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IVielands dramatische Versuche.

I. Eigentliche Dramen.

a) Lady Johanna Ärag,

oder

Der Triumph der Religion.

Lin Trauerspiel.

Ich schicke der Besprechung des Stückes eine kurze Analyse voraus:

Edward VI. ist soeben gestorben. Statt der rechtmäßigen Nach­

folgerin, seiner Schwester Maria, soll seine Base, Lady Johanna Gray, den Thron besteigen. Sie erkennt jedoch klar, daß ihr diese Würde nicht zukommt, und ist weder durch die Bitten ihrer Eltern, noch dmch die Ratschläge ihres Schwiegervaters, Northumberland, zur Annahme der Krone zu bewegen. Ihr Gemahl, Lord Guilford, erzählt, daß Maria durch ein Testament Edwards von der Thronfolge ausgeschlossen sei. Seinen Vorstellungen und Bitten kann sie nicht länger widerstehen und entschließt sich zur Annahme der Krone. In den nun ausbrechenden Parteikämpfen unterliegt sie ihrer Gegnerin. Ihr Vater, Lord Guilford und sie selbst werden als Gefangene in den Tower gebracht. Bischof Gardiner bietet allen die Freiheit, wenn Johanna zum Katholizismus übertteten will. Da sie sich weigert, ist sie dem Tode verfallen. Auch Lord Guil­

ford wird zur Hinrichtung geführt. Über das Schicksal Lord Suf­

folks, ihres Vaters, läßt uns der Dichter im Ungewissen.

Im Vorbericht von 1758 sagt Wieland: „Es ist ungefehr ein Jahr,

daß ich den Einfall hatte, den Charatter und die Hauptbegebenheiten

des Lebens der Johanna Gray in einer Tragödie auszuführen."

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Auch aus betn Borbericht von 1762 ist ersichtlich, daß das Stück im Sommer 1757 angefangen wurde, nachdem Wieland durch Burnets

„Geschichte der Kirchenverbesserung in England" mit seinem Stoffe genauer bekanntgeworden war. Der erste Aufzug wurde ganz rasch ent­

worfen; dann blieb das Stück unvollendet liegen bis zur Ankunft der Ackermannschen Truppe in Zürich (1758). Madame Ackermann hatte ihm in der „Alzire" so gut gefallen, daß keine andere als sie die Rolle seiner Johanna verkörpern sollte. Und nun war das Stück binnen fünf Wochen vollendet und gedruckt. Einen wetteren Anhaltspuntt für die Zeit der Entstehung bietet Wielands Schreiben an Zimmer- mann1): „Ich habe, während daß die Ackermannsche Truppe hier war und also ungefehr fünf Wochen an Johanna Gray gearbeitet, ob ich gleich das Theater immer frequentierte. Ich hatte daher keine Zeit zum Briefschreiben." Im nämlichen Briefe spricht Wieland von der bevorstehenden Erstaufführung in Wintetthur: „Künftigen Donnerstag, den 20. July, wird dieses Stück zu W. zum Erstenmale aufgeführt werden. Ich werde deswegen auch dahin gehen und mich etliche Tage bey meinem Freunde Herrn Stadtschreiber Sulzer aufhalten. Madame A., welche die Johanna machen wird, ist eine ungemeine Actrice. Wenn sie anders Zeit gehabt hat, ihre Rolle zu lernen, so wird sie Wunder thun."

Im theorettschen Teile sind wir uns darüber Dar geworden, was Wieland als die Aufgabe des Dramattkers ansieht; und wohl in keinem seiner dramatischen Versuche hat er seine Anschauungen so sehr verwirllicht, als gerade in Joh.Gray, die ganz aus der seraphi­

schen Sttmmung der Züricher und Berner Zeit heraus geschrieben ist.

Um den Zweck der Tragödie (so wie er ihm vorschwebte) zu erreichen, kam es ihm einzig auf den Charatter seiner Heldin an. „Die übrigen

‘) AuSgew. Br. 1,204. Der Brief ist datiert 14. Juli 1766. Das ist sicherlich ein Versehen. Diese Datierung läßt sich nicht mit der Angabe des Borberichtes 1768 vereinbaren und erst recht nicht mit der Angabe von 1762. Der Irrtum geht wohl auf Geßner zurück, der beim Abschreiben der Briefe auS den Originalen 1756 für 1758 gelesen oder geschrieben und so den Brief verkehrt eingereiht hat.

(Er gibt nämlich die Briese in chronologischer Reihenfolge.) — Auch Gruber erwähnt den Irrtum (60, 250).

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Personen sollten zu nichts dienen, als ihn zu erheben und in ein glänzenderes Licht zu setzen."1)

Von diesem Gesichtspunkte aus erscheint uns gerade alles das, was Stllgebauer in seinem Aufsatze * *) tadelt und was dem Stücke in der Tat den Charakter des Dramas fast gänzlich nimmt, durchaus begreiflich. Stilgebauer meint, es sei vor allem Pflicht des Dichters gewesen, uns auch mit der Gegenpartei, mit ihren Plänen und Ab­

sichten bekannt zu machen. Vom Standpunkte des Dramatikers — sicherlich. Aber in Wielands Plan paßte das ja nicht. Er will uns nur seine Heldin vorführen, durch deren Charakter „die Religion" trium- phieren soll; nur daran ist ihm gelegen. Wertvoll ist ihm nur, was diesen Zweck unterstützt; die „Pläne und Absichten der Gegenpartei"

dienen dazu nicht; also erscheint es ihm zwecklos, uns das alles vor­

zuführen, zwecklos um so mehr, als ja Johanna und ihre Partei nicht gegen ihre Feinde ernstlich ankämpfen, sondern tatenlos unter erbau­

lichen Reden dem Tode entgegensehen. Es handelt sich eben nicht einzig darum, zu sagen, was „Pflicht des Dichters" gewesen wäre, sondern es ist sicherlich ebenso wichtig, den Dichter aus seiner Eigenart heraus zu begreifen, zu sehen, was er schassen wollte, und warum er gerade s o schaffen wollte.

Ebenso hat Stilgebauer recht, wenn er sagt, für eine dramatisch veranlagte Natur hätte Northumberland Mittelpunkt, nicht Neben­

figur sein müssen. Für Wielands Absicht paßte das natürlich nicht.

Er lehnt dies im Vorbericht (1758) ausdrücklich ab; gibt aber ohne weiteres zu, daß ein Plan, in welchem die Triebfedern der Begeben­

heiten und der Charakter Northumberlands besser ausgeführt würden, seine „besonderen Vorzüge" haben würde und es einem anbetn Dichter ermögliche, ihn weit zu übertreffen. Wieland erkennt also das, was vom dramatischen Standpunkte aus wertvoller, besser ist, lehnt es aber ab, weil ihm dieser Weg für seine Zwecke weniger günstig erscheint. Und das ist das eigentlich Unkünstlerische an Wieland, auf das ich schon im ersten Teile hingewiesen habe: Das Zurücktreten des

l) «orbericht 1762.

*) Ztschr. f. vgl. Literaturgeschichte. N. F. 10, 300.

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als künstlerisch wertvoll Erkannten hinter irgendeine moralische Ab­

sicht, in diesem Falle: den Triumph der Religion. Daß also Joh.

Gray s o geworden ist, wie sie uns vorliegt, ist nicht so sehr in dem Mangel an künstlerischer Auffassung, an dramatischem Blick begründet, sondern ist eben aus seiner damaligen Weltanschauung begreiflich, die es ihm wertvoller erscheinen ließ, in einem minderwertigen Stücke

„die Religion" zu verherrlichen, als ein echtes Drama, ein Kunstwerk zu schaffen, das aber diesem Zwecke weniger diente, da es uns vor allem menschliche Leidenschaft vorführt.

Wieland hätte vielleicht beides vereinigen können, so daß er also in einem wirklichen Drama „die Religion" zum Siege geführt hätte — wenn es ihm eben nicht an der Anschauungs- und Ge­

staltungskraft, die zum Aufbau eines Dramas und zur Schilderung der Charaktere erforderlich ist, fast vollkommen gefehlt hätte. Stil- gebauer meint allerdings, die Religion als solche biete keinen Vor­

wurf für den dramatischen Dichter; denn Religion sei keine Leiden­

schaft. Nein, Religion ist keine Leidenschaft, Religion ist ein ab­

strakter Begriff; aber ein solcher, aus dem heraus sich eine Idee ent­

wickelt: die religiöse Idee. Und eine Idee bietet ganz gewiß einen Vorwurf zum Drama. Ganz außerordentlich fmchtbar als dramati­

scher Vorwurf ist gerade die religiöse Idee, da sie die innere sittliche Überzeugung des religiösen Menschen bestimmt und ihn also natur­

notwendig in Konflikte bringen muß, indem eben ihre Forderungen denen der menschlichen Leidenschaften entgegentreten und ihn so zu einer Stellungnahme zwingen, die dann für sein Schicksal bestim­

mend ist.

Also ein Drama konnte Wieland auch noch schaffen, wenn Joh. Gray Mittelpunkt seines Stückes war. Er konnte seine Heldin in diesen Konflikt bringen: menschliche Leidenschaft auf der einen, Forderung der religiösen Idee auf der andern Seite. Das hat Wieland getan, als es sich um die Annahme der Krone handelt, aller­

dings schwach, seinem dramatischen Können entsprechend. Er gibt uns einen ziemlich genauen Einblick in das Schwanken und Zagen in der zweifelnden Seele seiner Heldin.

Auf die Seelenverfassung Johannas vor Annahme der Krone

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möchte ich näher eingehen, um so mehr, da ich hier zugleich meine Auf­

fassung von der dramatischen Schuld der Heldin begründen möchte, im Gegensatze zu Stilgebauer, der ihr jede dramatische Schuld ab«

spricht').

