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Forschungsgruppe »Große technische Systeme« des Forschungsschwerpunkts Technik - Arbeit - Umwelt am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung FS H 91-503 Wissenschaft - Technik - Modernisierung

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Forschungsgruppe »Große technische Systeme«

des Forschungsschwerpunkts Technik - Arbeit - Umwelt am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

FS H 91-503

Wissenschaft - Technik - Modernisierung

Verhandlungen der Sektion W issenschaftsforschung der DGS beim 25. Deutschen Soziologentag in Frankfurt, Oktober 1990

herausgegeben und eingeleitet von Bernward Joerges

mit Beiträgen von

Ingo Braun, Günter Feuerstein, Claudia von Grote-Janz, Bettina Heintz, Ralf Herbold, Sybille Krämer, Wolfgang Krohn, Johannes Weyer und anderen

Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gGmbH (WZB) Reichpietschufer 50, D -1000 Berlin 30

Tel. (030) 25 49 1

(2)

Zusammenfassung

Dieser Sammelband vereinigt die überarbeitete Version von vier Vorträgen und sie kommentierende Kurzreferate, die auf der Sektionssitzung »Wissenschaftsforschung«

des 25. Deutschen Soziologentages in Frankfurt a. M. gehalten wurden.

Die Beiträge geben einen Überblick über neuere Ansätze der Technikforschung. Die ersten beiden Beiträge gelten Modernisierungsphänomenen, die an der Bedeutung eines einzelnen technischen Artefakts, des Computers, festgemacht werden. Sie befas­

sen sich mit den Folgen der Technisierung des Symbolgebrauchs (Sybille Krämer) und rekonstruieren die der Technisierung vorausgehende Erhebung formaler Rationalität zum bestimmenden Moment sozialer Wirklichkeit (Bettina Heintz).

Die beiden folgenden Beiträge befassen sich mit systemischen Zusammenhängen von Technik und ihrer Bedeutung für die Moderne. Im Mittelpunkt stehen hier zum einen die Verknüpfung des Funktionierens technischer und sozialer Komponenten am Bei­

spiel der Planung einer modernen Mülldeponie (Herbold/Krohn/W eyer) und zum an­

deren die technischen Vernetzungen von Techniken, Institutionen und Akteuren und ihrer Entwicklungsdynamik am Beispiel der Organtransplantation - konzipiert als gro­

ßes technisches System zweiter Ordnung (Braun/Feuerstein/v. Grote-Janz).

Abstract

This reader contains the revised versions of four lectures and commenting short papers, which were read at the sectional session »science research« of the 25th G er­

man Congress of Sociology in Frankfurt a. M.

The contributions give an overview of recent theoretical approaches in the social science of technology. The first two contributions reflect upon modernizing phenom­

ena which are attached to the significance of a single technical artifact - the computer.

They review the consequences of mechanizing the use of symbols (Sybille Krämer) and reconstruct the promotion of formal rationality - which precedes the mechanization - to a determining momentum of social reality (Bettina Heintz).

The then following contributions analyze the systemic interdependencies of technique and their consequences for modern societies. The focus, on the one hand, lies on the link of the functioning of technical and social components, illustrated by an example of planning a modern waste deposit (Herbold/Krohn/Weyer), and, on the other hand, on the technical interconnectedness of techniques, institutions, actors and their dynamics of development, illustrated by the example of organ transplantation which is conceptu­

alized as a large technical system of second order (Braun/Feuerstein/v. Grote-Janz).

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Inhalt

Seite Zur Einführung

Wissenschaft - Technik - Modernisierung: Triangulationen 7 Bernward Joerges

Die Säkularisierung der Symbole: Ein Projekt der Neuzeit

und seine (post)modernen Folgen 19

Sybille Krämer

Die Säkularisierung des Kantischen Transzendentalsubjekts 31 Arno Bamme

Kopierfähler: Ein altes Phänomen und seine modernen Folgen Kommentar zu: »Die Säkularisierung der Symbole: Ein Projekt

der Neuzeit und seine (post)modernen Folgen« von Sybille Krämer 37 Ingo Braun

Modernisierungsstrategien und Computerarchitekturen 44 Bettina Heintz

Kommentar zu: »Modernisierungsstrategien und Computer

architekturen» von Bettina Heintz 73

Jost Halfmann

Technikentwicklung als soziales Experiment 76

R alf Herbold, Wolfgang Krohn und Johannes Weyer Riskante Forschungspraktiken

Kommentar zu: »Technikentwicklung als soziales Experiment«

von Ralf Herbold, Wolfgang Krohn und Johannes Weyer Wolfgang Bonß, Rainer Hohlfeld und Regine Kollek

96

(4)

Seite Technikgestaltung als soziale Handlung mit prinzipiell unsicherem

Ausgang

Kommentar zu: »Technikentwicklung als soziales Experiment«

von Ralf Herbold, Wolfgang Krohn und Johannes Weyer Manfred Mai

Organtransplantation und technisch vernetzte Systeme Ingo Braun, Günter Feuerstein und Claudia von Grote-Janz

106

121

150 Kannibalische Ware

Kommentar zu: »Organtransplantation und technisch vernetzte Systeme» von Ingo Braun, Günter Feuerstein und Claudia von Grote-Janz

Rainer Hohlfeld

(5)

Zur Einführung

Wissenschaft - Technik - Modernisierung:

Triangulationen

Bernward Joerges

1. Vorliegendes Heft versammelt die Beiträge der Herbsttagung der Sek­

tion Wissenschaftsforschung der DGS im Rahmen des Soziologentags 1990 in Frankfurt a. M. Mit Bedacht wurde das übergreifende Motto des Soziologentags übernommen und abgewandelt für die Frage nach den wandelbaren Verhältnissen zwischen Technik und Wissenschaft sowie zwi­

schen diesen beiden und anderen gesellschaftlichen Instanzen im Verlauf der Modernisierung.

Damit ist schon angedeutet, daß die Debatte von vornherein jenseits einiger ehrwürdiger Gegenübersetzung angesiedelt sein sollte. Wie sehen internalistische und externalistische Interpretationsmuster der Wissen­

schaftsforschung aus, wenn ein drittes - Technik - in Betracht gezogen wird und die Abgrenzung von innen und außen schwierig wird? Wie sind alte Grenzziehungen ä la »Die zwei Kulturen«, die ja in öffentlichkeits­

orientierten Debatten über Wissenschaft und Gesellschaft immer noch mächtig am Werk sind, zu revidieren? Dem paarweise konstruierten Ge­

gensatz von »Wissenschaft und Gesellschaft« (oder umfassender Kultur) sollte als geschichtlich und begrifflich gewichtige Größe (mindestens) Technologie und Technik triangulär hinzugedacht werden.

