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Zur Siloahinschrift.
Von X. Fischer.
Über napsü, das sich bekanntlich dreimal auf der Siloah¬
inschrift findet (natürlich aucb über einige andere cruces dieser
Inschrift, so namentlich den ganzen Passus "iSn mt') riTi 13
.... T^"!») kann ich die Akten noch nicht als geschlossen betrachten.
Bekanntlich siebt man allgemein in diesem Worte ein sonst nicht
zu belegendes Substantiv nap; mit vorgesetztem Artikel. Und wie
stellt man sich zur Bedeutung dieses Substantivs?
Lidzbarski, im .Wortschatz' seines .Handbuchs der nordsemi¬
tischen Epigraphik', S. 325, giebt als Bedeutung von nap: kurzweg
Tunnel. Er übersieht dabei, dass diese Bedeutung für die Ver¬
bindung nap:n O^m Z. 3—4 (und am l'age des TunnelsW) schlecht¬
hin unzulässig ist. Sie scheint mir aber auch fraglich in dem Satze
nap:n ian n-'n nti Z. 1 (und folgendermaassen verhielt es sich
mit dem Tunnel 0. ä), denn die folgenden Angaben schildern, wie
1) Dass Blake dureh Seiuen Aufsatz „The Word nTT in the Siloam In¬
scription" („Oriental Studies . . . of the Johns Hopkins University", reprinted from the Joum. of the Amer. Orient. Soc, vol. XXII, First Half, 1901, p. 49 ff.) das Verständnis dieses Passus gefördert hätte, vermag ich nicht zu behaupten.
Er leitet mT, das ihm zufolge „evidently" die Bedeutung fissure hat, von der Wurzel znd ab, für die er im Syrischen und Arabischen die Orundbedeutung to be narrow annehmen zu dUrfen glaubt. „From such a root tbe derivation of a noun meaning fissure is perfectly natural" (p. 53). Ich habe au dieser Deutung, die Lidzbarski, Ephemeris, Bd. I, S. 310 für „nicht unmöglich" erklärt, folgendes auszusetzen. Dass niT Spalt bedeute, ist nicht „evident", sondera
nur möglicb. Die fUr Jsj: ^1 angenommeue Grundbedeutung eng sein ist
y •
ziemlich problematisch. Noch viel problematischer ist der BedeutungsUbergang von eng sein zu Spalt. (Wenn man etymologisiert, wie Blake es z. T. thut, kann man auch beweisen , dass „schwarz" ,, weiss", „krumm" „gerade" bedeutet.
Vgl. z. B. p. 53: „The two bones of the forearm, the radius . . . and the ulna . ., are called ^.^tOo^, possibly because they are close together, fit into each other"! Derartige Etymologien halte ich für blosse Spielereien.) Bedenk¬
lich ist schliesslich vor allem, dass die Wurzel and im Hebräiscben sonst gänz¬
lich fehlt.
5 5 «
bekannt, nicht sowohl den Tunnel oder die Anlage des Tunnels
selbst , als vielmehr gewisse , in Folge der Schwierigkeit , die das
rätselhafte mx darbietet, für uns noch ziemlich undurchsichtige,
Vorgänge , die sich abspielten , als die von beiden Seiten ber sich
einander entgegenarbeitenden Mineure aufeinanderstiessen und so
der letzte Durchbruch des Felsens erfolgen konnte. Vorsichtiger
schreibt Kautzsch , Zeitschrift des Deutschen Palästina -Vereins,
Bd. IV, 267: „inapD auf Zeile 4 . . . fordert . . . deutlich die Be¬
deutung: „Durchstich* in aktivem Sinn, während es Zeile 1 zuerst
im passiven Sinn (Durchstich = Tunnel), dann aber (in 'zn ian)
gleichfalls in aktivem Sinne gebraucht scheint. Ob nach Analogie
von !Tnp: Aushöhlung np^z zu punktieren ist, oder nsp? (so Guthe,
als Feminin zu ap3) lässt sich nicht entscheiden*. Aber dass in
ungekünstelter Prosa ein und dasselbe Wort auf ein und derselben
Zeile in zweifacher Anwendung vorkommen sollte , balte ich für
ausgeschlossen. Andere Erklärer der Inschrift verwischen den Unter¬
schied zwischen dem aktiven und passiven Sinne von nap;. So
Euting und Nöldeke, wenn sie in den Facsimiles of Manuscripts &
Inseriptions der Palaeographical Society, Oriental series, zu plate
LXXXVII,') in der Übersetzung der Inschrift dreimal schreiben:
„the breaking through* [aktiv!], dazu aber den Kommentar geben :
&- p ^ C.J
„The Arabie and Syriac supply us witb u_uü, j'-spi , and Ä-jjü, a
hole [passiv!]; so we may vocalise the new word naps or nap;.
