Al- koholkonsum-Stil.

Demgegenüber kann man den BZ-Dauerkonsumenten nicht mit gleichem Recht als BZ-krank be- zeichnen, gibt es bei ihm doch beispielsweise keine oder allen- falls äußerst seltene toxische Or- ganschäden. Auch kann die Prä- gung durch die Umwelt nicht in gleicher Intensität erfolgt sein, selbst dann nicht, wenn man die oft durchschlagende Mitwirkung von Modeströmungen berück- sichtigt. (In den nächsten Genera- tionen kann gerade hier ein ge- waltiger Wandel eingetreten sein, falls sich die allgemeinen Medi-

kamenten-Konsumgewohnheiten unserer Tage nicht grundlegend ändern.) Gemeinsam ist dem Ge- wohnheitstrinker und dem Dauer- konsumenten von BZD die Unfä- higkeit zur Abstinenz und seine Rekrutierung aus dem Bereich weitgehend unauffälliger Mitbür- ger mittleren und späteren Le- bensalters.

2. Low dose Dependency 2.1. Allgemeines

Unter dem klinisch lange Zeit übersehenen Phänomen der

„Low Dose Dependency" wird der immer häufiger zu registrierende Tatbestand verstanden, daß ein Teil der Dauereinnehmervon BZD

Der legitime Anspruch des Pa- tienten auf wirksame Behand- lung vielfältiger Beschwerde- muster und die Erfahrung des Arztes, mit Benzodiazepinen rasch und „risikoarm" helfen zu können, sind nicht selten der Beginn einer iatrogenen Abhängigkeitsentwicklung.

den einmal empfohlenen thera- peutischen Richtdosisbereich zwar nie überschreiten (37, 56, 58)**). Sie können aber diese Do- sis nicht absetzen oder komplika- tionslos reduzieren, weil die durch einen toleranzbedingten Rebound-Effekt verursachten und

„Therapeutic-dose withdrawal"

(37) genannten Entzugssymptome (u. a. Ängstlichkeit, reizbare Dys- phorie, Schlaflosigkeit, Lethargie, Konzentrationsstörungen und ei- ne Reihe neurasthenisch-psycho- vegetativer Störsymptome) zur Kompensation mit der eingespiel- ten Dosis zwingen. Hinsichtlich des empirisch gewonnenen, (hyp- nosedativ-)„anxiolytischen" Wirk- effektes sind für die therapeuti- sche Dosis von 10 mg Diazepam (Valium®) in Tabelle 1 die entspre- chenden Äquivalenz-Dosen der wichtigsten BZD zusammenge- faßt.

Unter regelmäßiger Niederdosis- einnahme z. B. von Tavor® und Valium® entwickeln mindestens ein Viertel aller Patienten bereits nach vier Monaten (56) bei abrup- tem Absetzen eine vorwiegend durch Ängstlichkeit, Spannung und Schlafstörung charakterisier- te Entzugssymptomatik; nach ei- nem Jahr sind das schon 80 Pro- zent (26). Diese Entzugssympto- me dürfen wegen ihrer erschei- nungsbildlichen Ähnlichkeit nicht mit den ursprünglich behandelten Symptomen verwechselt werden.

*) Dt. Arztebl. 81 (1984) Heft 4, Seite 211

—) Die in Klammern stehenden Ziffern bezie- hen sich auf das Literaturverzeichnis des Sonderdrucks.

Benzodiazepin-Abhängigkeit:

Klinik der Entzugs-Syndrome

Jobst Böning und Otto Schrappe t

Aus der Psychiatrischen Klinik und Poliklinik (Direktor Professor Dr. Otto Schrappe

der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität zu Würzburg

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Analoges gilt auch für andere the- rapeutisch eingesetzte „Tages- tranquilizer" (zum Beispiel Lexo- tanil®, Adumbran® bzw. Praxiten®, Tranxilium®). Nach mehrjähriger Einnahmedauer von BZD hat man bei plötzlicher Therapieunterbre- chung so gut wie immer mit Ent- zugssymptomen zu rechnen, wo- bei frühere Gewöhnungen an an- dere Hypnosedativa oder Alkohol ein erhöhtes Risiko bedeuten (vgl.