Lord Guilford ist der erste, der Johanna mitteilt (I, 2), daß Edward Maria durch ein Testament von der Erbfolge ausgeschlossen habe; jedoch deutet er ihr noch nicht an, daß sie selbst an deren Stelle keten soll. Johanna spricht sich deutlich in dem Sinne aus, Edward könne das Andenken seines Vaters doch nicht entehren, indem er seinen letzten Willen umstoße; das Volk und der Rat der Edeln werden den Eid, den sie dem Sterbenden geleistet haben, nicht brechen. Erst Notthumberland teilt ihr mit (II, 2), daß sie selbst auf den englischen Thron steigen soll; er stellt es ihr als ihre Pflicht, als Himmelsfügung, als des Toten letzten Willen hin. Sie soll sein Werk (Schutz des Protestantismus) vollenden. Diesem gegenüber betont Johanna zunächst nicht so sehr, daß sie in dem Plane ein Un­

recht sieht, sondern sie schützt mehr äußere Hindernisse vor: voraus­

sichtliche Volksempörung, Eintteten der katholischen Partei für Maria, Österreich und Spanien werden ihre verletzten Rechte schützen.

Es bangt ihr vor dieser Welt voll Feinde. Aber als Northumberland ihr die Annahme der Krone als unabweisbare Pflicht darstellen will im Hinblick auf die Erhaltung des Protestantismus, da sagt sie ihm ganz klar: der Himmel „haßt die falsche Weisheit,

die ungerechte, frevelhafte Taten durch einen guten Endzweck adeln will.

Der Thron gehört nicht mir, solange Heinrichs Töchter Und Edwards Schwestern leben."

l) Wenn im folgenden viel von „Schuld und Sühne" im Sinne des alten Dramas die Rede sein wird, so geschieht dies nicht etwa im Gegensatze zu neueren dramentheoretischen Anschauungen, wie sie uns etwa durch Lipps und Bolkelt vermittelt werden, die mit dem alten Schuld- und Sühnebegrisf mehr oder weniger ausgeräumt oder ihn doch anders gefaßt haben, sondern einmal darum, weil ich zu den Ausführungen Stilgebauers Stellung nehmen möchte, dann aber, weil zum Verständnis und zur Beurteilung Melandscher Dramen nicht der moderne, sondern nur der Standpunkt des 18. Jahrhunderts maßgebend sein kann.

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Im dritten Auftritt gelingt es Lady Suffolk, sie durch die Bor­

stellung, es sei Edwards letzter Wille, daß durch sie der Protestantis­

mus gerettet werde („deinEdward bestimmt' es dir"), in ihrem Ent­

schlüsse wankend zu machen. Es entspinnt sich nun der ttagische Kon- flitt. Es stehen fast lauter Wennsätze, in denen die beginnende Ver­

wirrung des Rechtsbewußtseins zutage tritt: „wenn Edward wirllich berechttgt war" usw., Fragesätze, die ihre Unentschlossenheit zeigen:

„was soll ich tun?", Ausrufe, in denen sie ihre Seelenqual zum Aus­

druck bringt: „ach, warum kann ich nicht?" Und im Monologe des vietten Auftrittes läßt uns der Dichter noch einmal in ihre Seele sehen.

Nachdem sie in quälendem Zweifel hin- und hergeschwantt hat, dringt am Ende llar und sieghaft die Sttmme ihres Gewissens, die ihr ihrer religiösen Auffassung zufolge Sttmme Gottes ist, durch:

„Soll ich nicht Der leisen Warnung folgen, die mein Geist Stets in sich hört, der Stimme des Gewissens, Die mir verbeut zu thun, was ich als Unrecht sühle?

Ja, ja, ich folge dir, du bist

Die Stimme Gottes! Kein Phantom der Sinnen, Kein blendendes Gewebe falscher Schlüsse

Soll dem geraden Pfad der Tugend mich entlocken."

Nach dieser llaren Äußerung ihres Rechtsbewußtseins, nach diesem energischen Ausdruck ihres festen Entschlusses sind wir höchlichst über­

rascht, daß sie schon wenige Minuten später gänzlich unterliegt, und zwar den Bitten Guilfords, ihres Gemahls. Und hier liegt nun ihre

„ttagische Schuld", das, was ihren Untergang nach sich zieht, der Zug ihres Charatters, der ihr zum Verhängnis wird. Es ist die Schwäche des Weibes dem geliebten Manne gegenüber. Und hier ist Johanna zum ersten und einzigen Male Menschenttnd, das mit beiden Füßen auf der Erde steht, das ein rein menschliches Gefühl empfindet, einen rein menschlichen Fehler begeht: Widerstandslosig­

keit den Bitten eines geliebten Mannes gegenüber ttotz besserer Einsicht. Wieland mußte das tun; er mußte sie uns wenigstens einmal ohne Heiligenschein zeigen. Wie hätte sie sonst „ttagische Schuld" auf sich laden können?

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Die nochmalige Begründung Suffolks, ihre Thronbesteigung sei der einzige Weg zur Rettung Englands, sie «fülle dadurch nur Edwards letzten Willen, hatte ihr die Zusage nicht abnötigen können.

Gegen Guilsord, der sie nicht mit Gründen der Vernunft überzeugt, sondern ihr nur mit einiger Beredsamkeit die schöne Zukunst und das von ihr beglückte Volk schildert, hat sie keinen Widerstand. Sie kann ihn nicht knieen sehen und will ihn nicht bitten hören: „Steh auf, mein Guilsord, kniee nicht vor mir! Mein Herz ersinket unter der Gewalt der Bitten, die von deinem holden Munde so rührend schallen."

Diese verhängnisvolle Schwäche int Charakter Johannas, die ihr zum Schicksale wird, läßt sie um so schuldiger erscheinen, weil sie nicht der glänzenden Sophistik Northumberlands oder ihrer Eltern unterliegt, sondern den Bitten Guilsords, nicht aus irregeleitetem Rechtsgesühl, sondern aus Schwäche gegen den Geliebten, ihrer besseren Einsicht entgegen.

Stilgebauer meint, Johanna könne schon deswegen keine tragische Schuld aus sich laden, weil sie gar nicht Trägerin der Handlung, sondern lediglich passive Person sei. Ich kann dies nicht — wenig­

stens nicht in diesem Umfange — zugestehen. Johanna gibt die Entscheidung, von der alles Folgende abhängt. Sie veranlaßt also die ganze Weiterentwicklung durch die Annahme der Krone.

Wenn sie aber nach so vielen Seelenkämpfen einen derartig folgen­

schweren Entschluß faßt, so ist das doch kein rein passives Verhalten.

Allerdings ist dies auch das einzige Mal, wo wir Johanna handeln sehen; ihr weiteres Verhalten ist, abgesehen von einer noch zu besprechenden Ausnahme, ein rein passives.

Noch folgende Stelle bei StUgebauer muß ich erwähnen: „Nicht Johanna alsVertreterin ihrer Überzeugung*) trium­

phiert, fonbem die Religion, dieser abstrakte Begriff soll den Triumph davontragen, an dem die Heldin schuldlos zugrunde geht.

Denn nicht aus eigener Initiative, nicht von dem tiefen Berufe einer Jungftau von Orleans durchdrungen, übernimmt Johanna mit leidenschaftlichem Herzen die Krone Englands, nicht mit dem stolzen Bewußtsein, alles daranzusetzen, um dem Volke den Segen

J) Dies

wie das Folgende ist von mir gesperrt.

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des Protestantismus zu erhalten, nein, resigniert, ihr Schicksal voraus­

ahnend, aber nicht von diesem Schicksal dämonisch bezwungen, läßt sie sich von Northumberland überreden und fällt, so ein Opfer von dessen Diplomatie, nicht ein Opfer ihrer Überzeugung."

Wieso soll Johanna als Vertreterin ihrer Über­

zeugung triumphieren? Sie vertritt ihre Überzeugung eben nicht, sondern wird ihr untreu; sie sühnt diese Schuld mit chrem Untergange und bringt so die Idee der Religion zum Siege.

Ob die Heldin „schuldlos zugmnde geht", darüber habe ich meine Auffassung schon dargelegt.

Es ist gar nicht einzusehen, inwiefern alles das, was nach dem

„Denn" steht, die Schuldlosigkeit der Heldin begründen oder auch nur ihre Schuld verringern soll. Im Gegenteil erscheint uns Johanna durch dieses alles um so schuldiger.

Daß Johanna sich nicht von Northumberland bereden läßt, ist schon erwähnt; übrigens geht das ja aus dem Gange des Stückes hervor. Dieselbe Ungenauigkeit begeht Stilgebauer bei der Inhalts­

angabe des Stückes, wo er ebenfalls angibt, Johanna lasse sich durch Northumberland bereden l). Johanna fällt also weniger als ein

„Opfer von dessen Diplomatie", sondern vielmehr als ein Opfer ihrer eigenen Schwäche.

Wenn Stllgebauer meint, daß Johanna jeder tragischen Schuld entbehrt, so muß er auch Schillers Jungfrau von Orleans jede tragische Schuld absprechen. Denn beide handeln gegen ihr Ge­

wissen und sühnen diese Handlungsweise mit dem Tode. Der Unter- schied ist nur der, daß es sich bei Johanna um ein allgemein gültiges Sittengesetz handelt, bei dem Mädchen von Orleans aber um ein besonderes, eigens für es gegebenes Gesetz: „Nicht Männerliebe darf dein Herz berühren mit sünd'gen Flammen eitler Erdenlust." Johanna aber sieht Lionel und liebt ihn; sie schont den Feind ihres Landes und wird so schuldig (III, 10).

Sie sühnt diese Schuld durch ihr verändettes Benehmen, das

*) Die „Bibi. d. Sch. Mssensch. u. stehen Künste" gibt die Inhaltsangabe richtig: „Johanna kannGuilford nicht länger knien sehen und ergibt sich" (4. Sb., 2. Stück).