The three missing letters [am Anfang von Z. 1] may have been
risir this (is) the breaking through [auf Deutsch: dies ist das
Durchbrechen !; ist natürlich unmöglich], or mzP\ is completed, or
D^'a on the dag of . Ferner J. Derenbourg, der Revue des etudes
juives, t. III , 164 dreimal jt»ercemeJ!< [aktiv!] übersetzt, sich 171
aber folgendermaassen äussert: „nap;n, qui se trouve trois fois
sur l'inseription, ne designe pas, ä notre avis, le canal tout entier,
qu'on aurait nommö nbyn (cf Is. VI, 3)*); car ce mot parait
s'appliquer ä tout aqueduc , creuse dans une plaine ä ciel ouvert,
ou percö dans le rocher. La nokbäh ou nikbäh de notre texte
se rapporte seulement au trou [passiv !] final pratique ä travers
les derniferes trois coudees *. Guthe, der Bd. XXXVI dieser
Zeitschrift, S. 731 zwar erklärt: „Die Bedeutung von nap; kann
nicbt zweifelhaft sein; ich fasse dieses nomen verbale an allen drei
Stellen, wo es vorkommt, in aktivem Sinne auf : „Durchstechung*",
gleichwohl aber fortfährt: „Die obigen Vorschläge [sc. nST, nisn
oder D^ii am Anfang von Z. 1 zu ergänzen] ergeben für den An¬
fang die Übersetzungen: „Dieses ist der Durchstich* * [diese
1) Fehlt in der Litteraturüborsicht, die Lidzbarski, Handbueh. S. 439 zur Siloahinschrift giebt; bei der peinlichen Accuratesse, mit der Lidzbarski ge¬
arbeitet hat, gewiss ein seltener Fall!
2) Natürlich VII, 3 !
802 Fücher, Zur Siloahinschrift.
Übersetzung hat doch nur Sinn, wenn „Durchstich' gleichwertig
mit „Durchstichstelle', „Öffnung' o. ä. , also im passiven Sinne
steht! Zuletzt auch Blake, der a. a. 0., p. 50 unser Wort mit
„tunnel [passiv!] or cutting through'' [aktiv!] übersetzt und p. 51
folgendes bemerkt: „The second word of the inscription, naps, is
tbe word for tunnel. It does not occur in Biblical Hebrew, and
has usually been read nap:, or naps, or najjs, following the
Aramaic sap-'S, NapiS, ÄoZe, arid the Syriac )-^o i '), perforation.
In post-Biblical Hebrew, however, the form naipS perforation
[activ !] , aperture [passiv !], is found , alongside of which we have
the Aramaic Nnaips with a similar meaning.*) We might, there¬
fore, read naps*.
Mir scheint vor allem eins klar: dass napsn, wie ich schon
betonte , an allen drei Stellen der Inschrift dasselbe besagen muss.
Ebenso klar ergiebt sich aus der "Verbindung napsn D"'a Z. 3—4,
dass . ein Verbalabstraktum in ihm enthalten sein muss. Kann dieses
Abstraktum nun die Form naps,T 't ; ' naps,T . ' nspsT ': T oder nap:T '". : haben?
(so natürlich nur nach masoretischer Aussprache ; wie das Hebräische zu der Zeit, der die Inschrift angehört, also wohl im 8. Jahrh. v. Chr.,
zu Jerusalem wirklich gelautet baben mag, wissen wir ja leider
nicht).