37). In vielen Fällen läßt sich die psychopathologische Symptoma- tik weder qualitativ noch quantita- tiv sicher von derjenigen anderer Patienten mit einem Entzug nach hohen Dosen unterscheiden (18).

Die mit unterschiedlicher Latenz- zeit teilweise anschwellende Symptomatik erreicht zwischen dem 3. bis 7. Entzugstag den stärksten Ausprägungsgrad (26), wobei keine Korrespondenz zur

T112 des Mittels vorliegen muß. Die

Entzugssymptome klingen oft erst in den folgenden 2 bis 4 Wochen ab (26, 37), mitunter persistieren sie undulierend über mehrere Wochen bis Monate — mehr in Ab- hängigkeit von der Dauer als von der Dosis der BZD-Behandlung.

Nach mehrjähriger Einnahme können, wenn man sich um ge- zielte psychopathologische Be- funderhebungen bemüht, selbst

bei langsamem Ausschleichen ne- ben ängstlichen Affekten andere typische, den Patienten beunruhi- gende und insofern erhebliche Entzugserscheinungen beobach- tet werden.

Sie treten als Störungen der sen- sorischen Perzeption, Depersona- lisations und Derealisations-Phä- nomene sowie als Mischung von Aufmerksam keits-, Konzentra- tions- und Antriebsstörungen auf (47).

2.2. Hypnosedative BZD

Die als „Schlafmittel ohne Alter- native" eingesetzten BZD redu- zieren den REM-Schlaf und das Tiefschlafstadium 4 nur geringfü-

Oxazepam (u. a. Adumbran®,

Praxiten®) 50 mg

Chlordiazepoxid

(Librium®) 30 mg

Nitrazepam

(u. a. Mogadan®) 5 mg Flurazepam

(u. a. Dalmadorm®) 30 mg Flunitrazepam

(Rohypnol®) 1-2 mg

Lormetazepam

(Noctamid®) 1-2 mg

Triazolam

(Halcion®) 0,5 mg

Diakaliumchlorazepat

(Tranxilium®) 20 mg Clobazam

(Frisium®) 20 mg

Clonazepam

(Rivotril®) 2 mg

Clothiazepam

(Trecalmo®) 10 mg

Medazepam

(Nobrium®) 20 mg

Prazepam

(Demetrin®) 20 mg

Temazepam

(Remestan®, Planum®) 20 mg Ketazolam

(Contamex®) 30 mg

Bromazepam

(Lexotanil®, Normoc®) 4,5 mg Lorazepam

(Tavor®) 1-2 mg

Camazepan

(Albego®) 20 mg

Tabelle 1: Klinisch empirische Äquiva- lenz-Dosen der gebräuchlichsten BZD zur (hypnosedativ-)„anxiolytischen"

Wirkkomponente von 10 mg Diazepam (ergänzt und modifiziert nach Poser u.

Mit. 1983)

gig. Selbst Präparate mit kurzer

T 1 12 (kein morgendlicher hang

over) können dennoch nach mehr als zweiwöchiger Anwendung ei- nem gewissen Wirkungsverlust unterliegen. Entsprechend kann plötzliches Absetzen nach 4- bis 6wöchiger, abendlicher Einmal- dosis zur Rebound insomnia (23)

führen, so daß sich nach der notwendigen Behandlung von Schlafstörungen vorsorgehalber ein langsames Herunterdosieren empfiehlt.

BZD mit (ultra-)kurz bis mittleren

T 1 12 wie Triazolam (Halcion®), Flu-

nitrazepam (Rohypnol®) und Nit- razepam (Mogadan®, imeson®, Eatan®N, Somnibel®N) scheinen diesbezüglich besonders „anfäl- lig" zu sein (19).