Über diese wenig einengenden Orientierungsmarken hinaus war den Positionen und Forschungsansätzen, die im folgenden präsentiert werden, kein vereinheitlichendes Frageraster vorgegeben. Die Offenheit der ge­

genwärtigen Diskussion sollte erhalten bleiben in einer Situation, die so­

wohl von der Auflösung gesicherter Schulweisheiten wie von einer schwin­

denden Attraktion neuerer, alternativer Orthodoxien der soziologischen Wissenschafts- und Technikforschung gekennzeichnet ist.

(6)

8 Joerges 2. Die schrecklichen Vereinfachungen unserer Schulweisheit lassen sich vielleicht folgendermaßen resümieren (Carl Mitcham zum Beispiel rekon­

struiert den historisch-philosophischen Kontext sozialwissenschaftlicher Wissenschafts- und Technikforschung entlang einem derartigen Schema­

tismus1):

Es gab einmal eine lange Zeit, beginnend mit den alten Griechen, in der Wissenschaft und Technik reinlich getrennt waren, ganz unterschiedli­

che Wissensbestände und Fertigkeiten voraussetzten und ihre legitime Ausübung jeweils klar umschriebenen Gruppen Vorbehalten war. Mit an­

deren Worten: Technik und Wissenschaft waren durchgängig geprägt von staatlichen, religiösen und wirtschaftlichen Instanzen und Interessen.

Dann, mit der Renaissance und der Aufklärung, kam eine Zeit, in der diese Konstellation nachhaltig verändert wurde: Wissenschaft und Tech­

nik wuchsen immer mehr zusammen, Forschung wurde über Apparate vorangetrieben, technische Praxis wurde verwissenschaftlicht. Zur gleichen Zeit kam es zu einer institutioneilen Verselbständigung der Wissenschaf­

ten, einschließlich der Technikwissenschaften. Diese Autonomisierung re­

sultierte in gewissem Sinn in einer Umkehrung der Prägerichtung. Von nun an trieben Wissenschaft und Technik Hand in Hand und Zug um Zug die Säkularisierung, Laifizierung und Rationalisierung praktisch aller ge­

sellschaftlichen Strukturen voran.

Und dann (wie es sich so trifft, ungefähr um die Zeit, als die meisten von uns angefangen haben, Soziologie zu betreiben), in den sechziger und siebziger Jahren unseres Jahrhunderts, kam es zu einer neuen geschichtli­

chen Wende, der Postmoderne. Es gab, sehr verkürzt gesagt, eine erneute Trennung von Technik und Wissenschaft. Zumindest auf dem Niveau kri­

tischer Selbstverständigungen der Wissenschaften, auch der sogenannten Naturwissenschaften, kam es zu einem Verlust von Autonomie hinsicht­

lich der Generierung und technischen Verwertung von Wissen und Appa­

ratur. Neue gesellschaftliche - soll heißen: außertechnische und außerwis­

senschaftliche - Kontroll- und Steuerungsansprüche wurden erhoben ge­

genüber dem, was nun als freigesetzte wissenschaftlich-technische Impera­

tive stilisiert wurde.

1 Vgl. Carl Mitcham (1989): »In Search of a New Relation Between Science, Tech­

nology, and Society«. In: Technology in Society, 11, S. 409-417.

(7)

Wissenschaft - Technik - Modernisierung: Triangulationen 9 3. Natürlich wissen wir wohl, daß die Verhältnisse viel vertrackter waren und sind. Zunächst sind die drei Instanzen nur einem Beinahe-Blinden als einheitliche, sich gegenüberstehende und aufeinander einwirkende Figu­

ren visualisierbar. Der genauere empirisch-sozialhistorischen Blick stößt auf zu viele Ähnlichkeiten zwischen den Rationalitäten, zu viele unüber­

sehbare Differenzen innerhalb der drei Domänen.

Alte Schulbuchweisheiten über den Wandel von Wissenschaft und Technik im langen Verlauf der Modernisierung haben aber vor allem von neuen Wissenschafts- und Techniksoziologen (NSSK: New Sociology of Scientific Knowledge) Konkurrenz bekommen, eine weitgehend anglo- französische Disziplin, die im deutschen Sprachgebiet, mit Ausnahme der Schule von Karin Knorr-Cetina, nur zögernd rezipiert wird. Aber späte­

stens wenn neue sozialwissenschaftliche Interpretationsmuster Eingang in populärwissenschaftliche (hier: wissenschaftsjournalistische) Arbeiten fin­

den, kann man sie nicht mehr ohne weiteres übersehen.2

In sozialkonstruktivistisch-interpretativer Perspektive wird das Dreieck Wissenschaft - Technik - Modernisierung (gesellschaftlicher Wandel) durch eine Serie von Operationen quasi zum Verschwinden gebracht. Wis­

senschaftliches Wissen wird tendenziell einer eigenen, eine höhere Digni­

tät begründenden Spezifität beraubt. Technik wird tendenziell als Wissen konstruiert. Die soziale Konstruktion und Stabilisierung wissenschaftlicher Fakten dient als Analogie für die Entstehung und Erzeugung technischer Artefakte. Damit geht auch sie einer gegenüber Wissenschaft abgrenzba- ren Spezifität verlustig.

Die wissenssoziologische oder diskurssoziologische Verkürzung der Seitenlängen des Dreiecks wird bisweilen bis zur Schrumpfung auf die Pointe getrieben, der soziologische Gegenstand erschöpfe sich in einer so verstandenen Wissenschaftssoziologie. Aber sie akzentuiert auch be­

stimmte Fragestellungen, die mir aus den hier zusammengebrachten Vor­

trägen und Kommentaren zu resultieren scheinen.

2 Ein ungewöhnlich eindrucksvolles Beispiel dafür ist Lerner, der in seinem Buch

»The Big Bang Never Happened« in der Manier der NSSK zu zeigen versucht, daß herrschende Theorien zum »tiefsten Geheimnis des Universums« ideologische Fa­

brikationen sind; vgl. Eric J. Lemer (1981): The Big Bang Never Happened: A Start­

ling Refutation o f the Dominant Theory o f the Origin o f the Universe. New York:

Times Books.