Meines Erachtens nicht! Wenigstens ist mir, was die drei
•ersten Bildungen anlangt, keine einzige biblische cftälä-, qitlä{qatlä)-
oder g'orfä(2M<Zä)-Form bekannt, die diesem na^sS, naps oder napS
entsprechen , d. h. zu einem trans. qätal mit it-Impf. (bezw. bei
Verben med. oder ult. gutt. mit a-Impf.) gehören und ein Nomen
der einfachen Handlung darstellen würde. Man vergleiche Abstracta
wie npn^ Gerechligkeit, n^sj; Demut, nbas Gottlosigkeit, nnis,
npSS'tt : Geschrei, 'tt:mzm Stille, 'tt:nU7:i25 Entsetzen, 'tt-inT^n Schrecken, ' njN'n Bekümmernis, nnj"! Erleichterung etc. ; nN'i'^ Furcht, ns'^a
Einsicht, nNSp Eifersucht, n^^ir! Hass, n;ai2 Gefangenschaft,
nNMi: Durst, nspT Altem, n^bä Ruhe, nbiy Ungerechtigkeit,
nyiffl Hilfegeschrei etc. ; !T^in^ Reinigung, nbjsn Schonung, Mit¬
leid etc.: nicht ein einziges darunter entspricht den angegebenen
Bedingungen. Kautzsch setzt, wie wir sahen, naps in Parallele zu
„n'np; Aushöhlung''. Aber dieses Wort steht an keiner der beiden
SteUen , an denen es im Alten Testamente erscbeint (Ex. 33, 22:
fnay-iT •;|^by ■'ED ■'nsbi Tian rrnpsa ^i^ra-CT •'"ias -laya n^ni
Wenn dann meine Herrlichkeit vorüberzieht, will ich dich in eine
1) Blake scheint diese aramäischen Bildungen für Feminina zn halten!
2) Dazu die Fussnote: „Cf. Levy, Neuhebräisches und chaldäisches Wörterbuch, vol. 3, pp. 432 b; 433 a".
Felsenhöhle stellen etc.; und Jes. 2, 21: •'ESpai d'"nsn nilpsa Kiab
O^'^ben um in Felsenhöhlen und in Felsenklüfte zu gehen), als
Verbalabstrakt und fällt schon darum für einen Vergleich mit
nap; aus; zudem dürfte, nach der nominalen Eigenart von mp3
zn scbliessen, der stat. abs. dieses Wortes, der uns ja nicht über¬
liefert, sondem ans den statt, constr. nnp? imd rinps zu erschliessen ist, 7 eher M^pSr * als fihp:t't : (so immer nur nach masoretischer Aus- spräche!) gelautet haben.
Was aber die Porm !iap3 anlangt, so war es ein Missgriff von
Blake , zu ihren Gunsten , unter Bemfung auf Levy's Wörterbuch,
das nachbiblische Hebräisch heranzuziehen. Levy's Werk muss mit
grosser Vorsicht benutzt werden. Die Ausdrücke naips, n]5iOE, noiTi
in den Verbindungen Uiaifi naip;, msun npioo, 'ai aNTM nom
(sämtlich Chull. III) sind keine Verbalabstracta, wie Levy will, der
diese Verbindungen übersetzt: ,das Durchlöchertsein des Schlundes,
infolge dessen das Tier nicht gegessen werden darf", ,das Gespalten¬
sein der Gurgel", ,die Derusa (das Treten) des Wolfs' etc., sondera
einfache Participia pass, im Pemininum. Die ricbtige Auffassung
zeigt M. Jastrow in seinem .Dictionary of the Targumim etc.",
das zu noin die Übersetzung enthält: an animal known to have
been attacked by a beast or bird of prey , zu aSTn noin an
animal saved from the attack of a wolf, zu naip3 an animal
found to have a vital organ perforated etc. In der von Levy
gleichfalls unter naip: mitgeteilten Verbindung inaip: n'^a Pes. VH
aber (von Levy richtig übersetzt: ,die Stelle am Tiere, wo es
durchlöchert ist, d. h. der After") liegt gar kein naip: vor, sondern
offenbar die Bildung naip;.*) Eine nachbiblische Porm naip: mit
der Bedeutung perforation, aperture, wie Blake sie annimmt, existiert also nicht.