Aber auch längerwirkende BZD wie Flurazepam (Dalmadorm®, Staurodorm® Neu) und zum Schlafen höherdosierte „Tages- tranquilizer" wie Diazepam (Vali- um®) und Dikalium-Chlorazepat (Tranxilium®) sind nicht frei von dieser Problematik. Über die erst kurz auf dem Markt befindlichen hypnosedativen BZD wie Temaze- pam (Planum®, Remestan®), Lor- metazepam (Noctamid®) und Ke- tazolam (Contamex®) kann — bei grundsätzlich gleicher Skepsis — noch kein Urteil gefällt werden.

2.3. latrogene

Syndrommetamorphosen

BZD mit besonders gutem anxio- lytischen Wirkspektrum brauchen naturgemäß nur als Niederdosis- Therapie verordnet zu werden. Als adjuvante Therapiemaßnahme gilt dies erst recht bei allen Erkran- kungen, wo Angst- und Span- nungszustände frei flottierend oder viszeral abgewehrt als kör- perliche Beschwerden erlebt wer- den. Werden jedoch hier Thera- pieziel und -dauer nicht von vorn- herein eindeutig abgesteckt, blei- ben selbst langfristig mit BZD, und insofern fehlbehandelte, de- pressive und psychosomatische Patienten nicht vor der Gefahr körperlicher Abhängigkeit ver- schont.

Im Entzug begegnet man larvier- ten oder sogar floriden pseudo- angstneurotischen Bildern, die in der Regel nicht anders als sekun- däre und meist iatrogen verur- sachte Krankheitsmetamorpho- 280 (60) Heft 5 vom 3. Februar 1984 81. Jahrgang Ausgabe A

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Benzodiazepin-Abhängigkeit

sen darstellen. Es kann allein auf- grund verhaltensbiologischer und neuroadaptativer Lern- und Ge- wöhnungsvorgänge zur BZ-indu- zierten „iatrogenen Angstneu-

rose"(5) kommen (s. a. u.).

Psychosomatische Beschwerden und Erkrankungen können als zu- nächst viszeral konditionierbare Reaktionsweisen später sekundär generalisieren und sind dann oft leider nur noch begrenzt psycho- therapeutisch zugänglich. Die Möglichkeit der prompten Sym- ptomentlastung durch ein BZD ei- nerseits und der Leidensdruck und Schweregrad der unter Um- ständen eine Arbeitsunfähigkeit bedingenden psychosomatischen Störung nötigen den Therapeuten nicht selten zum Rezeptieren „wi- der besserer Einsicht" (5).

Damit befindet sich der Arzt be- reits mitten im Komplex des naht- losen Überganges vom psychoso- matischen Krankheitsbild zur je-

derzeit und bei jedem Patienten prinzipiell möglichen Entwicklung einer körperlichen Gewöhnung (5) mit der ihr eigenen Dynamik, welche die Ausgangsstörung nur noch als leere Hülse trägt.

Wird die behauptete „große thera- peutische Sicherheit" von BZD auch dann noch aufrechterhalten, wenn sich unter den erwähnten klinischen Beobachtungen das Gegenteil herausstellt, so ist der Sicherheitsfaktor Medikament zu relativieren und darf das Sicher- heitsrisiko nicht ohne weiteres dem Patienten zugeschrieben werden.

Dieser Aspekt sollte auch bei der längerfristigen Behandlung mit Kombinationspräparaten, beste- hend aus einem BZD und einem Antidepressivum, berücksichtigt werden (z. B. Limbatril®, Psyton®,

Levothym Plus®). Wird jetzt z. B.

das alteingeführte BZD Oxazepam in einer „ursachengerechten"

Kombination zusammen mit ei- nem „natürlichen" Antidepressi- vum (Serotonin-Präkursor L-5- Hydroxytryptophan) auf den Markt

gebracht, so sollten für diese als

„Breitband-Antidepressivum"

ausgewiesene Kombination die Hinweise „Ihren Patienten zulie- be" und für „depressive Patienten mit unsicherer Compliance" über- dacht werden.

Die gleiche klinische Problematik trifft auch für langfristig mit BZD fehlbehandelte Depressive zu.

Selbst endogen Depressive kön- nen sowohl innerhalb, aber bevor- zugt nach Phasenende eine kör- perliche Abhängigkeit entwickeln.