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10 Joerges

4. Die Beiträge beleuchten ganz unterschiedliche Aspekte des Dreiecks­

verhältnisses. Die Autoren der Kommentare mahnen diverse Ausblendun­

gen an und bieten gleichzeitig, wie ich finde, wichtige Übersetzungslei­

stungen und auch Zuspitzungen an. Obwohl es sich bei den vier Beiträgen um ausgeprägt eigenständige, kaum in einen direkten Vergleich zu zie­

hende Thesen und techniksoziologische Positionen handelt, sind einige schematische Zuordnungen dennoch möglich. Dazu einige begleitende Bemerkungen und weitergehende Anfragen.

Zunächst lassen sich die Beiträge zu den beiden behandelten Technik­

typen - Computer und (andere) Großtechnik - je für sich betrachten und in einem Zusammenhang bringen. Es zeigt sich dann, daß sie in interes­

santen Spannungs-, aber auch Ergänzungsbezügen zueinander stehen.

Im Anschluß läßt sich die Frage stellen, wie die Autoren und ihre Dis­

kutanten die Entfaltung »neuer Wissenstypen« im Wechselspiel von wis­

senschaftlichem, technischem und gesellschaftlichem Wandel begreifen.

Interessant wäre es vor allem, für die einzelnen Beiträge herauszuarbei­

ten, inwiefern die in der einen oder anderen Fassung durchgängig konsta­

tierten Phänomene der sozialen Konstruiertheit und der Unsicherheit auf der »epistemisch-historischen« oder auf der »real-historischen« Ebene an­

gesiedelt werden. Handelt es sich um eine theoretische Wende im Verlauf sozialwissenschaftlicher Entwicklungen oder um Wandel im Gegenstands­

bereich?

Danach möchte ich kurz zwei Probleme aller wissenschafts- und tech­

niksoziologischen Ansätze ansprechen: mehr oder weniger implizite und undiskutierte Epochalisierungen und der Umgang mit materialen Arte­

fakten in Wissenschaft und Technik. Letzteres betrifft die Frage, wie Handlungen, die in außerkörperlichen Medien realisiert werden, soziolo­

gisch zu berücksichtigen sind. Und es hat Konsequenzen für die andauern­

de Debatte über Technikgenese und Technikdeterminismus.

5. Die Beiträge zu den Computerwissenschaften und den Computertech­

niken stehen am Anfang, einfach weil für viele sozialwissenschaftlich argu­

mentierende Technikforscher »der Computer«, oder auch »die neuen I &

K-Technologien«, paradigmatischen Rang für das historisch Spezifische der gesamten zeitgenössischen Technik- und Technologieentwicklung ge­

wonnen haben. Werner Rammert zum Beispiel räumt einem entsprechen­

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Wissenschaft - Technik - Modernisierung: Triangulationen 11 den ingenieurwissenschaftlichen Paradigmenwechsel zu Beginn des Jahr­

hunderts eine konstitutive Bedeutung für alle (postmechanische) »Hoch­

technologie« ein 3

Die Texte zum Computerwesen gehen der Frage nach, wie diese eigenartig ambivalente, zwischen »Zeichensystem« und »Maschinensy­

stem« changierende Technik zu konzipieren und auch zu bewerten sei, welche Parallelen zu anderen gesellschaftlichen »Entwicklungen« auffal­

len und welche Implikationen eine augenscheinlich heraufziehende Kultur der Zeichen für diese mit sich bringt.

Diese Beiträge stehen eher für den Wissenschaftspol des titelgeben­

den Dreiecksverhältnisses - oder besser gesagt: Ihr Interesse gilt primär dem Aspekt der Wissenschaftsentwicklung in der Computertechnik. Tech­

nikentwicklung erscheint von hier nur aus wissenschaftlichen Vorläufen heraus verständlich, seien diese nun eher (neo-)internalistisch (Sybille Krämer) oder (neo-)externalistisch, als gesellschaftliche Interessen vermit­

telnd (Bettina Heintz) interpretiert.

6. In den anschließenden Beiträgen zur »Großtechnik«3 4 geht es primär um außerwissenschaftliche, ingenieurtechnische Entwicklungen oder je­

denfalls um einen eigenständigen Typus von nicht im klassischen Sinn ex­

perimenteller Wissenschaft. Diese Beiträge kreisen um das ungelöste Pro­

blem, wie Gefahren und Risiken auffälliger, großer und umkämpfter Techniken so verschiedener Art wie Müllbeseitigung und Organtransplan­

tation konzeptualisiert und, wiederum, aus einer soziologischen Perspek­

tive bewertet werden können.

D er Pol Wissenschaft erscheint hier eher als abhängige Größe: sei es, daß traditionelle Wissenschaft mehr und mehr ausufert in ein riskantes gesellschaftliches Experiment (möglicherweise im Sinn eines neuen Inter­

nalismus; Herbold/K rohn/Weyer), sei es, daß technisch induzierte Pro­

3 Vgl. Werner Rammert (1991): »From Mechaniacal Engineering to Information Engineering: An Evolutionary Perspective«. In: M. Dierkes/U. Hoffmann (Hg.):

Technology at the Outset. Frankfurt a. M.: Campus (in Druck).

4 Zur Kritik dieses Begriffs siehe Bemward Joerges (1991): »’Große technische Syste­

me': Zum Problem technischer Größenordnung und Maßstäblichkeit«. In: Jahrbuch fü r Technik und Gesellschaft, Band 6. Frankfurt a. M.: Campus (erscheint 1991).

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12 Joerges

blemlagen wissenschaftliche Entwicklungen anregen (also im Sinn eines neuen Externalismus; Braun/Feuerstein/v. Grote).

Gesellschaft als Labor: Hier klingt die Ineinssetzung von Gesellschaft, Technik und Wissenschaft an, wie sie zum Beispiel Bruno Latour in sei­

nen Thesen zur »technoscience« vertritt, und vielleicht kann man in die­

sem Ansatz die deutsche Antwort auf die sozialkonstuktivistische Wende sehen. Man fragt sich allerdings, wie »neu« das Phänomen wirklich ist.