Eher könnte man zu Gunsten von nap; biblische 5*<öZa-Bildungen
wie n'iiap, !^/5¥7, n^ap, nNic^i, mio: ins Peld führen, die sämt¬
lich zu trans. qätal mit u- (bezw. a-)Impf gehören. Indes sind
diese Bildungen nur gering an Zahl und wohl ausnahmslos jüngeren
Alters, auch drücken sie nicht mehr die einfache Handlung aus,
sondem sind zu Substantiven mit besonderen Inhaltswerten , z. T.
sogar zu Concretis geworden (vgl. n"iiap = Begräbnis, Orab,
nj55i? = Guss, nxap = Sammlung, Haufe, nsiDl = Heilmittel,
mno^ = Gründung). Ich würde daher nicht wagen, auf unserer
Inschrift napsn zu lesen.
Die Verbalabstracta, die im älteren Hebräisch für Verba trans.
der Porm qätal mit m- (bezw. a-)Impf vorzugsweise in Betracht
1) Dies ist auch die Ansicht von Herrn Israel Isar Kahan, den ich betreffs dieser Stelle befragte.
804 Fücher, Zur Siloahinschrift.
kommen, zeigen die Formen bu]5., baj; und fiVup; vgl. btp Morden^
a-nn Morden, Würgen, qa; Schlag, Flage, yjD Schlag (yas ist aller¬
dings möglicherweise nur sekundär trans.), SUS Pflanzen; qON Ein-
sammeln, qp': Abschlagen, piäy Bedrückung; rrnps Aufsicht,
Musterung, nssn Einweihung, nbN-j Einlösung etc. Aber ab¬
gesehen davon, dass die Schemata bap. und bap schon ihrer Form
wegen für napsn nicht in Betracht kommen können, drücken diese
drei Bildungen, zum mindesten aber bap; und nbap, ähnlich wie
nbiap, nicht mehr die einfache Handlung aus, sondem sind Sub¬
stantiva mit Intensiv- oder Iterativbedeutung oder mit speciellen
Inhaltswerten geworden. Man würde also auf unserer Inschrift
auch nicht naptnT : - lesen dürfen. Damit aber ist, soviel icb sehe '
die Zahl der Möglichkeiten, die die Aussprache unseres naps zu¬
lassen würde, erschöpft.
M. E. sollte man in napsn hinter n-'a überhaupt kein Verbal¬
nomen mit vorgesetztem Artikel erwarten , denn Wendungen wie
am Tage des Durchstichs , on the dag of the breaking through,
au jour du percement o. ä. sind nicht althebräisch, sondem modern¬
europäisch gedacht. Althebräisch musste man dafür sagen: „am
Jage da man (den Hügel o. ä.) durchstach", „atn Tage da (der
Hügel) durchstochen wurde' o. ä. Und damit kommt man
von selbst zu der Lesung: ° napsnT ':rT • D^'a.:
Diese Lesung hat sich mir bereits aufgedrängt , als ich vor
17 Jahren als Student die Inschrift zum ersten Male zu Gesicht
bekam, und ich halte sie auch heute noch für die natürlichste. Der
Infinitiv nach Bi-'a ist im A. T. überaus häufig: er findet sich ca. 70
mal, während das Verbum finitum darnach im ganzen nur 11 mal*)
stebt und zwar meist an Stellen, wo die Masoreten zwar das Per¬
fektum bevorzugt haben, wo an sicb aber auch der Infinitiv möglich
wäre^). Dass auch der Inf Niph'al nach DT'a nichts weniger als
unerhört ist, zeigen folgende Fälle: Gen. 5, 2 DN'ian ÜV^; 21, 8
pnxynN b?3sn ova; Lev. 6, 13, Num. 7, 10. 84 ins niiiisn oiia;
Lev. 13, ' 14 in-TTlira ia nis'inT 1" Di^ai;: l.Sam. 21, ' 7 inpVn'Jn • Diia;: '
Ezech. 28, 13 '^Nian Di-a und 43, 18 iniiayn niia. Das Niph.
ap; kommt zwar in der Bedeutung durchbohrt, durchbrochen werden
im A. T. nicht vor; aber die Mischna hat es in dieser Bedeutung,
und da aps durchbohrt werden das regelrechte Passiv eines ofi'en¬
bar auf jeder Stufe des Hebräischen viel gebrauchten aps durch¬
bohren darstellt, bat es aller Wahrscheinlichkeit nach auch dem
Altbebräiscben angehört. Ja, wenn nicht alles trügt, findet es sich
1) Ex. 6, 28; Lev. 7, 35; Num. 3, 1; Deut. 4, 15; 2. Sam. 22, 1 = Ps. 18, 1;
Zach. 8, 9; Ps. 5C, 10; 102, 3; 138, 3 und Thr. 3, 57.