Verschmierte, die depressive Grunderkrankung nicht nur pro- longierende und verschleiernde, sondern auch entdifferenzierende psychopathologische Beschwer- debilder bestimmen leider zuneh- mend den klinischen Alltag. Bevor sich aber nach konsequentem Mittelentzug die unverfälschte Psychodynamik und Psychopa- thologie der ursprünglichen Er- krankung bzw. der wahren Aus- gangspersönlichkeit herausfiltern kann, ist ein für den Patienten oft beschwerlicher Weg zu durchste- hen (5).

Wen in diesem Abschnitt von la- trogenie die Rede ist, dann wegen der unbestreitbaren Tatsache, daß ohne ärztliche Verschreibung auch die genannten Syndrom-Me- tamorphosen nicht denkbar wä- ren. Unabhängig davon sind alle beschriebenen Folgen langdau- ernder, auch niedrig dosierter BZD-Anwendung vorrangig cha- rakteristische Eigentümlichkeiten dieser Stoffklasse. Man muß diese Seite ihres Wirkungsspektrums ebenso gut kennen wie ihre ver- schiedenen Indikationsgebiete.

Entschließt man sich zum länge- ren Einsatz, sollte vorherauch das Risiko einer Langzeittherapie be- rücksichtigt worden sein. Ande- renfalls dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, daß sich der ver- schreibende Arzt in die Lage ver- setzt sieht, sich gegen den Vor- wurf verteidigen zu müssen, schuldhaft gehandelt zu haben, wenn ein Patient abhängig oder sogar süchtig wurde.

3. Entzugspsychosen, Krämpfe 3.1. (Patho-)Physiologie des GABA/BZ-Rezeptor-Chlorid- Komplexes

Neben der zu vermutenden BZ- Rezeptor-Ligand-Regulation geht der molekulare Wirkungsmecha- nismus der BZD im ZNS über eine GABA-erge Verstärkung endogen hemmender Kontrollmechanis- men für so wichtige Funktionen wie Schlaf, Angst, Krampfaktivität und Muskeltonus (33). Die um ei- nen Chloridkanal angeordnete Koppelung der meisten BZ-Re- zeptoren an GABA-Rezeptoren bilden im Sinn einer funktionellen Einheit einen gemeinsamen GA- BA/BZ-Rezeptor-Chlorid-Komplex in der neuronalen Membran (35, 36). Wahrscheinlich ist dieser Komplex nicht nur Angriffspunkt für BZD einschließlich spezifi- scher Invers-Agonisten und Ant- agonisten, sondern auch für ande- re zentralwirksame Pharmaka wie z. B. das Analeptikum Pikrotoxin (mit stark krampfauslösender Po- tenz) oder Barbiturate. Für letzte- re Substanzen diskutiert man in niedrigen Konzentrationen eine Verstärkung der Ligandenbin- dung an den GABA-Rezeptor wie bei den BZD, was die tranquilisie- rende Wirkung niedrigdosierter Barbiturate erklären könnte (33).

Die oben erwähnten, überzeugen- den BZ-Rezeptor-Bindungskapa- zitäten lassen mit einiger Sicher- heit darauf schließen, daß alle vier pharmakologischen Wirkkompo- nenten der BZD über einen direk- ten Angriff an den topographisch unterschiedlich dicht angeordne- ten Bindungsstellen vermittelt werden (33).

Eine chronische Systembelastung mit BZD führt zu neuroadaptati- ven Veränderungen des GABA/

BZ-Rezeptor-Chlorid-Komplexes und zur sekundären Reduktion des Neu rotransm ittertu rnove rs (vgl. 10). Bei Patienten mit lang- jähriger Low-dose-dependency fand sich eine im Vergleich zu Kontrollen signifikante Verminde- rung der Urinausscheidung des

(4)

Noradrenalinmetaboliten MHPG (4-Hydroxy-3-methoxy-phenylg ly- kol). Dieser sank während der Ab- stinenz zunächst noch weiter ab und hatte nach 3 Wochen Absti- nenz immer noch nicht das Ni- veau der Kontrollen erreicht (38).