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sie, getreu ihrer Pflicht, bei der zweiten Begegnung mit Lionel an den Tag legt (V, 9): „Du bist der Feind mir, der verhaßte, meines Volkes. Nichts kann gemein sein zwischen dir und mir! Nicht lieben kann ich dich."

Daß Johanna Gray von ihrer Schuld überzeugt ist und ihren Tod als Sühne auffaßt, geht aus den Worten hervor, die sie (IV, 3) zu Gardiner spricht:

„Ich spreche mich Von meiner Schuld nicht frey; ich

fordere keine Gnade.

Britaniens Gesetz verdammet mich.

Hier bin ich! Willig seine Heiligkeit Mit meinem Blute zu versöhnen!"

Und wenn sie dann fortfährt:

„Mir ist genug, daß über uns im Himmel

Ein Richter ist, der mich nach meinem Herzen richtet", so hofft sie eben auf die Barmherzigkeit dieses Richters.

Johanna leistet Sühne durch ihren Tod. Denn als sie noch einmal vor die Möglichkeit gestellt wird, gegen ihre religiöse Auffassung zu handeln (durch den Übertritt zum Katholizismus), bleibt sie dieser Auffassung tteu, obschon diese Treue ihr den Tod bringt. So siegt die Religion als alles besttmmende Idee in der Seele der Heldin.

Als Johanna von Gardiner vor die Entscheidung gestellt wird, schwank sie keinen Augenblick. Ihre Wahl ist sofort gettoffen. Selbst Guilford gegenüber ist sie unbeirrbar in ihrem Vorsatze, zu sterben; nur der Schmerz der Mutter läßt sie auf einen Augenblick schwach werden.

Aber im übrigen sehen wir nichts von Kampf, keinen einzigen echt menschlichen Zug, kein Festhalten des jungen Menschenkindes an der sonnigen Freude des Lebens, kein schmerzliches Klagen um das jäh zerstötte Liebesglück, kein Grauen, keine Furcht vor dem Tode.

Diese unnatürliche Verachtung des Lebens, dieses freudige Er­

fassen des Todes aus rein religiösen Gründen ohne Kampf, wird von Sttlgebauer schon deswegen verurteilt, weil ein solcher Tod nicht als Sühne, nicht als Vernichtung erscheint. Das ist sicher richtig. Aber Wieland lag nicht besonders viel daran, uns den Tod seiner Heldin

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als sühnende Vernichtung empfinden zu lassen. Die Art, wie er seine Heldin dem Tode entgegensehen läßt, ohne Kampf, so ganz übermenschlich, muß wieder aus seiner besonderen Absicht heraus begriffen werden. Er will die Religion, die als Idee den religiösen Menschen beherrscht, einen Sieg feiern lassen, und das glaubt er am vollkommensten dadurch zu erreichen, wenn er diese Idee in seiner Heldin so sehr zur sieghaften Macht werden läßt, daß sie ein vollkommen überirdisches Wesen aus ihr macht, das alle Werte nun nicht mehr mit menschlichem Maße mißt, sondern alles, was Menschen herrlich und begehrenswert erscheint, als verächtlichen Tand ansieht und sich mit allen Kräften nach dem Tode sehnt, der ihm einzig wahre Werte, echte Güter erschließen kann x).

Mer nicht allein wird, wie Stilgebauer sagt, „der Begriff der Sühne vernichtet", sondern Wieland entfremdet uns auch seine Heldin durch die Art, wie er sie uns vor dem Tode sehen läßt. Diese Johanna erscheint uns nicht mehr als menschliches Wesen, wir ver­

stehen sie nicht mehr und bleiben darum völlig teilnahmslos. Wieland ist also in dieser Darstellung seiner Heldin vor dem Tode wahrhaft unkünstlerisch. Daß ihn die Erreichung seines Endzweckes dazu ver­

leitet hat, wurde schon hervorgehoben. Aber es ist die Frage, ob er diesen Endzweck nicht weit besser erreicht hätte, wenn er uns als echter Dramatiker seine Heldin im Kampfe gezeigt hätte. Wenn Johanna sich an ihr junges Leben, an ihre junge Liebe angevammert hätte mit aller Kraft, so wäre sie uns dadurch menschlich weit begreif­

licher geworden, und wenn ihr dann ihr religiöses Bewußtsein die ungeheure Kraft verliehen hätte, sich von allem Irdischen ergeben zu trennen und den Tod ernst, aber ohne Furcht zu erwarten, so hätte uns das die sieghafte Macht der Religion sicherlich weit besser, weit überzeugender und vor allem viel wahrer veranschaulicht. Die moralistische Absicht Wielands wäre also in diesem Falle mit dem künstlerischen Interesse zusammengefallen. Da Wieland trotzdem diesen Weg nicht gegangen ist, so hat er hier offenbar nicht mit dem Auge des Dramatikers zu sehen vermocht.

*) Wieland selbst charakterisiert die Empfindungen seiner Heldin ausführlich an einer Stelle in den „Sympathien", Akad. Ausg. I, 2.

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In welchem Verhältnis Meland zu seinem Vorbllde Nicolas Rowe steht, wurde schon im ersten Teil erwähnt; nun aber habe ich näher darauf einzugehen.

Wenn Lessing im 64. Literaturbriefe sagt, Wieland habe einen prächtigen Tempel eingerissen, um davon eine kleine Hütte zu bauen, so ist das scharf und treffend und kennzeichnet die Art, wie Wieland das Stück des englischen Dichters behandelt hat, außerordentlich klar.

In der Tat hat Wieland das Rowesche Drama vollkommen zerstört.

Er ließ ohne irgendwelche dramatische Rücksicht alles weg, was nicht in seine Absicht paßte. Und so kommt es, daß das, was Wieland geschaffen hat, kaum noch ein Drama genannt werden kann. Von einem eigentlichen dramatischen Aufbau kann nicht die Rede sein.

Es ist vor allem die Auslassung der Pembroke-Episode, die das Wielandsche Stück gegenüber Rowe so minderwertig macht. Die Handlungsarmut und Eintönigkeit bei Wieland ist gerade darauf vielfach zurückzuführen. Pembroke ist Guilfords Freund, aber auch zugleich sein Nebenbuhler, und daraus ergibt sich ein Konflikt, der sich durch das ganze Rowesche Stück spannend fortzieht. Nach einer herzlichen Aussprache, bei der sie sich gegenseitige Offenheit zusichern, kommt es im zweiten Aufzuge doch zum Bruch zwischen denFreunden.

Pembroke kommt nämlich hinzu, als sich Guilford und Johanna, die ihm unterdessen offen ihre Liebe gezeigt hat, über ihre gemein­

same Zukunft unterhalten. Pembroke macht dem Freunde bittere Vorwürfe und trennt sich erzürnt von ihm. Im dritten Aufzuge gelingt es Gardiner, ihn auf seine Seite zu ziehen. Die beiden wollen zu­

sammen gegen Northumberland stehen. Als Gardiner int vierten Auf- zug von der neuen Königin in engere Hast genommen wird, bewahrt Guilford seinen Freund vor Gefangennahme und Tod. Es erfolgt die Aussöhnung der beiden. Und nachdem sich das Glück auf die Seite Marias gewendet hat, erwirkt Pembroke fiir seine gefangenen Freunde bei der Königin Begnadigung. So hat es Rowe verstanden, durch die Pembroke-Episode Leben und spannende Handlung in das Stück hineinzubringen.

Ebenso ist die Zeichnung der Charaktere bei Rowe der Wieland- schen weit überlegen. Der Charakter Northumberlands ist vor

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allein viel flötet und entschiedene! gezeichnet. Schon im etsten Aufzuge läßt uns Rowe einen tiefen Blick in die Seele des ehrsüchtigen Höf­

lings tun, bet den Nebenbuhlet seines Sohnes (Pembtoke) mit listige!

Schmeichelei für sich gewinnt. Ebenso bezeichnend ist die Att, wie Notthumbetland die Betmählung Johannas mit seinem Sohne hetbeizufühten weiß. Bei Wieland ist Johanna schon Guil- fotds Gemahlin bot Beginn des Stückes; so ist es wiedet um ein iMetessantes Motiv tonet.

Auch die Petson Gatdinets tritt bei Rowe weit lebendiger und greifbarer hervor. Die zwischen den Freunden eingetretene Ent­

fremdung benutzt er klug und geschickt, um Pembroke für seine Partei zu gewinnen. Im fünften Akte sehen wir Gardiner bemüht, die von Pembroke für seinen Freund und Johanna erwirkte Begnadigung rück­

gängig zu machen. Auf sein Drängen hin stellt die Königin noch nachträglich als Bedingung: Übertritt der Gefangenen zum Katholi­

zismus.

Wenn also Lessing tadelt, daß Wieland „die rührende Episode des Pembroke herausgerissen habe", so geschieht das vom dramati- schen Standpunkte aus mit vollem Recht. Aber vom Wielandschen Standpunkte aus erschien diese Episode eben als überflüssig; wozu sollte er Gullford einen Nebenbuhler geben? Überdies stimmt das Ausschalten von Episoden zu seiner theoretischen Anschauung. Wie­

land meinte eben dadurch die „Simplizität des Euripides" am besten nachzuahmen. Die Bibl. d. Schönen Wissensch. (4. 33b., 2. St.) bemerkt darüber folgendes: „Man muß seltsame Begriffe von der Simplizität des Euripides haben, wenn man sich getraut, den Plan der Joh. Gray für euripidisch einfach zu halten. — Uns dünkt, Herr W.

habe die h i st o r i s ch e Simplizität mit der tragischen ver­

wechselt." Und nun definiert der Verfasser *): „Eine Begebenheit ist h i st o r i s ch einfach, wenn sie mit keinen Episoden beschwert ist und von ihrem ersten Ursprung an durch eine einfache Folge von Ursache und Wirkung bis zum Ende ausgeführt werden kann. Will aber der Dichter eine solche Begebenheit ohne Episoden für die Schau-

') Der Artikel ist mit S. unterzeichnet: der Verfasser ist Mendelssohn.