Haben Technik und Technikwissenschaften das nicht schon immer so ge­

macht? Die schöne Metapher rechtfertigt zunächst die Hinwendung zur Technik und, wenn man so will, die Zuständigkeit der Disziplin Wissen­

schaftsforschung, ähnlich dem »technological turn« in der angelsächsi­

schen Wissenssoziologie der achtziger Jahre. Diese war bekanntlich von den »Sozialkonstruktivisten« herbeigeführt worden, wohl auch in der Hoffnung, wie im Feld der Wissenschaftstheorie vorexerziert, ähnlich skandalöse Attacken gegen die Bastionen herkömmlicher Techniktheorie und -philosophic richten zu können. Aber das Glanzstück hat sich nicht wiederholen lassen - und mit guten Gründen: Welcher Technikphilosoph sollte sich aufregen, wenn ihm vorgehalten wird, jede Technik sei »sozial konstruiert«.5

Indessen bringt die Metapher von der »Gesellschaft als Labor« ein­

prägsam zum Ausdruck, daß selbst in einer Wissenschaftsforschung, die Technologie/Technik als eigenständige Wissenstypen zuläßt, der Nexus zwischen (natur)wissenschaftlicher Forschung und technologisch-techni­

scher Wissenserzeugung gegenwärtig überwiegend als Phänomen eines ex­

pansiven, die materialen und institutionellen Grenzen des Labors über­

schreitenden Wissenschaftssystems gefaßt wird. Herbold/K ro h n /Weyer lassen sich in diesem Kontext lokalisieren. Ein gelegentlich diagnostizier­

tes Verschwinden der Differenzen von »Grundlagenforschung«, »ange­

wandter Forschung« und »F & E« (man erinnere sich an Weingarts Ent­

differenzierungsthese) wird vorwiegend im Sinne des Ausbaus von »Um­

weltschleifen« interpretiert, die aus den Wissenschaftssystemen heraus etabliert werden. Sie dienen primär dem Gewinn und der Erhaltung von Autonomie im Wissenschaftssystem.

5 Vgl. dazu Steve Woolgar: »The Turn to Technology in Social Studies of Science«.

In: Science, Technology & Human Values, 16 (1), S. 20-50.

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Wissenschaft - Technik - Modernisierung: Triangulationen 13 Eine andere Sichtweise ist aber möglich und führt unmittelbar zu Fra­

gen nach den »Umweltschleifen« technologisch/technischer Systeme in Richtung Wissenschaftssystem. Inwiefern sind Wissenschaftsdynamik und Wandel wissenschaftlicher Wissenstypen zu verstehen als Auswirkung von Inanspruchnahmen durch »externe« gesellschaftliche Domänen, in denen es um die Entwicklung und gesellschaftliche Stabilisierung von techni­

schen Systemen geht? In einer solchen Optik gehen Braun/Feuerstein/v.

Grote den »Wissenschaftsschleifen«, besser gesagt: den spiralig erweiter­

ten Rückkopplungen zwischen den technischen Systemen der Organtrans­

plantation und ganz verschiedenen Subsystemen des Wissenschaftssystems nach.

7. Dann zu der mehr diachron angelegten allgemeineren Frage einer möglichen Spezifität moderner (und meinetwegen postmoderner) Wissen­

schaft gegenüber früheren Momenten im Verlauf der Modernisierung:

Könnte es sein, daß Wissenschaft als Wissenstyp sich grundlegend wan­

delt? Könnte es sein, daß die sozialkonstruktivistische Wende in der Wis­

senschaftssoziologie diesen Wandel reflektiert und so eher Veränderun­

gen in ihrem Gegenstandsbereich repräsentiert als Veränderungen in der erkenntnistheoretischen Haltung? (Ausgeschlossen wird damit die Mög­

lichkeit, daß von den Sozialwissenschaften vorangetriebene epistemische Revolutionen die wissenschaftlich-technische Praxis nachhaltig verändert haben.)

Gelegentlich als theoretischer Wandel gefaßt (endlich wird klar, daß im Labor nicht Wahrheitssuche stattfindet, sondern Bastelei ...) , ist der technologisch-technische Charakter als ein historischer Wandel des Ge­

genstands der Wissenschaftsforschung weniger beachtet. Man kann aber anzunehmen, daß klassisch-naturwissenschaftliche Denkstile seit gerau­

mer Zeit »konstruktivistischer« werden. Forschungsstile lassen sich viel­

leicht fortschreitend als erfindend und herstellend - im Gegensatz zu ent­

deckend und erklärend - charakterisieren. Vielleicht läßt sich zeigen, daß Forschungsergebnisse immer künstlicher werden und daß fortschreitend mehr traditionell als »geistig-moralisch« kategorisierte Wissenselemente in die damit herausgebildeten Wissenstypen integriert werden. Diese Ver­

mutungen sind alles andere als neu und aufregend. Sie sind aber in der Techniksoziologie ganz überwiegend in Form von wissenschaftstheoreti-

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14 Joerges

sehen - nicht historisch-empirischen - Kontroversen, gewissermaßen als M etatheater inszeniert worden.

Eine andere Interpretation sei hier nur angedeutet. Techniksoziologen haben begonnen, in dekonstruktivistischer Manier (Ingenieur-)Wissen- schaftlern und Experten »die soziale Konstruiertheit« und Kulturrelativi­

tät und damit die Unsicherheit und Riskanz jedweder Aussagen über Technik - nicht nur hochriskanter Technik - nachzuweisen.6 Könnte es sein, daß solche Versuche eher ein Reflex erkenntnistheoretischer Verun­

sicherungen als von Vorgängen im Gegenstandsbereich sind?

8. Dann ist da im Hintergrund, nie explizit angesprochen, der unterstellte geschichtliche Verlauf wissenschaftlicher und technischer Entwicklungen.

Auf einer sehr allgemeinen Ebene gehen die Beiträge hier von der Syn- chronizität grundlegender Bewegungen in den drei Bereichen aus. D ar­

über hinaus kann man die metahistorische Frage an die Beiträge richten, welche Epochalisierungen vorgenommen und dann vor allem welche Kon­

tinuitäten oder ganz im Gegenteil Brüche behauptet werden. Sybille Krä­

mer sieht einen sehr langen Verlauf und riskiert die These, daß die ent­

scheidenden Ereignisse der Modernisierung, wie sie sie versteht, weit zu­

rück liegen. Bettina Heintz dagegen postuliert gesellschaftliche Umbrüche in neuerer Zeit und in relativ kurzen historischen Phasen. Dem entspricht auch, wie mir scheint, ein jeweils anderer Akzent, insofern Krämer eher interioristisch, Heintz eher externalistisch argumentiert.