Nach abrupter Karenz höherer BZ-Dosen muß man sowohl eine Erniedrigung GABA-erger inhibi- torischer Effekte, welche sonst ei- ne ordnende Funktion hinsicht- lich „Reizabschirmung" allge- mein und Krampfunterdrückung speziell haben, annehmen, als auch einen Rebound-Effekt mit nachfolgend gesteigerter Neuro- transmitter-Aktivität. In diesen funktionellen Veränderungen und Neu rotransm itterversch iebungen dürfte das pathophysiologische

Bedingungsgefüge der Krämpfe ebenso begründet liegen wie das der psychischen Veränderungen bzw. psychotischen Syndrome im Entzug (vgl. 10).

3.2. Klinik

Die in Entgiftungszentren und psychiatrischen Kliniken inzwi- schen zahlreich zu beobachten- den Krämpfe (vgl. 8) und Ent- zugspsychosen (Lit. 37) sind ei- nem psychopathologischen Über- gangsspektrum zuzuordnen. Ge- mäß Abhängigkeitsdauer, Spezifi- tät des BZD-Wirktyps und Dosis- höhe (nicht obligatorisch) mag nach klinischer Empirie und theo- retischen Erwägungen trotz eini- ger Ausnahmen, welche häufig durch eine Langzeitverordnung oder die gleichzeitige Bindung an zwei oder mehr BZD unterschied- lichen Wirkeffektes zu erklären sind, folgende pragmatische Ein- teilung vertretbar sein:

Je länger und höher ein hyp- nosedativ (-antikonvulsiv) wirksa- mes BZD eingenommen und ab- rupt entzogen wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit eines um den 7. bis 12. Abstinenztages auftretenden „trockenen" Delirs und/oder epileptischer Anfälle.

Für 1 bis 2 Tage kann es sogar zur Status-artigen Häufung epilepti-

scher Anfälle kommen (8). Oft fin- den sich zuvor in der „stummen"

Latenzphase Krampfspitzen und atypisch schnelle 4-6 spike-wave- Komplexe in ein 18 22/sec, beta- wellentypisiertes EEG eingela- gert. Auch wenn nicht bei allen derartigen EEG-Auffälligkeiten später Anfälle auftreten, sind die- se bioelektrischen Reboundmu- ster doch ein Beweis für eine Ent- zugssituation. Gelegentlich sind aber auch unter relativ niedrigen Dosen (bei allerdings mehrjähri- ger Einnahmedauer) in der ersten Entzugswoche weitgehend nor- male Alpha-EEG's zu beobachten.

Hier können auch ohne neurophy- siologische Vorboten später Delir und Krämpfe auftreten.

E)

Je angstlösender ein BZD ist, um so mehr beherrscht eine teil- weise diffuse psychotische Angst- symptomatik mit motorischer Un- ruhe, aufgelockerten Ich- und Wahrnehmungsgrenzen sowie mit paranoischer Eigenbeziehung das Entzugsbild. Nicht selten „konver- sionshysterisch" anmutende Ver- deutlichungstendenzen und ap- pellative bis imperative Suizidim- pulse sind Ausdruck der äußerst quälend empfundenen Entzugssi- tuation und sollten sehr ernstge- nommen werden.

Gelegentlich eskaliert diese Ent- zugssymptomatik in eine ängst- lich-agitierte Entzugsdepression endomorphen Gepräges. Man darf sich nicht damit zufrieden ge- ben, daß es sich hierbei immer nur um ein Wiederauftreten oder um eine psychotische Zuspitzung einer früheren, möglicherweise durch BZD unterdrückten Depres- sion handeln könnte. Fließende Übergänge aus einer Rebound in- somnia und einer unterschiedlich gewichteten, depressiv gefärbten Angstsymptomatik in „besonne- ne" Delirien und davon differen- tialdiagnostisch schwierig abzu- grenzende paranoid-halluzinatori- sche Psychosen sind möglich (4, 14). Selbstverständlich können hohe Anxiolytika-Dosen auch hyp- nosedativ-antikonvulsive Wirk-

spektren einbeziehen, so daß dann auch Delirien (vgl. 41) und Krämpfe auftreten können.