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bühne zurichten, so muß er den historischen Ursprung weglassen und seine Geschichte da anfangen, wo sich das Hauptinteresse des Stückes hervorzuthun beginnt. Die Einfalt der Tragödie erfordert nicht nur eine einzige Geschichte, sondern vornehmlich ein einzi­

ges Hauptinteresse. Dieses vorausgesetzt, muß ein jeder gestehen, daß der Tod Edwards und die Krönung Johannas, womit der Dichter zween ganze Auszüge anfüllet, nicht eigentlich zur tragi­

schen Simplizität gehören." —

Mendelssohn geht hier doch wohl zu weit. Der Tod Edwards und die Krönung der Johanna können in keiner Weise die mit Recht verlangte Konzentration auf das dramatische Hauptinteresse stören.

Übrigens würde dieser Borwurf in erster Linie Rowe treffen. Auch bei ihm liegt der Tod des Königs und die Krönung der Johanna im Stücke selbst. Sogar deren Vermählung mit Guilford fällt bei dem Engländer in den Verlaus des Stückes, während diese bei Wie­

land vollzogen ist. Wenn es aber dann weiter heißt: „Der Dichter hätte da anfangen sollen, wo Johanna von dem Ausgange der Schlacht ihr Schicksal erwartet. Hier nimmt die große Handlung ihren Anfang.

Alles Vorhergehende, welches eigentlich nur darin besteht, daß Johanna den Thron bestiegen, hätte in einem einzigen Auftritt erzählt werden können", so ist das nur aus einer vollkommenen Ber- ständnislosigkeit der Absicht des Dichters zu erllären.

Mit Recht wird jedoch die Leere des fünften Aufzuges getadelt.

Lessing spricht sich in demselben Sinne aus und findet die Handlung im letzten Aufzuge „ungemein schläftig".

Aber wenn Mendelssohn in dem erwähnten Artikel der Bibl.

sagt: „Mes, was indem fünften Aufzuge vorgehet, ist dieses: Lady Jo­

hanna dellamiert noch eine Weile, und dann fällt der Vorhang zu, ohne daß wir einmal unterrichtet werden, wie es der Heldin des Trauerspieles doch endlich ergangen sey", — so ist das doch nur zum Teile richtig. Wir wissen ja, in welchem Sinne sich Johannas Schicksal entschieden hat. Außerdem fällt doch auch die Hinrichtung Guilfords in den fünften Aufzug. Von dem Schicksale Lord Suffolks hören wir allerdings nichts mehr. Mendelssohn bemerkt mit Recht: „Johanna scheint ihren Vater ganz vergessen zu haben, und sie weiß ebensowenig

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als der Zuschauer, wo der Dichter diese wichtige Person gelassen hat."

Gelobt werden von Mendelssohn und von Lessing nur „Styl, Vor­

trag und Silbenmaß"1).

Ganz sarblos und matt ist in dem Wielandschen Stücke die Cha­

rakterzeichnung. Sie hat nicht eine einzige von jenen Eigenschaften, die Wieland theoretisch fordert. Das sind eigentlich keine Menschen, die er uns zeigt; alle sind vollkommen gut und edel, ohne jede mensch- liche Leidenschaft und Schwäche. Nur der von fanatischem Eifer ver- blendete Gardiner erscheint uns etwas anders, und dann auch Northumberland. Frellich wissen wir ja von diesem kaum etwas.

Wir kennen ihn nur aus seinem kurzen Monologe und aus dem Be- richte Gardiners im vierten Aufzuge. Auch Mendelssohn tadelt die Ein­

förmigkeit der Charaktere; und in der Tat ist nicht ein einziger Cha­

rakter scharf individuell gezeichnet. So kann wohl Lessings Spott kaum ungerechtfertigt erscheinen, wenn er sagt: „Der Borrede zu­

folge (Zweck der Tragödie ist, das Heroische der Tugend darzustellen) sind die meisten Charaktere moralisch gut; was bekümmert sich ein Dichter wie Herr Wieland dämm, ob sie poetisch böse sind? Die Lady Suffoll ist eine liebe ftomme Mutter, der Herzog von Suffolk ist ein lieber frommer Vater, der Lord Guilford ein lieber frommer Gemahl, die Sidney ist eine liebe fromme — ich weiß selbst nicht, was."

Die Charakterzeichnung des Guilford nennt Lessing inkonsequent.

Aus Eigennutz, so meint er, will er Johanna zur Annahme der Krone bewegen; wie paßt das zu seinem sonstigen Charakter? — Es würde gar nicht passen, wenn es so wäre. Wir haben aber im ganzen Stücke keinen Anhaltspunkt, der uns berechtigte, Guilford eigennützige Motive unterzuschieben. Der Hauptgesichtspunkt bei ihm ist die Rettung des Protestantismus.

Den „unverzeihlichsten" Fehler aber sieht Mendelssohn darin,

„daß uns der Dichter am Ende des vietten Aufzuges ganz ohne Not ent­

deckt, daß Notthumberland ein schändlicher Verräter ist, der aus Herrschsucht seine eigenen Kinder ins Unglück stürzt." Er begründet seine Auffassung folgendermaßen: 1. „Wir intereßietten uns Anfangs

') «gl. Grub« 26, 179.

Marx, Wieland.

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für die leidende Tugend der Johanna; aber itzt erfahren wir, daß sie sich über die Ihrigen mehr zu beklagen hat, als über ihre Feinde.

Sie ist also mehr eine betrogene, als eine verfolgte Unschuld."

Ich weiß nicht, warum eine „betrogene Unschuld" weniger bedauernswürdig sein soll als eine „verfolgte Unschuld". Merk­

würdigerweise ist Lessing ebenfalls der Ansicht, daß durch diese Mit- teilung über den Charakter Northumberlands der Anteil der Zu­

schauer an dem Schicksale der Heldin „unendlich" geschwächt werde, und schließt sich Mendelssohn gerade in dessen sonderbarer Be­

gründung ausdrücklich an.

2. „Der Charakter Gardiners wird dadurch weniger häßlich, und Maria verdient weit weniger unfern Haß, da wir ihre Sache ja nun als eine gerechte ansehen."

Es ist nicht zu ersehen, inwiefern diese Mitteilung über Nor­

thumberlands Charakter uns die Person Gardiners in anderem Lichte erscheinen ließe. — Maria hat bis jetzt unseren Haß überhaupt nicht verdient. Der Thron ist ihr gutes Recht, und daß sie sich ihrer Feinde wehrt, ist selbstverständlich. Ihre Sache mußte uns sowieso als eine gerechte erscheinen, da sie berechtigte Erbin ist; wenn wir aber nicht so denken würden, so sehe ich nicht ein, wie wir durch das, was wir über Northumberland erfahren, nun plötzlich zu dieser Ansicht gelangen sollen.

3. „Da der Dichter, wie er in der Borrede erinnert, nur die mo­

ralische Größe seiner Heldin in ein helles Licht setzen wollte, so hätte notwendig der Charakter Northumberlands, welcher in diesem Stück ohnedem nur eine Nebenrolle spielt, unbestimmt bleiben müssen."

Ich meine, daß Wieland den Charakter Northumberlands reichlich

„unbestimmt" genug gelassen hat. Weniger konnte er doch nicht von ihm sagen. Auf keinen Fall ist er aus dem Rahmen seiner Nebenrolle herausgetreten.

Kaum ernst zu nehmen ist es, wenn Mendelssohn in der Szene V, 4, wo Johanna in Ohnmacht fällt, „die rührendste Stelle im ganzen Stücke" sieht, „die einzige interessante Begebenheit, die den Namen einer wahren tragischen Handlung verdient".

Wie stellt sich nun Wieland in seinem Stücke zur Geschichte?

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Die geschichtlichen Vorgänge sind diese: Edward VI. starb am 6. Juli 1553. Am 11. Juli wurde Johanna gekrönt; sie regierte neun Tage und lebte dann im Tower als Gefangene bis zum 12. Februar 1554, dem Tage ihrer Hinrichtung. An diesen historischen Tatsachen ändert Meland nichts. Er schiebt nur die Ereignisse dieser sieben Monate auf einen kürzeren Zeitraum zusammen, indem er die Dauer der Regierung Johannas und namentlich die Zeit ihrer Gefangen­

schaft abkürzt. Dies beanstandet Lessing nicht, denn „der Dichter ist Herr über die Geschichte; er kann die Begebenheiten so nahe zu­

sammenrücken, als er will". Lessing meint im Gegenteil, Wieland sei der Geschichte noch z u treu gewesen, indem er historische Züge benutzt habe, die er im Interesse seines Stückes besser ausgeschaltet hätte, so vor allem den Umstand, daß hauptsächlich Guüford durch sein Drängen die Annahme der Krone veranlaßt. Zu der Art, wie Lessing seine Meinung begründet, habe ich schon Stellung genommen.

Ebenso hätte nach Lessings Ansicht Northumberland abweichend von der Geschichte charcckterisiert werden müssen, um nicht die Teilnahme der Zuschauer am Schicksale Johannas bedeutend zu schwächen. Ich habe schon erwähnt, daß auch ihm im Anschluß an die „Bibl." eine betrogene Unschuld minder bedauernswürdig erscheint als eine ver­

folgte Unschuld.