Beide Autorinnen führen allerdings eine Linie fort, die ich die »syn­

chronistische« nennen möchte und die gegenwärtig die Diskussion domi­

niert, in Brian Rothman’s Worten: die Suche nach »patterns of similitude, homology, structural identity, parallelism, and the like between various systems and codes such as mathematics, paintings, money, and, to a lesser extent, written texts«.7 Demgegenüber ist daran zu erinnern, daß Soziolo­

gen, in einem gewissen Gegensatz zu Historikern, Interpretationsmuster vorziehen, die nicht nur auf Differenzen, sondern auf Antagonismen zwi-

6 Ein instruktives Beispiel ist Trevor Pinch (1990): ‘Testing, One, Two, Three . . .Testing!’ Testing: A Test Case for the New Sociology o f Technology. Discussion Paper FS I I 90-502, Wissenschaftszentrum Berlin.

7 Brian Rothman (1987): Signifying Nothing: The Semiotics o f Zero. London etc:

McMillan.

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Wissenschaft - Technik - Modernisierung: Triangulationen 15 sehen Wissenschaft, Technik und (anderweitigem) gesellschaftlichem Sy­

stem bestehen.

Ähnlich in den beiden Beiträgen, die bei Prozessen der Technikent­

wicklung ansetzen. Braun und Ko-Autoren setzen auf Kontinuität und

»Endlosschleifen«, Herbold/K rohn/Weyer scheien mir auf historisch neue Qualitäten abzuheben.

9. Eine Bemerkung schließlich zum »Artefaktbezug« wissenschafts- und techniksoziologischer Konzeptionalisierungen: In der Vergangenheit habe ich meinen eigenen Ansatz als »realistisch« bezeichnet, vielleicht ohne ausreichend zu bedenken, daß »realistisch« gegenwärtig fast automatisch als Gegenposition zu »relativistisch« und »interpretativ« gelesen wird. Ge­

meint war und ist indessen der ganz andere Gegensatz von »Entwurf«,

»Bild« (Dinge in den Köpfen und in den Texten) versus »real« funktionie­

rend (oder eben auch nicht, jedenfalls in der Regel laut und zum Anfassen und Beseitigen, »Dinge draußen«). Diese Unterscheidung ist ganz unab­

hängig davon, ob die damit benannten Ebenen der Realisierung von Tech­

nik nun aus einer »realistischen« (empiristischen) oder »relativistischen«

(interpretativen etc.) Position heraus betrachtet werden.

Eine in diesem Sinn realistische Konzeption scheint mir den Beiträgen von Heintz und von Braun/Feuerstein/v. Grote zugrundezuliegen. Die beiden anderen Beiträge nehmen zwar ihren Ausgangspunkt durchaus bei Phänomenen handgreiflicher (handschreiblicher) Technik, ziehen daraus aber konzeptionell und methodisch eher den umgekehrten Schluß von der Unerheblichkeit der Materialität von Technik (ja der mit dem Bestehen auf diesem Punkt verbundenen Fehlschlüsse).

Diese Frage der Bedeutung, die der besonderen Materialität moder­

ner Technik (bestehend aus nicht-körperlichen Medien, seien sie mecha­

nisch, elektrisch, chemisch oder was immer) zuzuschreiben sei, ist unge­

klärt. Der Gedanke, gesellschaftliche Wirklichkeiten würden in wissen­

schaftlichen und technischen Erzeugungsprozessen »eingeschrieben«, ist nachgerade zu einem Mythos der interpretativ orientierten Wissenschafts­

und Technikforschung, einschließlich bestimmter Varianten der »Genese­

forschung«, geworden. In eine experimentelle oder industrielle Technik werden demnach bestimmte »Nutzermodelle« hineinkonstruiert, gelegent­

lich auch eingeschweißt (»hardwired«). Ich erinnere an das bekannte Bei­

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16 Joerges

spiel der New Yorker Brücken des Edwin Moses in Langdon Winners

»Do Artifacts Have Politics?« (Yes!), das von den meisten Sozialkonstruk- tivisten in der neueren Technikforschung beifällig als Argument gegen einen sozialwissenschaftlichen Technikdeterminismus angeführt wird.8 10. Wenn - wie das in aller Regel, auch bei Winner, geschieht - die These von den eingeschriebenen Nutzermodellen mit politischen Gestaltbar- keitsthesen und Gestaltungsforderungen verbunden wird, kommt das der Einführung eines harten Technikdeterminismus durch die konzeptionelle Hintertür nahe. An anderer Stelle habe ich dem die These entgegenge­

stellt, daß experimentelle Wissenschaftler und Konstruktionsingenieure in ihrer Mehrzahl das Ziel verfolgen, in den Vorgefundenen technisch-öko­

nomisch-rechtlichen Grenzen möglichst generelle Anwendungsansprüche und damit eine möglichst große Nutzungsvielfalt nicht nur zuzulassen, sondern zu schaffen und festzuschreiben (vgl. Fußnote 4, S. 11).

Man kann vermuten und als Kern der Idee von einem »wissenschaft­

lich-technischen Fortschritt« identifizieren, daß deshalb (immer offen­

sichtlich abhängig von institutioneilen Einschränkungen nicht-technischer Art) beispielsweise moderne (die jeweils letzten) Transport- und Tele­

kommunikationssysteme erheblich vielfältigere Nutzungsvarianten aufwei­

sen als historisch frühere. Rechnergestützte flexible Produktionstechnik regt gegenwärtig vielfältigere arbeits- und betriebsorganistorische Lösun­

gen an, als herkömmliche Produktionstechniken das taten. Ein PC-Netz läßt ungleich mannigfaltigere Einsätze zu und ist zugleich um Vieles rei­

cher an Symboliken als die Schreibmaschinen und Rechenmaschinen von damals.