Außer diesen akuten und dramati- schen Entzugssyndromen ist bei manchen Patienten nachfolgend noch eine zweite, mehr subchro- nisch mitigierte Form von Ent- zugserscheinungen zu beobach- ten. Dieses „post-withdrawal-syn- drome" (8) manifestiert sich von der 2. bis 4. Woche (und evtl. noch länger) und ist durch Verstim- mung, Schlafstörungen mit Alp- träumen, Inappetenz, Antriebsein- buße und einen neurasthenischen Symptomenkomplex charakteri- siert. In dieser Zeit sind die Pa- tienten verständlicher Weise ex- trem rückfallgefährdet. Auf die pathogenetisch noch verflochte- ren Bedingungen bei Polytoxiko- manen (besonders mit Alkohol oder Hypnotika bzw. Analgetika) kann hier nicht eingegangen wer- den. Erwähnt sei der Wichtigkeit halber nur die Möglichkeit eines

„zweigipfligen" Delirs. Im Rah- men einer heute sehr häufig anzu- treffenden kombinierten Alkohol- BZD-Abhängigkeit tritt erwar- tungsgemäß zunächst um den 2.

bis 5. Tag das „frühe" Alkoholent- zugsdelir und dann in der 2. Wo- che das „späte" BZD-Entzugsdelir auf (vgl. 8, 41).

3.3. Therapeutische Aspekte Wichtigster Aspekt der akuten Entgiftungsphase überhaupt scheinen Kenntnis und Existenz einer derartig bunten Palette und unterschiedlich zeitversetzt auf- tretender Entzugssyndrome zu sein. Da es sich in den allermei- sten Fällen auch bei den pseudo- neurotisch anmutenden Entzugs- erscheinungen letztlich um neu- robiologisch verursachte „Kör- pererkrankungen" handelt, darf auch hier vor keiner befristeten, symptomatischen Pharmakothe- rapie zurückgeschreckt werden.

Sofern es sich um ein Delir, eine symptomatische produktive Psy- chose oder eine agitierte Depres- sion handelt, ist die akute Krisen- 284 (64) Heft 5 vom 3. Februar 1984 81. Jahrgang Ausgabe A

(5)

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Benzodiazepin-Abhängigkeit

intervention mit üblichen psycho- pharmakologischen Mitteln keine Streitfrage (z. B. Distraneurin®, HaldoI 9 , Aponal®).

Meinungsverschiedenheiten kön- nen hinsichtlich der angstneuro- tisch gefärbten Bilder aufkom- men, die aber in ihren Entste- hungsbedingungen häufig nicht erkannt und gerade im Rahmen psychotherapeutischer Interven- tionen noch regelmäßig fehlinter- pretiert werden.

Wegen der enormen Rückfallge- fahr hat sich in dieser prolongier- ten Entzugs- bzw. Entwöhnungs- phase bei uns die individuell an- gepaßte Gabe eines neurolepti- schen Cocktails bewährt (beste- hend aus AtosiI 9-, NeurociI 9- und bedarfsweise auch Truxa1 9-Trop- fen bis über 4 Wochen und in aus- schleichender Dosierung).

Einige Therapeuten beginnen schon in dieser Phase mit einem klassischen, angstdekonditionie- renden Verhaltenstraining. Aller- dings hängt der Erfolg vom Grad des aktuellen Angstpegels ab.

Wird eine klinisch kompensierte BZ-Abhängigkeit erkannt, sollte sie langsam und schrittweise

„herunterdosiert" werden. Dies kann je nach Dauer des Gewöh- nungsprozesses Wochen bis Mo- nate (!) dauern und vermag den- noch das Auftreten psychopatho- logisch larvierter Symptommuster und unspezifischer psychovegeta- tiver Störsyndrome nicht sicher zu verhindern. Auch hier muß in der Regel mit einem Cocktail nieder- potenter, vegetativ dämpfender Neuroleptika behandelt werden.