2) Ex. 6,28; Lev. 7,35; Num. 3, 1; Deut. 4, 15; 2. Sam. 22,1 = Ps. 18, 1.
auf unserer Inschrift selbst in einer Form, die, im Gegensatz zu
dem mehrdeutigen napsn, nur eine einzige Auffassung zulttsst
Lidzbarski hat hier nämlich auf Z. 2 hinter dem Wortanfang . . snb
noch den Kopf eines p erkannt und folgert demgemäss: „Es ist
also [a]i?snb zu lesen' (Ephemeris, Bd. I, 53). Diese Lesung, die
übrigens schon vor Jahren Marti conjiciert hat (s. ZDPV. , Bd. V,
211), hat Kautzsch, Anhang zur 27. Aufl. von Gesenius' Grammatik,
acceptiert und auch mir scheint sie durchaus angemessen. Ich
brauche kaum hervorzuheben , dass dieses apsnb, seine Richtigkeit
vorausgesetzt, für meine Auffassung von napsn auch sonst schwer
ins Gewicht f&llt.
Wie in der Verbindung napsn d^a, so ist auch auf Z. 1 der
Inschrift die Lesung napsn, rein grammatisch genommen, durchaus
am Platze. Schwierigkeiten erheben sich erst bei der Beantwortimg
der natürlich unvermeidlichen Prage: „Und wo ist das Substantiv,
auf das sich das Suffix von napsn zurückbezieht?' Ist die In¬
schrift nämlich, wie ihre Interpreten fast ausnahmslos angenommen
haben , so wie sie uns vorliegt im wesentlichen vollständig , d. h.
bilden die uns mebr oder minder unversehrt erhaltenen sechs Zeilen
ein abgeschlossenes Ganzes , dann ist natürlich für ein derartiges
Substantiv kein Raum auf ihr. Die Richtigkeit jener Annahme
scheint mir aber durchaus noch nicht ausgemacht. Die uns vor¬
liegenden sechs Zeilen haben nämlicb ein recht befremdliches
Aussehen. Ihr Inhalt lautet wesentlich anders als man bei einer
derartigen Bauinschrift erwarten sollte, und erweckt vor allem den
Eindruck des Unfertigen , Fragmentarischen. Man vergleiche zum
Unterschiede die von Lidzbarski S. 162 f. seines „Handbuchs' nam¬
haft gemachten Bau- und Steinmetzinschriften oder, um speziell
Wasseranlagen , freilich dann auf nichtsemitischem Gebiete , zu be¬
rücksichtigen, die von Wilmanns in seinen „Exempla inscriptionum
Latinarum', tom. I, unter der Rubrik „Aquaeductus" (p. 236 ff.)
oder auch die von Lanciani in seiner umfangreichen Abhandlung
„Topografla di Roma antica. I commentarii di Frontino intomo
le aeque e gli aquedotti. Silloge epigrafica aquaria' (Atti della
E. Accademia dei Lincei, Ser. III, Memorie d. cl. di sc. mor., stor.
e filol., vol. IV, p. 215 ff.) zusammengestellten Inschriften. Diese
äussem sich sämtlich , wie man zu erwarten berechtigt ist , vor
allem darüber, von wem, wann und zu welchem Zwecke die be¬
treffenden Bauten oder Anlagen ausgeführt worden sind. Unsere
Insebrift aber schweigt hiervon vollständig. Dazu kommt, dass es
bisher noch niemand gelungen ist, für die kleine Lücke zu Beginn
der ersten Zeile eine Ergänzung vorzuschlagen, die der Inschrift
einen ansprechenden Anfang geben würde. Man hat früher nfii,
Dia, nsn, "jn, nb, on und yp dafür in Vorschlag gebracht. Aber
von diesen Vorschlägen scheitern die drei ersten schon daran, dass
der znr Verfügung stehende Eaum allem Anschein nach nur für
806 Süeher, Zar SUoahintchrift.
zwei Buchstaben ausreicht (vgl. Guthe, diese Zeitschr., Bd. XXXVI,
729. 731 etc.), und die vier letzten erweisen sich teils aus sprach¬
lichen, teils aus inneren Gründen als unmöglich oder doch im höchsten Grade unwahrscheinlich. Blake, a. a. 0., p. 51 und ebenso jetzt Kautzscb
(Anhang zur 27. Aufl. seiner hebr. Gramm.) ergänzen on. Welchen
Zweck konnte aber der so gewonnene Satz nap:rt on haben ?