Lessing sagt weiter: „Die Person des Pembroke hat Wieland aus seinem Stücke ganz und gar auszuschließen für gut befunden, als eine Person, ohne Zweifel, die in der Geschichte eine ganz andere Rolle spielet." Er meint also, Wieland habe die Pembroke-Episode von Rowe deshalb nicht übernommen, weil Pembroke, so wie Rowe ihn darstellt, nicht historisch ist. Das ist wohl nicht der Gmnd. Meland hätte das ja ändern können, wenn ihm an historischer Treue unbedingt lag. Aber er wollte eben überhaupt keine Episoden im Drama, und die Pembroke-Episode konnte ihm in diesem Stücke zur Erreichung seiner Absicht nicht dienen; also fiel sie weg.

Die Geschichte berichtet uns, daß Johanna gelehrt war. DiesenZug übernimmt Wieland getreulich; „aber", so sagt Lessing, „er hat diesen Zug nicht zu Gunsten seines Stückes ausgenutzt. Wohl läßt er Johanna sagen: „Nimmer werden uns bei Platos göttlichen Gesprächen die

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holden Stunden zu Minuten werden", und der Leser macht sich in allem Ernste Hoffnung, sie eine Stelle aus demPhädon exponieren zu hören, aber seine Hoffnung schlägt fehl, und endlich denk er, das eitle Mädchen habe mit seiner Gelehrsamkeit nur prunken wollen." Hier ist Lessing doch wohl ungerecht; er tadelt, weil er dmchaus tadeln will.

Außer den Rezensionen Lessings und Mendelssohns ist mir ein Kritiker der Joh. Gray nicht bekannt. Jedoch deutet Wieland * *) noch auf einen Angriff in Form einer Parodie hin. Er spricht von dem Verfasser einer Joh. Gray, die vor mehr als zehn Jahren in Zürich er­

schienen sei, und „durchaus eine Realkritik und nicht selten Parodie der ersten sein sollte. Man weiß, daß die Parodien, die aus diesen Gegenden kommen, nicht immer glücklich sind". Das bezieht sich auf Bodmer. Nachdem Wielands Stück 1758 erschienen und zu Winterthur im selben Jahre aufgeführt worden war, erschien 1761 in Zürich Bodmers Prosastück „Joh. Gray" als erstes der „drey neuen Trauerspiele". Meißner kommt in seiner Dissertation *) zu der Auf­

fassung, daß Bodmer im Grunde die ernsthafte Absicht hatte, „den heiligen Charakter der Tugend herrschen zu lassen", und daß nur an wenig Stellen der parodistische Charcckter deutlich hervortritt. In der Handlung weicht er einigermaßen vom Wielandschen Stücke ab.

Selbst Gruber, der begeisterte Biograph Wielands, meint: „Daß selbst bei weit mehr historischer Treue eine ungleich größere poetische Wirkung hätte erreicht werden können, leidet keinen Zweifel"').

Er weist hin auf die „treffliche Schilderung von Johannas Leben, Charakter und Schicksal" in „Niemeyers Beobachtungen auf Reisen in und außer Teutschland". Halle 1820. I, 223—235.

b) Llemenlinr von Porrüa.

Lin Trauerspiel.

Clementine, die Tochter des katholischen Markgrafen von Poretta, ist aus unglücklicher Leidenschaft für Grandison, mit dem sie sich,

*) Vorbericht zu Joh. Gray 1770.

•) Erich Meißnet, Bodmer als Parodist. Disf. Leipzig. Raumburg a. <5., 1904.

3) Gruber 26, 181.

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da er Protestant ist, nicht vermählen kann, geistesgestört. Die Eltern machen seinen Übertritt zum Katholizismus zur Bedingung, was Grandison entschieden ablehnt. Er ist weder dmch die flehentlichen Bitten Jeronymos (Clementinens Bruder), noch des markgräflichen Paares und Clementinens zu diesem Entschluß zu bewegen. Es kommt zu einigen heftigen Austritten mit seinem Nebenbuhler, dem Grafen Belvedere und dem General (dem Bruder des Markgrafen), der durchaus gegen diese Verbindung ist. Aus Sorge um ihre Tochter sind die Eltern schließlich geneigt nachzugeben. Und nun, wo der Verbindung der Liebenden nichts mehr im Wege steht, erklätt Giemen­

tine, sie müsse ihrer Liebe aus Gewissensgründen entsagen und sei entschlossen, ins Kloster einzutteten. Das Stück schließt mit ihrem pathettschen Abschiede.

In einem Briefe an Bodmer, dattert: Bern, den 30. Jan. und 2. gebt. 1760 * *), schreibt Wieland: „Ich selbst habe, um nicht ganz müßig zu seyn, eine Clementtne verferttgt, welche, sobald sie aus der Presse ist, sich Ihnen presentteren wird." In der Borrede zur Giern. (1760) sagt et: „Die Pamela des berühmten Goldoni hat den ersten Anlaß zu dem Versuche gegeben, die Geschichte der Clementina auf die Schaubühne zu bringen. Wenn selbiger den Beyfall des Publici erhalten sollte, so wird dieses den Verfasser aufmuntern, mit Clarissa das gleiche zu versuchen." Außerdem gehötte ja Richard- son zu seinen Lieblingsschriftstellern; er hat also bort direkt seinen Stoff vorgefunden. Ettlinger meint'), ausschlaggebend sei bei seiner Wahl wohl die offenbare Analogie mit der Geschichte von Sophie Gutermanns Jugendliebe gewesen. Diese Annahme hat viel Wahrscheinlichkeit für sich. Seine Jugendgeliebte Sophie la Roche war vor ihrer beiderseittgen Bekanntschaft mit dem Katholiken Bianconi verlobt. Bei Besprechung des Ehevertrages ergab sich eine hefttge Meinungsverschiedenheit zwischen Vater und Bräuttgam, da ersterer die Kinder lutherisch, letzterer katholisch getauft und erzogen wissen

*) Ausgew. Br. II, 116.

•) Ztschr. s. vgl. Literaturgeschichte. N. F. 4: Clementine von Partita and ihr B orbild. S. 436.

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wollte. Die Differenz war nicht zu schlichten, und die Verlobung mußte zu Sophiens tiefstem Schmerze aufgehoben werden1).

Ich möchte nun zunächst Wielands Verhältnis zu dem Richardson- schen Romane, der chm als Vorlage diente, üarlegen. Den Stoff zu feinem Drama hat er aus der großen Bologneser Episode ent­

nommen, die im dritten Bande des Richardsonschen Romanes steht2).

Und zwar setzt er mit Grandisons drittem Besuche in Bologna ein.

Alles, was vor diesem Besuche liegt, erfahren wir gelegentlich im ersten Aufzuge. Es wird zur Exposition. Ettlinger meint, Wieland habe deswegen alles dies vor den Beginn des Stückes verlegt, um die Orts- und Zeiteinheit nicht zu verletzen. Da jedoch die Er- eignisse im Wielandschen Stücke sich tatsächlich in einem Zeit»

raum von zwei Tagen abspielen, und der Schauplatz ein wechseln­

der Raum im Palaste der Poretta ist, so ist diese Vermutung nicht gerade sehr wahrscheinlich. Dazu sagt Wieland in der Vorrede (1760) ausdrücklich folgendes: „Um die schönsten und rührendsten Stellungen der Geschichte in einer Reyhe lebender Gemählde dar- zustellen, war es unvermeidlich sich in Absicht der Zeit und des Orts eine Abweichung von denjenigen Regeln der Kunst zu erlauben, welche ohne Nachteil dessen, was die wahre Einheit eines Stückes ausmacht, überschritten werden können." Das Hingt doch, als ob Wieland in seinem Stücke Orts- und Zeiteinheit nicht beachtet hätte und sich deswegen entschuldigte.

Maßgebend für diese Beschränkung des Stoffes mag vielmehr sein Bestreben gewesen sein, die Handlung stets möglichst einfach zu halten, womöglich sogar frei von Episoden. Das mag ihn also auch mitbestimmt haben, alles, was ihm entbehrlich schien, vor den Beginn des Stückes zu verlegen. Von zwei Abänderungen, die er innerhalb des Stückes vorgenommen hat, spricht er selbst in eben dieser Vorrede. Die Person der Miß Byron hat er ausgeschaltet, so daß also die ganze Liebe Grandisons Clementine gehört. Ferner

M Erich Schmidt, Richardson, Rousseau und Goethe, S. 47, und Gruber 60, 32.

*) The works ol Samuel Richardson by Leslie Stephen.

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hat er den Schluß im Vergleich zum Romane abgeändert. Bei Richardson ist Clementinens Schicksal unentschieden; wir können mit vermuten, daß sie doch noch später Belvederes Gattin wird. Wieland bestimmt ihr Schicksal, indem er sie ins Kloster eintteten läßt. Bon der oft wörtlichen Herübernahme Richardsons habe ich schon im ersten Telle der Arbeit gesprochen.

Wenn wir mit der Lektüre des Stückes zu Ende sind, oder wohl auch schon vorher, fragen wir uns unwillkürlich, ist das nun ein Drama? Denn es fehlt dem Stücke geradezu alles, was zum Drama gehött. Machen wir uns Hai, was überhaupt geschieht : Clementtna ist aus unglücklicher Liebe zu Grandison wahnsinnig geworden; aber sie i st es bei Beginn des Stückes, sie wird es nicht etwa in feiner psychologischer Schilderung vor unseren Augen. Jeronymo ist krank bei Beginn des Stückes; über Ursache und Art seiner Krankheit erfahren wir nichts Genaues. Grandifon kommt an; somit geschieht doch wenigstens irgend etwas. Einige Zweikämpfe werden beinahe ausgefochten, und zwar im Park, wohin Wieland alle Personen befördert, die er im Augenblicke nicht auf der Bühne ge­

brauchen kann. Im übrigen wird geredet, ausschließlich geredet.

Das Thema ist immer das gleiche: die Frage der Vermählung Clemen­

tinens mit Grandison. Am Ende erllätt die Heldin ihre Absicht, ins Kloster eintteten zu wollen, und ihr pathetischer Abschied bildet den Schluß des Stückes.