Die bemerkenswerteste Folge experimenteller Wissenschaft und der Entwicklung technischer Strukturen ist wohl doch »die Folge der Folgen- losigkeit« im Sinn der äußersten Unsicherheit in der vorgängigen Ab­

schätzung der Ergebnisse und Folgen.9 Wenn es aber riskant wird, über

8 Langdon Winner (1980): »Do Artifacts Have Politics?« In: Daedalus, 109, S. 121- 136.

9 Aus einer der kritischen Theorie verpflichteten Sicht spricht Hack allerdings von einer »organisierten Undurchsichtigkeit«, die im »forschungspolitischen Bermuda- Dreieck« eines anderen Dreiecksverhältnisses - Staat, Wirtschaft und Wissenschaft - herrsche. Vgl. Lothar Hack (1988): Vor Vollendung der Tatsachen: Die Rolle von

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Wissenschaft - Technik - Modernisierung: Triangulationen 17 Technikfolgen zu reden, dann folgt daraus, daß man aus ex post Einsichten in die »soziale Konstruiertheit« von Technik wenig ableiten kann für ihre zukünftige Gestaltung. Denn jede überraschend entdeckte neue Nutzung einer Technik kann Anlässe liefern zur Generierung weiterer Technik und zur Durchführung neuer Experimente.

Nutzermodelle sind nicht so sehr Kreationen von Forschern und Tech­

nikern als Projektionen von Fundraisern und Marketingabteilungen. Die kaum zu bestreitenden allgemeinen Gesellschaftsbilder, die Wissenschaft­

ler und Ingenieure haben und zuweilen leidenschaftlich vertreten, dürften ziemlich unabhängig sein von einer Konstruktions- und Rekonstruktions­

praxis, die auf die Erweiterung von Freiheitsgraden der Geltung und der Nutzung abhebt. Insofern moderne Gesellschaften in einem bestimmten Sinn als Arrangements für soziale Beliebigkeit aufgefaßt werden können, kann man somit allerdings zurecht sagen, diese spezifische Form der So­

zialität werde eingebaut in (»hardwired into«) experimentelle Anlagen und technische Systeme.

11. Robert Merton hat in einem seiner vielen Nachwörter zu »Science, Technology and Society in Seventeenth Century England« (kurz STS) der Entstehung und Diffusion dieses Triplets nachgesonnen.10 Er stellt diese Übung übrigens unter das Motto - Schumpeter über Carl Menger - » ...

das dritte Lebensjahrzehnt, diese Periode gesegneter Schaffenskraft, bringt im Falle jedes Denkers das hervor, was danach weiter ausgearbeitet wird«, und verknüpft damit unlösbar wissenschaftssoziologische Periodi- sierungen mit (auto)biographischen.

M erton beansprucht, 1938 als erster das Triplet, diesen zentralen

»semantic marker« der Wissenschaftssoziologie seither, verwendet zu ha­

ben (läßt allerdings die Möglichkeit eines retroaktiven Effekts zu, falls doch eine frühere Version zutage kommen sollte). Vorher habe es nur schlicht »Wissenschaft und Gesellschaft« gegeben. Mertons Analysen und Aktivitäten, vor allem in den siebziger Jahren, haben sicher entscheidend

Wissenschaft und Technologie in der dritten Phase der Industriellen Revolution. Frank­

furt a. M.: Fischer Taschenbuch.

10 Robert K. Merton (1990): »STS: Foreshadowings of an Evolving Research Pro­

gram in the Sociology of Science«. In: I. Bernard Cohen (Hg.): Puritanism and the Rise o f Modem Science: The Merton Thesis. Brunswick and London: Rutgers Uni­

versity Press, S. 334-371.

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18 Joerges zur Öffnung der Wissenschaftssoziologie für »technologische« Fragestel­

lungen beigetragen. Daß heute die sozialkonstruktivistische, Merton mit Verachtung strafende Wissenschaftsforschung einen »technological turn«

der Wissenschaftsforschung erfindet, ist so gesehen selbst die geschickte Fabrikation eines wissenschaftsgeschichtlichen Artefakts. Es gibt viel mehr Kontinuität in dieser Sache, als es scheint.

Dennoch muß man feststellen, daß mit »Technologie«, ganz im ur­

sprünglichen, im Englischen häufig verschütteten Wortsinn, im großen und ganzen immer der Bereich der Ingenieur- und Technikwissenschaften gemeint war und eben nicht real existierende Technik »draußen« in allen gesellschaftlichen Handlungsfeldern. Ein anderer, der »linguistic turn«

hat, auch wenn er konsequent außerwissenschaftliche und, im obigen Sinn, außertechnologische Wissensformen ins Spiel gebracht hat, eher zur Verschärfung dieses Umstands beigetragen.

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Die Säkularisierung der Symbole: Ein Projekt der Neuzeit und seine (post)modernen Folgen

Sybille Krämer

1. Spätestens seit der Zeitgeist sich mit dem Stichwort »Postmoderne«

seine Diagnose selbst geliefert hat, scheint die Idee der »instrumentellen Vernunft« als Universalschlüssel neuzeitlicher Rationalitätsanalyse stumpf geworden. Was vielleicht noch in einer »Dialektik der Aufklärung«

(Adorno/Horkheimer 1976) als feinfühlige Sonde der Geistesverfassung wissenschaftlich-technischer Zivilisation sich bewährte, erscheint nun - an­

gesichts einer Pluralität, gar Inkommensurabilität von Rationalitätstypen - bereits zum alten Eisen zu gehören.

Ist also das Thema »Technik als Typus neuzeitlicher Rationalität«, dessen geistschwere Variationen uns Weber, Husserl, Heidegger, Hork- heimer und Adorno lieferten, ausgeschöpft? So daß wir nun mit franko­

philer Eloquenz uns der Analyse differenter Lebensentwürfe und Wissen­

formen zuwenden könnten?

Tatsächlich scheint das Kapitel »Technik als Rationalitätstypus der Moderne« noch keineswegs zu Ende geschrieben. Zumindest einige Fuß­

noten ständen da noch aus. Diese Fußnoten handeln von der Technisie­

rung des Symbolgebrauches an der Schwelle zur Neuzeit. Im Zentrum die­

ser Technisierung steht die Idee, durch die Installation symbolischer Ma­

schinen bei der Geistesarbeit die Manipulation der Zeichen abzulösen von deren Interpretation. Folge dieser Mechanisierung des Zeichenge­

brauches ist eine Autarkie der Zeichen, eine Lockerung in den Bindungen zwischen den Zeichen und ihren Gegenständen der Referenz, die im Jahr­

hundert des Computers dann ausmünden wird in eine Situation, in der die Unterscheidung zwischen Zeichen und Bezeichnetem, zwischen Simula­

tion und Wirklichkeit hinfällig zu werden beginnt. Baudrillards Diagnose, daß das Reale zum Satelliten der Simulation werde (Baudrillard 1982, S. 117) erweist sich in dieser Perspektive nur als die Langzeitwirkung jenes

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20 Krämer

Umbruches in den symbolischen Grundlagen des neuzeitlichen Diskurs.