Dass der Durchstich vollendet war, sah ja jeder. Stünde ein
Datum hinter napsn, würde man die Wendung napsn Dn begreif¬
lich flnden. Aber ein blosses Vollendet ist der Durchbruch scheint
mir recht überflüssig. Die Pormel icon obfflsi Dn am Ende jüdischer
Handschriften, die Kautzsch früher (ZDPV., Bd. V, 207) zu Gunsten
der Lesung napsn nwn ins Peld geführt hat, beweist nichts da¬
gegen, denn bei Handschriften ist der Abscbluss nicht wie bei dem
Durchstich eines Tunnels stets ohne weiteres ersichtlich und daher
eine derartige Schlussformel wohl am Platze (ganz zu schweigen
davon, dass diese Pormel m. W. erst ziemlich spät auftritt).
Gildemeister hat deshalb vor 20 Jahren mit Recbt Kautzsch
gegenüber die Vollständigkeit der Inschrift mit folgenden Worten
angezweifelt: ,Aber etwas auffälliges hat die Porm der Inschrift
doch. Mag man [am Anfang] ergänzen was man will .... man
hat das Gefühl, dass dies nicht allein gesagt werden konnte, und
dass oben eine Inschrift zu suchen ist, deren Ergänzung diese bildet, worin aber das andere, wichtigere gesagt war" (ZDPV., Bd. V, 207).
Aucb Kautzsch hat sich der Erkenntnis nicht verschlossen, dass der
Tenor der Inschrift recht befremdet (a. a. 0., Bd. IV, 268 f. : „Rekapi¬
tulieren wir nun die Ausbeute der Entzifferung , so ist dieselbe in
bistorischer oder topographischer Beziehung fast Null Von
einem Namen oder einer Datierung nirgends eine Spur ..."). Er
kommt aber zu einem anderen Scblusse als Gildemeister, nämlich
dem, dass „die Anfertigung der Inschrift nicht eine offlciell an¬
geordnete, sondern das Privatvergnügen eines dabei beteiligten ge¬
wesen ist". Ihm stimmt Guthe (diese Zeitschr., Bd. XXXVI, 745)
zu, und ähnlich äussern sich Euting und Nöldeke (a. a. 0.: „The
inscription is merely the private record of the workmen,
and has no official cbai-acter whatever; otherwise it would have
been .... very differently worded"). Aber ihre Annahme scheint
mir ein reiner Notbehelf; wenigstens möchte ich bei uns den Mineur
sehen, der nach Beendigung eines schweren Stückes Arbeit ledig¬
lich zu seinem Privatvergnügen an einer nichts weniger als bequemen Stelle in sorgfältigen, grossen Buchstaben eine Inschrift in spröden
Kalkstein meisselte, die — nichts ganzes und nichts halbes besagt
und vor allem von seiner eigenen Pereon völlig schweigt. Mir
scheint die Inschrift nur als Teil, und zwar wohl als der Schluss¬
teil, einer grösseren Inschrift bezw. als Portsetzung eines Gegenstücks
zu ihr verständlich. Guthe (ZDPV., Bd. IV, 257) schreibt nun
freilich: „Über die Inscbrifttafel im allgemeinen füge ich nocb
folgendes hinzu. Die Glättung des Pelsens erstreckt sich über eine
Fläche von ziemlich genau 70 cm im Quadrat. Die Inschrift
befindet sich nur auf der unteren Hälfte. Es ist mir durchaus
unwahrscheinlich, dass jemals, auf der oberen Fläche
noch Buchstaben gestanden haben soll ten. *) Einige
Risse sehen freilich bisweilen so aus, als ob sie Reste einer Buch¬
stabenform seien. Indessen ist der Stein oben viel unebener und
löcherichter als unten. Dieser Unterschied wird in der ursprüng¬
lichen Beschaffenheit dieser Stelle des Felsens seinen Grund haben.