Ettlinger nennt mit Recht die Exposition und den ganzen dra-

mattschen Ausbau überhaupt dürsttg. Wir sehen nichts von einer

beginnenden Verwicklung, die sich allmählich zum Höhepunkt steigert

und sich dann langsam zu entwirren beginnt bis herab zur Kata-

sttophe. Diese auf- und niedersteigende Linie des dramatischen Baues

fehlt hier vollständig. Das Wielandsche Stück bewegt sich vielmehr

über eine kahle, öde Hochebene, die in ihrer flachen Gleichförmigkeit

etwas unsäglich Ermüdendes hat. Es herrscht von Anfang bis zu

Ende immer die gleiche süßliche, sentimentale Rührseligkeit, dieselbe

schwärmerisch überspannte Empfindsamkeit. Wenn also Sttlgebauer

in seinem Aufsatze von den „sentimentalen Empfindungen und dem

passiven Gebühren der Hauptfiguren" spricht, so ist das nur im vollsten

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Umfange zu bestätigen. Was in der Joh. Gray noch erträglich war, wird hier zum Unerträglichen gesteigert. So I, 4, wo der Bischof in den überschwänglichsten Worten Grandison willkommen heißt; ebenso die Unterredung zwischen dem Markgrafen und Grandi­

son bis zum Eintritte der Markgräfin in II, 4. Das Unglaublichste an Sentimentalität und Gefühlsschwärmerei leistet Wieland indem achten Auftritt des II. Aufzuges, wo das Wiedersehen 'zwischen Clementtne und Grandison vor sich geht. Die Mmik, die Wieland in dieser Szene sehr ausführlich vorschreibt, müßte, von einer Schauspielerin genau so ausgefühtt, entweder unerttäglich oder lächerlich wirken; aber bei der bloßen Lektüre löst die Szene schon ein starkes Unbehagen aus.

Auch Szene II, 10 (Marescottt und Jeronymo) ist reichlich senti­

mental, und III, 12 (Clementine und Grandison) übertrifft sie noch bei weitem. So geht das fort mit überschwenglichem, unnützem Hin- und Hergerede, bis endlich (IV, 5) der General ankommt, und mit ihm weht in diese süßlich schwüle, lastende Atmosphäre ein frischer, natürlicher Hauch hinein. Was er sagt, das hat Gehalt und festen Bestand; er ist vor allen Dingen ein Mann, der weiß, was er will, der seinen klaren Willen in energische Motte faßt und kraftvoll auf sein Ziel zuschreitet. Scharf und schneidig tritt er Grandison ent­

gegen: „Dieser Übermut ist nicht auszustehen" — „Glauben Sie, mich mit dieser angemaßten Erhabenheit täuschen zu können?"

Oder er ist von verletzender Ironie: „Wir sind Ihnen sehr verbunden,

und Sie haben Ursache stolz darauf zu seyn, daß Sie sich in einer

Familie, wie die des Markgrafen von Poretta ist, haben so wichttg

machen können." Sogar ungerecht und hatt ist er: „Sie reden, wie

man es von einem Manne erwatten kann, der von dem Triumph

aufgeschwollen ist, den er über Leute erhalten hat, die in der That

nicht gebohren waren, unter den Ritter Grandison herabgedemüthiget

zu werden." Ganz eigenartig ist vor allem seine Stellungnahme zu

Clementtne: „Meine Schwester? — Ich will keine Schwester, die

den Namen beschimpft, den sie ttägt." Er nennt sie ein „liebes-

krankes schwindlichtes Mädchen"; bisher hörten wir nur in Ausdrücken

wie „die göttliche Clementtne", „das göttliche Geschöpf", „das liebe

Kind", „der Engel" von ihr reden. Sein: „Verfluchter Unsinn"

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wirkt geradezu erlösend und erfrischend nach all dem Schmachten und Schwärmen.

Was nun die Charakteristik der Hauptpersonen anbetrifft, so ist sie mit einem Worte lläglich. Kläglich sind die Menschen, die Wieland uns zeigt (mit wenig Ausnahmen), und lläglich ist die Art, wie er sie uns sehen läßt. Anstatt daß er seine Menschen handeln läßt, so daß wir ohne weiteres Einblick in ihre Persönlichkeit gewinnen, läßt er sie nur immer reden, oder aber andere von ihnen reden. Wir müssen dann eben so gutmütig sein, diesen Leuten aufs Wort zu glauben.

Es ist Wieland nicht gelungen, uns seine Heldin auch nur einen Augenblick sympathisch zu machen. Sie kann als überzeugte, treue Katholiün nicht wohl die Gattin eines Protestanten fein; so hat sie unter schweren Kämpfen und seelischen Leiden verzichtet. Daß sie gekämpft und gelitten hat, müssen wir glauben; denn wir haben sie nicht kämpfen und leiden sehen. Wieland hätte sie uns unbedingt zeigen müssen, wie sie gegen die in ihr aufkeimende Liebe zu Grandison ankämpft. Er aber stellt sie uns schon im Zustande ihrer Geistes- gestöttheit vor Augen; wir sehen nicht, wie das alles geworden ist.

Mendelssohn siehtl) darin den größten Fehler des Stückes; denn, so meint er, wir können uns unmöglich für die Heldin in ihrem Wahn­

sinn interessieren, wenn wir sie nicht zunächst in ihrem normalen Zu­

stande haben kennen lernen. Diese Auffassung ist sicher richtig. Auch Ettlinger ttägt kein Bedenken, sich zu der gleichen Ansicht zu be­

kennen. Ebenso mag durch das starke zeitliche Zusammendrängen der Ereignisse, welches Wieland veranlaßt, den psychiatrischen Prozeß der Gesundung Clementinens in ganz kurzer Zeit vor sich gehen zu lassen, ihm manche Feinheit in der Charatterzeichnung verloren gegangen sein, die Richardson aufzuweisen hat. Daß Wieland sich dieses Mangels bewußt war, geht aus dem Borbericht (1760) hervor.

M 123., 124. Literaturbr. Er selbst hatte sich mit dem Gedanken getragen, diesen Stasi zu dramattsieren, sah jedoch darin allzu graste Schwierigketten. MS solche bezeichnet er den durchaus tugendhaften Charakter GrandisonS, den Wahnsinn Clementinens, die Gestatt de- Jeronymo und die Notwendigkeit eines starken Zusammendrängens der Ereignisse. (Vgl. Gruher 26, 184.)

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wo er sagt: „Der Charakter der Clementine, welcher vielleicht das Meisterstück des Herrn Richardson ist, hat sür die Schaubühne den Reiz einer völligen Neuheit, aber zugleich für den Achter so besondere Schwierigkeiten, daß es unbillig wäre, von dem ersten, der sich an denselbigen gewaget, etwas vollkommenes zu sodern. Man überläßt es den Kunstrichtern als eine Arbeit, die ihrer nicht unwürdig ist, diese Schwierigkeiten zu entwickeln und zugleich die Vortheile zu bemerken, die der Verfasser der Geschichte Clementinens vor demjenigen gehabt, der sie in die engen Grenzen eines dramatischen Stückes zusammen­

ziehen mußte."

Die Motive, die Clementine zum Eintritt ins Kloster bewegen, sind nicht ganz llar; sie haben, wie ihr ganzer Charakter, viel Schwan­

kendes. In V, 10 sagt sie: „Die Welt hat keine Reizungen mehr für mich. Dasjenige, was ich durch meine Krankheit erlitten, und was mir der gewaltthätige Kampf mit mir selbst gekostet hat, be- kräftiget die Ahnung, die ich in mir fühle, daß ich nicht mehr lange zu leben habe. Soll ich nicht den Überrest meines Lebens anwenden, glücklich zu sterben?" Sie ist also nicht gerade sehr großmütig in ihrer Hingabe; sie rechnet vielmehr mit dem lieben Gott wie ein lluger Kaufmann. Ihre sonnige, ftohe Jugendzeit hat sie ihrer Idee nicht geopfert; erst jetzt, nachdem sie sich von ihrer unglücklichen Liebe zer­

brochen fühlt und doch keinen frohen Genuß mehr vom Leben er­

wartet, will sie diesen traurigen, kurzen Rest hergeben, um sich damit ihre ewige Seligkeit zu sichern. Als Grandison ihr ihre Pflichten gegen die Eltem vorhält, erklärt sie ihren Eintritt ins Kloster plötzlich als heilige Pflicht, als unwiderstehlichen Trieb von Gott, dem sich alles andere unterordnen müsse. Aus V, 12 geht hervor, daß sie sich bereits durch ein Gelübde gebunden hat. V, 11 sind wir höchlichst überrascht, zu hören, daß Clementine schon lange Beruf zum Kloster­

leben in sich fühlt: „Sie wissen, Gnädige Mama, daß von der Kindheit an mein Verlangen gewesen ist, mich dem einsamen Stande zu widmen." Und noch eigentümlicher berührt es uns, wenn sie dann fortfährt: „Sie wissen, wie sehr dieser Trieb zugenommen hat, seitdem ich den Chevalier kannte." Schade, daß w i r nichts davon wissen.

Wieland hat uns vorher nie irgendeine Andeutung über den Kloster-

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75

beruf seiner Heldin gemacht. Die Aufnahme dieses Motives hätte den tragischen Konflikt, den Wieland aus dem Umstande, daß Grandi- son Protestant ist, herauskonstruiert, wesentlich verändert. Wenn nämlich die katholische Überzeugung seiner Heldin derartig ernst und tief ist, daß sie es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren kann, sich einem Protestanten zu vermählen, dann empfindet sie es aus der­

selben Überzeugung heraus als Unrecht, wenn sie sich ihrem aner­

kannten Klosterberufe entzieht, indem sie sich überhaupt einem Manne vermählt, mag dieser nun Protestant oder Katholik sein. Nach katholi- scher Auffassung ist Klosterberus Stimme Gottes, der der Gerufene Folge zu leisten hat. Hier lag also der Konflikt, der z u n ä ch st in erster Linie gegeben war. Und da Wieland uns seine Heldin als streng katholisch schildert, so durfte er dieses Motiv nicht einfach liegen lassen; er mußte es konsequenterweise benutzen. Der Konflikt konnte dann ja noch verstärkt werden durch den Umstand, daß Grandison Protestant war, weil so Clementine erst recht nicht seine Gattin werden konnte.