4. Präventive Aspekte

Die sicherlich zur Ausweitung des Mißbrauchproblems mitursäch- lichen, immer noch zu großzügi- gen ärztlichen Verschreibungs- usancen müssen sich in Zukunft drastisch ändern. Desgleichen müßte sich auch eine Änderung der teilweise noch zu wenig infor-

mativen Werbung erreichen las- sen. Da Arzt und Apotheker noch immer zu leicht hintergangen werden können, ist auch an eine noch striktere Reglementierung der Verschreibung zu denken.

Z. B. könnte eine Rezeptkontrolle mit dem Ziel der Einengung des zunehmenden Trends zu langfri- stigen Wiederholungsrezepturen Schaden vom einzelnen und von gefährdeten Populationen wir- kungsvoll abwenden. Wir kennen keine Zahl aus der Bundesrepu- blik Deutschland.

In Großbritannien sollen etwa 50 Prozent der Wiederholungsrezep- te ausgestellt werden, ohne daß der Arzt den Patienten zu Gesicht bekommt.

Wieweit sich der inzwischen vom Berufsverband der Pharmazeuti- schen Industrie ausgearbeitete Kodex über neue Maßstäbe für das Informations- und Werbever- halten der pharmazeutischen Un- ternehmer auswirken wird, bleibt abzuwarten.

Desgleichen wird erst die Zukunft zeigen, ob der seit dem 1. 1. 1982 vom Bundesgesundheitsamt ver- langte Warnhinweis zu Abhängig- keitsgefährdung den erhofften Ef- fekt haben wird. Jedenfalls geht die derzeitig meist noch ge- bräuchliche Aufklärung zum Miß- brauchspotential der BZD nicht mehr mit der praktischen Realität und dem wissenschaftlichen Er- kenntniszuwachs konform, wo- nach nur bei „entsprechend dis- ponierten" und „zu Mißbrauch neigenden" Patienten nach „län- gerer" und „hochdosierter" An- wendung eine „gewisse" Abhän- gigkeit „nicht völlig" auszuschlie- ßen sei.

Kritische Distanz gegenüber aller Werbung — auch wenn sie den An- spruch auf wissenschaftliche In- formation erhebt — und auf ständi- ge Fortbildung begründete, im- mer umfassendere sachliche In- formation dürften die beste Pro- phylaxe dafür abgeben, daß wir

die aus ungenügender Sach- kenntnis selbstverantworteten Psychopharmaka-Artefakte nicht eines Tages korrigieren müssen.

Um BZD gefahrlos anwenden zu können, müssen überdies ver- bindliche Verkehrs- und Spielre- geln im Umgang und in der An- wendung derartig spezifisch wir- kender Substanzen entwickelt werden.

Dieser Vorsatz appelliert an die allgemeine Grundhaltung des Arz- tes. Werden Empfehlungen dieser Art nicht gegeben, drohen eine zunehmende Abhängigkeitsent- wicklung sowie eine Indikations- ausweitung bis in den unkontrol- lierbaren Bereich einer entarteten

„Psychohygiene" (6) hinein, eine in der Medizin inzwischen uner- setzliche und segensreiche Grup- pe von Psychopharmaka in Miß- kredit zu bringen.

Literatur im Sonderdruck (über die Verfasser) Anschrift der Verfasser:

Professor Dr. med. Jobst Böning Professor Dr. med. Otto Schrappe t Psychiatrische Klinik

und Poliklinik

der Universitäts-Nervenklinik Füchsleinstraße 15

8700 Würzburg

Berichtigung

Frühe Gabe von

Atenolol bei Verdacht auf akuten Myokardinfarkt

Im Kurzbericht „Frühe Gabe von Atenolol bei Verdacht auf akuten Myokardinfarkt", DEUTSCHES ÄRZTEBLATT, Heft 32/1983, ist ein sinnentstellender Fehler enthal- ten. Ab der 22. Zeile muß es rich- tiggestellt heißen: „... im Ver- gleich zu 25 behandelten Patien- ten ...". Wir bitten diesen Fehler zu entschuldigen. MWR

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