Man brachte die Inschrift nur auf der unteren Fläche an, weil sich
die obere nicht dazu eignete', und Kautzsch (ebend., Bd. V, 207)
erklärt auf die mitgeteilte Äusserung Gildemeisters hin: ,An eifrigem
Suchen nach einer korrespondierenden Inschrift am oberen Eingang
des Tunnels hat es nicht gefehlt ; leider blieb dasselbe ohne Erfolg'.
Aber ich würde es nicht wagen, daraufhin die Möglichkeit, dass einst
doch noch ein anderes Stück der Inschrift in dem Tunnel existiert
habe, schlechthin in Abrede zu stellen. Das Reich der Zufälle und
Überraschungen, die sich aller Logik entziehen, ist — wie freilich
viele Gelehrte verkennen , die sich mit antiquarischen Dingen be¬
schäftigen und die sich gerieren, als könnten sie das Gras, das
einst vor Jahrtausenden eine warme Frühlingssonne aus dem Erd¬
boden gelockt hat, noch heute wachsen hören — unendlich gross. Und
so könnte sehr wohl in einem Tunnel, der jetzt über 2600 Jahre
alt sein dürfte, ein Teil einer Inschrift, die sich auf die Entstehung
dieses Tunnels bezieht, einem geschichtlichen Ereignis oder einem
Naturprozesse zum Opfer gefallen sein, deren Spuren sich verwischt
haben und die sich deshalb dauernd unserer Kenntnis entziehen.
Wahrscheinlicher freilich scheint mir eine andere Annabme,
nämlicb die, dass unsere sechs Zeilen zu einer Inschrift
gehören, die unvollendet geblieben ist. Ein äusseres
Indicium für diese Annahme sehe ich in dem Umstände, dass die vor¬
handenen Scbriftzeicben, wie wir soeben von Guthe gehört haben, nur
die untere Hälfte der künstlich geglätteten Steinfläche bedecken ; die
obere Hälfte war also wohl für den Anfang der Inschrift bestimmt, der
indes nicht zur Ausführung gelangt ist. Voraussetzung würde dabei
sein , dass der Steinmetz mit seiner Arbeit unten angefangen hat.
Aber diese Voraussetzung scheint mir in keiner Weise gewagt. Der
Steinmetz hat sich natürlich, genau so wie es unsere Steinmetzen
in solchen Fällen machen , die Inschrift , ehe er sie auszumeisseln
begann, irgendwie auf dem geglätteten Stein vorgezeichnet. Sollte
diese Behauptung noch eines besonderen Beweises bedürfen, so
würde man einen solchen in der Symmetrie und Schönheit der uns
erhaltenen Scbriftzeichen sehen können (vgl. Guthe, diese Zeitschr.,
Bd. XXXVI, S. 729: „danach lassen sich die fehlenden Zeichen un¬
gefähr berechnen, zumal da der Raum, den die gleichen erhabenen
Buchstaben in die Breite einnehmen, wenig von einander differiert.
1) Von mir gesperrt.
808 Fischer, Zur Siloahinschrift.
mehrere Male sogar ganz auffallend übereinstimmt"'^)).
An welcher Stelle der Steinmetz dann zu meisseln begann, ob oben,
unten oder in der Mitte, war an sich gleichgiltig und konnte nur
durch Nebenumstände bedingt werden. Dass er, wie ich vermute,
unten begann, dürfte sich daraus erklären, dass ihm die untere
Hälfte der geglätteten Fläche ungefähr in Augenhöhe gelegen haben
muss^) und damit am bequemsten zugänglich war.'*)
Über die ürsache, die, die Richtigkeit meiner Annahme voraus¬
gesetzt, die Vollendung der Inschrift verhindert haben würde, lassen
sich natürlich nur Vermutungen aufstellen. Nach Guthe (s. oben
und diese Zeitschr., Bd. XXXVI, 728) ist die obere Hälfte unserer
Inscbrifttafel viel spröder und rissiger als die untere. Er findet
in diesem Umstände die Erklärung dafür, dass die Inschrift nicht,
wie man erwarten sollte, oben, sondem unten eingemeisselt worden
sei. Mit demselben Rechte würde man damit motivieren können,
dass der Steinmetz, nachdem er die sechs untersten Zeilen der von
mir angenommenen grösseren Inschrift ausgeführt hatte , die Fort¬
setzung seines Werkes, wenigstens an dieser Stelle, aufgab. Aber
ich kann mir nicht recbt denken , dass ein geübter Steinmetz —
und mit einem solchen haben wir es doch ofienbar zu thun — eine
grössere Fläche harten Kalkgesteins mühsam geglättet haben sollte,
ohne sich vorher von ihrer Brauchbarkeit für seine Zwecke sorg¬
fältig zu überzeugen. Man wird sich deshalb besser nach einer
andem Erklämng dafür umsehen, dass die Inschrift nicht vollendet
worden ist, und könnte diese in einem Tbron- oder Ministerwechsel
oder, falls die Inschrift nicht officiell, sondern nur von dem Ingenieur,
der die Anlage des Tunnels geleitet, angeordnet gewesen sein sollte,
auch in dem Tode oder der Amtsentsetzung des letzteren finden.