Ebensowenig katholisch ist sie in ihrer Auffassung von ihrem künftigen Klosterleben, wenn sie sagt: „In der Sülle einer einsamen Celle werde ich ungetadelt und ungestört meiner Zärtlichkeit und meiner Thränen genießen. Nur unsichtbare Engel werden sie sehen, und die Seufzer zu dem Throne des Ewigen tragen, in denen sich meine Seele für Sie (Grandison) aushauchen wird." Es entspricht gewiß nicht dem Idealbild einer katholischen Nonne, wenn sie sich auf ihre einsame Zelle freut, um in zärtlichen Tränen und Seufzern ihrer unglücklichen Liebe nachzutrauern. Und nun soll der liebe Gott noch gar seine Engel schicken, um diese Liebesseufzer zu ihm hinauf in seinen Himmel zu bringen. Wieland läßt hier seine Heldin un- glaublich naiv sein. Aber das durfte er ja, warum auch nicht? Er läßt sie aber hier auch ganz unkatholisch sein, und das durste er nicht, weil er seine Charaktere konsequent zu zeichnen hatte.

Über Grandison ist vor allem zu sagen, daß er zum dramatischen Charakter so ungeeignet wie nur möglich war. Was soll der dra­

matische Dichter mit einem Menschen, der so vollkommen ist, daß er keinen Fehler begehen kann? Er kann uns damit langweilen, freilich,

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und das tut ja auch Wieland mit seinem Grandison reichlich. Wir sehen diesen nicht ein einziges Mal handeln; er kommt an, erklärt seine Ansicht, redet sehr viel und schwärmerisch über ein einziges Thema und ist beständig gerührt. Durch Handlungen lernen wir ihn also überhaupt nicht kennen. Zum Ersätze dafür läßt Wieland die anderen Personen über ihn reden: I, 1 sagt Marescotti: „Ich bin von seinen Verdiensten überwältigt, — ich muß ihn bewundern, wie alle Welt ihn bewundert." I, 6 sagt Camilla: „Wer darf sich wun- betn, wenn der Chevalier Grandison großmüthig handelt? Wenn er alles thut, was schön und groß ist, so handelt er nur sich selbst gleich."

II, 1 sagt Jeronymo: „Me sollte es möglich seyn, diesen Mann nicht zu lieben? Wann ist jemals an jeder Tugend, jeder grossen und liebenswürdigen Eigenschaft seinesgleichen gewesen?" Die Szene II, 8 gibt dann noch eine nicht allzu bescheidene Selbstcharakteristik:

„Ich handle gerecht und großmüthig gegen andere, und kann dennoch weder ihren Vorwürfen noch ihren Beleidigungen entgehn; ich be­

zähme meine Leidenschaften und muß durch fremde Leidenschaften geplagt werden; ich bemühe mich, andere glücklich zu machen, und bin selbst nicht glücklich!"

Was er eigentlich zu Jeronymos Rettung getan hat, und über- Haupt dieser ganze Vorfall bleibt uns ziemlich dunkel. III, 6 erzählt die Markgräfin, Grandison habe ihren Sohn aus den Händen der Meuchelmörder errettet. III, 9 sagt der Markgraf zu Grandison:

„Sie sind in gedoppeltem Verstände der Erretter meines Sohns gewesen. Sie erretteten sein Leben und seine Sitten." Wir möchten wissen, inwiefern. Wieland hat eben einfach einen Ausschnitt aus der Bologneser Episode des Romans gemacht; er beginnt mit dem dritten Besuche Grandisons in Bologna. Das mochte er aus Gründen dramattscher Technik (Zeit- und Ortseinheit) tun; aber dann mußte er doch die vorherliegenden Ereignisse in diesen Ausschnitt hinein­

arbeiten.

Über denCharatter des Generals — das einzige frische, natürliche Element im ganzen Stücke — habe ich schon gesprochen. Alle anderen Charaktere können zusammengefaßt werden. Sie sind alle gleich schwärmerisch und empfindsam. Nur der Graf Belvedere ist eine

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lebhafte, leidenschaftliche Natur; er führt eine kräftige, zielbewußte Sprache in der Unterredung mit Marescotti (I, 1) und mit Grandi- son (I, 7).

Wenn also Ettlinger feine Ausführungen über Clementine von Poretta mit der Behauptung schließt, es habe Wieland doch wohl alles und jedes zum Dramatiker so ziemlich gefehlt, so ist sein Urteil nicht zu hart und wahlberechtigt. Und wenn Gruber, sein begeisterter Biograph, dieses Stück dem als Lektüre empfiehlt, der erkennen will,

„wie wenig Heil vollkommen tugendhafte Personen dem tragischen Dichter bringen", und wenn er das Stück „einen Triumph der Un­

natur und Wielands größte poetische Verirrung" nennt, so ist das auffallend im Vergleich zu dem Lobe, das er ihm noch für Joh.

Gray gespendet hatte. Daß Clementine sich „von Herrn Lessing u. Comp, keine geneigte Aufnahme zu versprechen hatte", weiß Wie­

land im voraus. „Aber sie hat ihre Partey schon zum voraus ge­

nommen; sie erwartet und wünscht nichts von diesen Kunstrichtern, und tröstet sich wegen der Verfolgung, die ihr vielleicht von ihnen bevorsteht, in Demuth mit dem Beyfall des Publici, mit den Thränen der Leserinnen, und mit der Nachsicht der Kenner, die allezeit einiges, wirkliches Verdienst voraussetzt. Wenn wir vermöge unserer Grundsätze, nicht nur die Mittel, wodurch wir gewissen Leuten gefallen könnten, nicht gebrauchen wollen, sondern sogar alles anwenden, um ihnen nicht zu gefallen, warum sollten wir uns dann beleidiget halten, wenn wir unsern Zweck erreichen?" *) Also ganz Wieland: Zweck der Tragödie ist zu rühren. Zur Erreichung dieses Zweckes arbeitet er bewußt mit un­

künstlerischen Mitteln, wenn sie ihm brauchbar erscheinen.

Stilgebauer spricht in seinem Auffatze von der Möglichkeit, daß Lessings Miß Sara Sampson auf den Prosastll Wielands in der Clementine eingewirkt habe. Möglich ist das gewiß; aber mit Be- stimmtheit läßt es sich doch nicht entscheiden. Stilgebauer glaubt an einigen Stellen „den geistreichen, scharf pointierten Dialog"

Lessings herauszuhören. Auch ich habe bei der Lektüre des Stückes

») AuSgew. Br. II, 122.

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diesen Eindruck manchmal gehabt; aber weniger bei der einzigen Stelle, die Stilgebauer zum Beweise anführt, nämlich II, 5, wo der Markgraf sagt: „Ich liebe ihn auch, aber ich liebe meine Tochter noch mehr, ich habe nur eine Clementine, ich Unglücklicher, ich habe sie gehabt, sollte ich sagen." Diese Worte stellt er dann der Szene II, 4 aus Sara Sampson vergleichsweise gegenüber, wo Ara­

bella sagt: „Sie haben ja oft gesagt, daß Sie uns lieben, verläßt man denn die, die man so liebt? So muß ich Sie wohl nicht lieben, denn ich wünschte Sie nie zu verlassen." Bei Wieland ist es, wenn auch verwandte Dialektik, doch nicht dieses „Spielen mit dem logischen Wortsinn" (das ist Stilgebauers Ausdruck) wie bei Lessing. Aber einen Anllang an den geistreichen Dialog Lessings könnte man viel- leicht in folgenden Stellen sehen: I, 2 (der Bischof): „Um Ihrer eigenen Ruhe willen liebster Belvedere, bitte ich Sie, sich hinweg zu begeben. Mr erwarten alle Augenblicke einen Gast, dessen Anblick Ihnen nicht so angenehm sein kan, als er uns sein m u ß." Oder noch eher in V, 11 aus den Worten Clementinens. — (Markgräfin):

„Aber wirst du auch Stärke genug haben, meine Liebe, bey dem Borsatze zu bleiben, den du so großmüthig genohmen hast?" (Clem.):

„Ich empfinde meine Schwäche; und ich hoffe, dieses werde meine Sicherheit seyn."

Was wollte nun Wieland eigentlich in seiner Clementine zur Anschauung bringen? Welche Idee lag seinem Drama zugrunde?

Stilgebauer meint, wenn Wieland der Clementine einen Nebentitel gegeben hätte wie der Joh. Gray, so hätte er sie den Triumph der Konfession nennen müssen; „denn (so begründet er seine Meinung) bort ist ihm Religion so viel wie Protestantismus, hier ist er so weit gekommen, daß er Protestantismus und Katholizismus als gleich- berechttgte Erscheinungsformen nebeneinander bestehen läßt. So ist er in diesem Stücke toleranter als in jenem. Es tritt keine Person auf, die mit fanattschem Glaubenseifer andere für ihren Glauben zu gewinnen sucht, nur leise wird der Versuch gemacht, jedes beharrt bei seinem Glauben, und das scheidet die Liebenden voneinander."