Ein Umbruch, der einsetzt mit der Einführung von Kalkülen beim wissen­

schaftlichen Problemelösen in der Neuzeit und in der Modernen ausläuft mit dem Verlust der Überzeugung, daß die Zeichen auf eine einheitliche, eine außersymbolische Wirklichkeit referierten.

2. Die neuzeitliche Wissenschaft ist zutiefst verschwistert mit dem Ziel einer Profanisierung des Wissenerwerbs. Descartes’ Methode zielt ab auf eine Entzauberung der Wahrheitsfindung. Wahrheit soll weder ein Gna­

denakt göttlicher Offenbarung bleiben, noch gar den ingeniösen Einfällen genialischer Inspiration Vorbehalten sein. Vielmehr soll Erkenntnis erwor­

ben werden mit einer Sicherheit, wie sie sonst nur den Garantieprodukten algorithmischer Verfahren zu eigen ist (Descartes 1979). Mit Descartes wird wahres Wissen zu etwas, das in keiner Weise mehr empfangen, wohl aber regelgeleitet zu erzeugen ist.

Leibniz radikalisiert Descartes. Da für ihn alles Denken unabdingbar angewiesen ist auf den Gebrauch von Symbolen, wird die Formalisierbar- keit der Symboloperation zum einzigen Garanten wahrheitsfähiger E r­

kenntnis (Leibniz 1966, S. 30-39). Die von Descartes angestrebte Regle­

mentierung des Erkennens nimmt bei Leibniz die Gestalt einer Mechani­

sierung des intellektuellen Einsatzes von Symbolen an. Ort dieser Mecha­

nisierung ist der Kalkül. Nun sind aber Kalküle nichts anderes als symboli­

sche Maschinen (Krämer 1988).

3. Warum können wir CCCCLXXXXIX und CCCCLXXXXVIII schrift­

lich nicht miteinander multiplizieren, wohl aber 499 mal 498 kinderleicht berechnen? Offensichtlich sind Zahlen im römischen Ziffernsystem zwar darstellbar, nicht aber kann mit ihnen innerhalb dieses Systems auch ge­

rechnet werden. Dazu bedürfte es eines gegenständlichen Hilfsmittels, eines Abakus oder eines Rechenbrettes. Anders unser dezimales Posi­

tionssystem: Hier fallen Zahlensprache und Recheninstrument zusam­

men. Wo immer ein Zeichensystem so aufgebaut ist, daß es nicht nur dazu dient, gewisse Gegenstände darzustellen, sondern zugleich dazu dient, mit diesen Gegenständen symbolisch zu operieren, da haben wir uns einer Sprache als einer Technik, genauer: als einer symbolischen Maschine be­

dient.

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Die Säkularisierung der Symbole: Ein Projekt der Neuzeit. . . 21 Eine symbolische Maschine besteht aus einem begrenzten Vorrat an Zeichen, sowie Regeln zur Bildung und Umbildung von Zeichenreihen.

Sie ist also keine physische Apparatur, sondern steht nur auf dem Papier.

Eine symbolische Maschine ist ein Zeichensystem zur Produktion von Schriftbildern, also ein Formalismus. Sobald es möglich wird, irgendein Problem innerhalb eines wohldefinierten Bereiches von Gegenständen in der Sprache eines Zeichensystems zu formulieren, das als symbolische Maschine zum Einsatz kommt, da ist die Lösung durch eine rein mechani­

sche Manipulation von Zeichen auf dem Papier zu finden.

Der Kunstgriff symbolischer Maschinen ist es, daß das Umgehen mit den Zeichen nach Regeln geschieht, die keinen Bezug mehr nehmen auf die Gegenstände, für welche die Zeichen eigentlich stehen, auf die Zei­

chenbedeutung also. Wenn etwa das kleine Einsundeins und Einmaleins als eine schriftliche Liste vorliegt, wird es möglich, im dezimalen Posi­

tionssystem jede beliebige Multiplikationsaufgabe zu lösen, ohne daß ein Sich-in-den-Zahlen-auskennen noch gar ein Zählen-können überhaupt vorauszusetzen wäre. Die Zeichenmanipulation wird ablösbar von der Zeicheninterpretation. Durch den Einsatz symbolischer Maschinen kön­

nen Akte des Denkens so aufbereitet werden, daß zu ihrer Ausführung eine Person mit Bewußtsein nicht mehr vorauszusetzen ist.

Das dezimale Positionssystem ist eine der frühesten symbolischen Ma­

schinen. Als es im Europa des 14. und 15. Jahrhunderts allmählich das römische Ziffernsystem verdrängte und an die Stelle des Brettrechnens das schriftliche Rechnen trat, da avancierte der Gebrauch einer symboli­

schen Maschine zu einer Kulturtechnik. Diese Kulturtechnik verschrifteter Symboloperationen liefert der neuzeitlichen Wissenschaft zugleich ein Prägemuster für den ihr eigenen Typus instrumenteller Rationalität. Es geht um die Einführung und Nutzung von Kalkülen in den Wissenschaften des 16. und 17. Jahrhunderts, von denen uns die Erfindung und der Sie­

geszug der mathematischen Formel beredtes Zeugnis ablegt.

Die Kalkülisierung geistiger Tätigkeit bewirkt eine Egalisierung des Zuganges zur Erkenntnis. Vor der Entwicklung des Buchstabenkalküls der Algebra durch Frangois Vieta im 16. Jahrhundert (Viete 1970, S. I, 1-12) blieb die Fähigkeit, komplizierte Gleichungen zu lösen, strenggehütetes Geheimnis einer kleinen Gruppe Mathematiker, die in Wettkämpfen und

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22 Krämer

Jahrmärkten ihre an die Alchemie gemahnende okkulte Kunst einem staunenden Publikum nur allzu gerne vorführten (Klein 1936, S. 122-235).