Untemehmungen grösseren Stils, selbst wenn sie dem öffentlichen
Wohle dienten, namentlich auch Bauten, haben im Orient jederzeit
in weit höherem Grade als bei uns einen persönlichen Charakter
getragen. So erklärt es sich, dass Paläste, Moscheen, Strassen,
Wasseranlagen etc. nach dem Tode oder Sturze ihrer Begründer
von deren Nachfolgem oder Erben oft unvollendet gelassen worden
sind. Das bestimmende Motiv für letztere war dabei meist nur
Gleichgültigkeit, Gleichgültigkeit gegenüber allem, was nicht der
1) Ebenfalls von mir gesperrt.
2) Vgl. Guthe, ZDPV., Bd. IV, 254: „Aber dnrch meine Arbeiten ist der ursprüngliche Felsboden des Kanals nicht festgestellt worden. Wie boch Schlamm und Steine ibn bedecken, ist noch ganz unbestimmt. Aber gelingt es, wie oben gesagt, das Wasser wieder unmittelbar über den Felsen fliessen zu lassen, so wird die Inschrift wahrscheinlich in die Höhenlage der Augen kommen und man wird sie stebend besichtigen können".
3) Dass die Geschichte der Epigraphik auch andere Inschriften kennt, die unvollendet geblieben sind, zeigt z. B. der Abschnitt „Tituli imperfecti" in E. HUbner's „Exempla scripturae epigraphicae Latinae a Caesaris dictatoris morte ad aetatem Justiniani", p. XLII, eine Stelle, auf die mich mein Kollege Gardt¬
hausen aufmerksam machte.
eigene Wille und Entschluss ins Dasein gerufen hatte. Gelegent¬
lich freilich spielten dabei auch Feindschaft und Eifersucht mit.
Verhältnisse dieser Art könnten auch für unsere Inschrift verhängnis¬
voll geworden sein. Freilicb könnte auch ein Krieg, eine Seuche
oder irgend eine andere , ganz zufällige und deshalb unserer Er¬
kenntnis entzogene, Ursache die Vollendung der Inschrift verhindert haben.
Wie dem auch sei, in der fehlenden ersten Hälfte der Inschrift
denke ich mir das Substantiv , auf das sich das Suffix von napsn
zurückbezieht. Dieses Substantiv dürfte nras oder sonst ein auf
den Hügel oder das Gestein , durcb das der Tunnel gehauen ist,
bezügliches Wort gewesen sein. Wollte man an nbyn oder ein
sinnverwandtes Substantiv denken, so würde man annehmen müssen,
dass 3p5 mit einem Accusativ des Resultats konstruiert werden
konnte, was erst zu beweisen wäre.
In LVI, 67 nannte ich auch Herrn Prof Jensen als Vertreter
der Ansicbt, ASurb. Cyl. B Col. V, 5 flF. beziehe sich auf eine eigent¬
licbe Finsternis. Dies ist dahin richtig zu stellen, dass in KB II, 249 das Wort attalü allerdings mit „Finsternis" übersetzt, aber durch
ein ,?" zugleicb der Zweifel an deren astronomischem Charakter
ausgedrückt ist.
S. 64, Z. 17 ist MAff gegen EN zu vertauschen.
Berichtigung.
Valkenberg (Holland). F. X. Kugler.
Bd. LVI. 6S
5 (