Ich habe meine Auffassung bezüglich der Joh. Gray schon dahin begründet, daß für Meland bort „Religion" nicht Protestantismus

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war, sondern innere sittliche Überzeugung, die sich in Form des Ge­

wissens äußert. Mt welchem Rechte hätte er sonst diesen Nebentttel überhaupt hinzusetzen können? Der Protestantismus unterliegt ja der Macht der katholischen Maria; nur die sittliche Idee gelangt in Johanna zum Siege.

Über Clementine von Poretta ist meine Auffassung diese:

Wieland stellt allerdings die beiden Konfessionen einander gegen­

über, aber nicht etwa, um ihre Gleichberechttgung nachzuweisen, sondern um uns ihre gegenseitige Intoleranz darzustellen. Er will uns zeigen, wie an diesem konfessionellen Gegensatze das Liebesglück zweier Menschen zerschellt und der Friede einer ganzen Familie empfindlich gestört wird. Er will also durch sein Stück diese unheil­

volle Intoleranz verurteilen. Dabei legt er in seiner Darstellung die schärfste Intoleranz der katholischen Pattei zur Last. Grandison, der Protestant, wird viel toleranter dargestellt. Schon die Bedin­

gungen, unter denen er sich mit Clementine vermählen will, sind viel weniger schroff. Er will nur seinen eigenen Glauben nicht preis- geben; ist aber weit entfernt, denjenigen seiner zukünfttgen Gemahlin anzutasten. In III, 10 sagt er: „Sie soll, wenn sie die meinige ist, ebenso frey und ungestört in der Ausübung ihrer Religion seyn, als sie in dem väterlichen Hause gewesen ist. Die gleiche Gesinnung, welche mir verbeut, wider meine Überzeugung zu handeln, verbeut mir, andere in der ihttgen zu beunruhigen." Grandison achtet also die Auffassung anderer, wenn sie auch nicht mit der feinigen über­

einstimmt. In II, 4 sagt er ausdrücklich: „Verwünscht sei dieser bettogene Eifer, der so viele unglücklich macht." Uber den Glauben anderer spttcht er jedoch nicht ein einziges abfälliges Wort. Anders auf katholischer Seite. So „leise", wie Sttlgebauer sagt, sind die Versuche gar nicht, die angestellt werden, um Grandison herüber- zuziehen. Er wird von allen Seiten unablässig bestürmt, bald von dem Mattgrafen, bald von dessen Gemahlin; nicht weniger ungestüm drängen ihn Jeronymo und Clementine, ebenso der Bischof und Marescotti; sogar Camilla, die Kammerfrau, macht Bekehrungs­

versuche. An unduldsamen Äußerungen fehlt es nicht. Belvedere äußert sich I, 1: „Wenigstens soll sie nicht diesem englischen Pro-

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testanten gehören." Freilich klingt der Groll des Nebenbuhlers in diesen Worten mit. III, 13 spricht der Bischof von „tief ringe- wurzelten Irrtümern" in der Seele Grandisons. Er hält also seinen eigenen Glauben für den allein wahren. III, 12 sagt Clementine:

„Verschmähen Sie die Wahrheit nicht, — stoßen Sie den Himmel nicht von sich." Sie ermahnt ihn, doch seine Seele zu retten; sie hält ihn also für ewig verloren, weil er nicht Katholik ist. Und Pater Marescotti nennt ihn (I, 1) „einen Kezer, einen hartnäckigen Kezer, einen Feind der Kirche, einen Verworfenen, mit dem die strenge Heiligkeü der Religion eine so enge Verbindung öetbonmtt".

Wie aus den Briefen an Zimmermann hervorgeht, hatte Wieland schon 1759 jene fanatische Befangenheit seiner Jugendzeit teilweise abgelegt; vollständig verliert er sie dann durch den Verkehr auf Wart»

hausen. Meine Auffassung über Clementtne von Poretta wäre also mit dem damaligen Standpunkte Wielandscher Psychologie sehr wohl vereinbar.

2. Singspiele, a) Alrrste.

Admet, König von Thessalien, ist auf den Tod erkrantt. Als seine Gattin, Alceste, dmch das Orakel vernimmt, sein Leben könne gerettet werden, wenn ein anderer Mensch bereit sei, an seiner Stelle zu sterben, weiht sie sich in selbstlosem Edelmut den Göttern zum Opfer. Admet fühlt sich alsbald genesen. Seine Gattin dagegen wird unbarmherzig vom Tode dahingerafft. Als Admet hött, wem er sein Leben banst, ist er von ihrer heroischen Liebe aufs tiefste gerührt. Er kann sich über ihren Verlust nicht trösten. Herkules, der Sohn Jupiters, der sein Freund ist, steigt in die Unterwelt hinab und bringt dem entzückten Admet die Gattin wieder.

SBöttiger1) berichtet uns über die äußere Veranlassung zu diesem Singspiele folgende Äußerung Wielands: „Meine Frau war gefähr­

lich krank gewesen und war gleichsam aus der Unterwelt zurückge-

l) Völliger, Literar. Zustände u. Zeit gen. I, 227.

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kommen. Da verfiel ich plötzlich auf die Alceste, die mir mein Euri- pides so angenehm macht."

Daß Wieland auch durch sein Verhältnis zum Hofe äußerlich auf das Gebiet des Singspiels gedrängt wmde, habe ich schon im ersten Teil erwähnt. An Gebier schreibt et1): „Längstens in acht Tagen hoffe ich, Ihnen mein Singspiel Alceste übersenden zu können."

Der Brief ist datiert: Weimar, 10. Jänner 1773. Über die erfolg, reiche Erstaufführung auf dem Weimarer Hostheater berichtet er wieder an Gebier in einem Briefe vom 7. Juni 1773 *): „Alceste wurde den 29. May zum ersten Mal hier aufgeführt und that, was noch keine Tragödie, die ich je gesehen habe. Alle Augen strömten über; die Unempfindlichsten wurden gerührt, und die Gefühlvollen fanden sich in einigen Scenen von Empfindung erdrückt." Mso so recht ein Erfolg nach Wielands Herzen. Freilich schreibt er einen guten Tell des Erfolges der Musik seines Freundes Schweitzer und vor allem der ausgezeichneten „Execution" zu. Ebenso erfahren wir dmch Wieland von dem guten Erfolg, den die Alceste bei der Aufführung am 13. August 1773 auf dem Kurfürstlichen Theater zu Schwetzingen hatte').

Wieland versichert uns in seinem Artikel „Über einige ättere teutsche Singspiele, welche den Nahmen Alceste führen"4), daß er seine Alceste in dem guten Glauben schrieb, er sei der Erste, welcher das Stück des Euripides als Singspiel behandle: „Ich hatte meine Alceste bereits vollendet und empfing die Glückwünsche dazu mit der Treuherzigkeit eines Unwissenden, der sich gar nicht einfallen ließ, daß er hinter drey Vorgängern, welche ihm vielleicht schon das Beste weggenommen hatten, herschlendere." Erst dmch Gottscheds

„Sammlung teutscher Schauspiele" lernte er sie kennen; so berichtet er uns. Er zählt dann in demselben Arttkel diese „drey Vorgänger"

auf und bettachtet ihre Stücke krittsch. Es sind: 1. „Alceste, in einer Opera, mit Kurfürstl. Sächsischer gnädigster Berwilligung auf dem

*) Denkn,. Br. II, 14.

*) Denkn». Br. II, 20; vgl. auch Gruber 26, 188.

’) Merk. III (1775), S. 268.

«) Merk. IV (1773), S. 34.

Marx, Wieland.

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neuerbauten Schauplatze zu Leipzig in der Ostermesse des 1693.

Jahres vorzustellen. Übersetzung aus dem gleichnamigen Werke des Aurelio Aureli." Wieland nennt dieses Werk „einen echt italienischen Ohren- und Augenschmaus". 2. „Eine Bearbeitung der Alceste nach dem Französischen des Quinaull. 1680 zu Hamburg aufgeführt."

3. „Alceste von Joh. Ulrich König. 1719 auf dem Theater zu Braun­

schweig aufgeführt." (König arbeitet ebenfalls in Anlehnung an Quinault.)

Wenn nun Ellinger sagt'): „Wir besitzen zwei Übersetzungen von Quinault. Wieland kannte beide und hat sie im Deutschen Merkur 1773 analysiert", so könnte das auch so aufgefaßt werden, als ob Wieland die beiden Übersetzungen gekannt hätte, bevor er seine Alceste schrieb. Maßgebend ist für uns natürlich Wielands ausdrückliche gegentellige Versicherung. Und wenn er am 17. Sep­

tember 1773 an Meusel schreibt* *): „Die Mceste des Quinault habe ich wirklich auf meinem Schreibtische liegen; ich brauche sie noch, und stehe Ihnen und Ihrer akademischen Bibliothek für die Zurückgabe mit allem was ich bin und habe," so hat er das Buch eben bei der Abfassung des erwähnten kritischen Merkurartikels benutzt, nicht aber als Vorlage zu seinem Stücke, da dieses ja schon im Mai vollendet war.

Seine Stellungnahme zu Euripides hat Wieland selbst in den schon zitierten „Briefen an einen Freund über das teutsche Sing­

spiel Alceste"*) gekennzeichnet und die Abänderungen, die er vor­

genommen hat, begründet. Schon ein rein äußerer Grund zwang ihn, die Zahl der auftretenden Personen zu vereinfachen. Er selbst berichtet uns, daß das Personal des „singenden Theaters" nur aus vier Personen bestand, und daß er sich also danach richten mußte.

So fällt Apollo, dessen Gespräch mit dem Tode bei Euripides die Einleitung bildet, bei ihm weg. Da dieser Dialog stark komische Elemente enthält, so paßte er ja auch nicht in seine Alceste. Bei Euripides war er aber ganz am rechten Platze; dieser brauchte in seinem Stücke komische Elemente; denn seine Alceste mußte die

l) Mceste in der mob. Sit. Halle 1885, S. 12.

*) Ausgew. Br. II, 166.

') Merk. I (1773).

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