Erst nach der Einführung des Buchstabenkalküls wird es möglich, das al­

gebraische Regelwissen auf allgemeingültige Weise zu notieren und damit auch lehr- und lernbar zu machen. Und als Leibniz im 17. Jahrhundert sei­

nen Infinitesimalkalkül erfand (Heinekamp 1986), da beendete er eine auf Archimedes zurückgehende elitäre Tradition der Infinitesimalmathe­

matik, bei der das Umgehen mit unendlichen Größen nur einem kleinen Kreis genialer Mathematiker Vorbehalten blieb. Mit Leibnizens Kalkül wurde die Infinitesimalrechnung zum Schulstoff, den wir als Integrieren und Differenzieren auch heute noch lernen.

Doch hat diese Egalisierung intellektueller Leistungen ihren Preis. Es ist dies die Aufspaltung des Wissens in ein Know-how und ein Know-that:

Im Kalkül wird das Wissen, wie ein Verfahren durchzuführen sei, abgelöst von dem Wissen, mit was dabei eigentlich verfahren werde und vor allem:

warum dieses Verfahren überhaupt gültig sei. Daß die Manipulation der Zeichen abgetrennt werden kann von deren Interpretation, daß die Kom­

petenz zur effizienten Durchführung eines Verfahrens gewährleistet ist unabhängig von der Kompetenz zu seiner Rechtfertigung, wird zur Signa­

tur des neuzeitlichen Geistes. Diese Signatur aber ist das Markenzeichen der symbolischen Maschine. Mit der Nutzung symbolischer Maschinen beim Wissenserwerb avanciert das vom Know-that abgespaltene Know- how zum universalen Rationalitätstypus. Dies ist Kunstgriff und Kern der neuzeitlichen instrumentellen Vernunft.

4. Der verschriftete Diskurs ist das ureigenste Feld der abendländischen Ratio. Dies gilt für die Entstehung von Wissenschaft im antiken Griechen­

land, die aufs engste liiert ist mit dem phonetischen Alphabet (Havelock 1982). Dies gilt auch für die neuzeitliche Wissenschaft, die basiert auf der Erfindung eines völlig neuen Types von Schrift, den ich - in Absetzung zur phonetischen Schrift - »operative Schrift« nennen möchte. In der operati­

ven Schrift wird die Schrift autonom gegenüber den Vorgaben des münd­

lichen Wortes. Operative Schriften sind graphische Hervorbringungen sui generis, die dann allenfalls ver-sprachlicht werden können.

Sprachen können also erst dann als symbolische Maschinen zum Ein­

satz gelangen, wenn sie den Charakter, Sprache im buchstäblichen Sinne

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Die Säkularisierung der Symbole: Ein Projekt der Neuzeit. . . 23 zu sein, gerade verloren haben. Eine formale Sprache bleibt Sprache al­

lenfalls in einem metaphorischen Sinn: In ihr können wir zwar vieles no­

tieren, nicht aber mehr uns verständigen.

Mit ihrer Ablösung vom mündlichen Wort und damit der natürlichen Sprache, wird die operative Schrift zur Inkarnation der Artifizialität der Zeichen. Die Symbole, die wir uns in symbolischen Maschinen dienstbar machen, werden nicht vorgefunden, sondern erzeugt. Unermüdlich betont Leibniz, daß als Ariadnefaden des Denkens allein die künstlichen Symbo­

le, nicht aber die natürlichen Sprachen geeignet seien (Heinekamp 1977, S. 257 ff.). Und Versuche zur Ausarbeitung einer künstlichen Universal­

schrift bilden geradezu eine intellektuelle Lieblingsbeschäftigung des 16.

und 17. Jahrhunderts (Cohen 1954).

D er Machbarkeit operativer Symbolsysteme korrespondiert die Viel­

falt möglicher Codierungen. Was immer in einem bestimmten Kalkül an­

geschrieben wird, kann auch mit Hilfe eines auf andere Weise aufgebau­

ten Kalküls ausgedrückt werden. Denn in Kalkülen sind die Zeichen redu­

ziert auf ihre Funktion, bloße Bauelemente von Musterbildern zu sein. In dieser Funktion aber sind sie prinzipiell ersetzbar geworden. So eben, wie Leibniz dem Dezimalsystem ein Dualsystem zur Seite stellen kann, in wel­

chem der Schematismus des Rechnens zu noch höherer Konsequenz ver­

dichtet ist.

Mit der Erfindung operativer Schriften sind die Zeichen zu Objekten geworden, die künstlich hergestellt und manipuliert werden können, nicht anders denn jedes x-beliebige produzierte Ding. An der Schwelle zur Neu­

zeit entdeckt der Mensch sich als Ingenieur seiner Bezeichnungssysteme.

Damit aber ist ein wichtiger Meilenstein gesetzt auf dem langen Weg der abendländischen Säkularisierung der Symbole (Krämer voraussichtlich 1991).

5. Folge der Herstellbarkeit und Austauschbarkeit der Symbole ist eine Lockerung in den Banden, welche die Zeichen mit dem verknüpfen, was sie bezeichnen. Noch in der griechischen Antike gab Platons Verhältnis von Urbild und Abbild das Modell ab für die Art und Weise, in der die Zeichen sich beziehen auf Gegenstände. Gegenüber den wirklichen Ge­

genständen - den Ideen - blieben die Zeichen niederen Ranges, bloße Ab­

breviatur dessen, was sie bezeichneten (Platon: Politeia, S. 509b ff). Und

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24 Krämer

zur höchsten Form des Wissens - dies noch als Tenor von Platons Schrift­

lichkeitskritik - wird ein Wissen, das über alle Zeichen hinaus seiner G e­

genstände auf unmittelbare Weise ansichtig und einsichtig wird.

Eben hierin nun kündigt in der Neuzeit ein Wandel sich an. Für Leib­

niz bleibt die intuitive Erkenntnis, die der vermittelnden Funktion der Zeichen nicht bedarf, alleine Gott Vorbehalten (Leibniz 1966, S. 22-30).

Der Mensch ist in der Endlichkeit seines Verstandes unabdingbar ange­

wiesen auf den Ariadnefaden der Symbole. Wir können uns die Gegen­

stände des Denkens überhaupt nicht mehr anders vergegenwärtigen, denn im Medium symbolischer Repräsentation. Es gibt keinen symbolfreien Zugang zur Welt des Erkennbaren. Die Zeichenkunst wird damit zu einer Technik der Kompensation der natürlichen Schranken der Vernunft.

Das aber hat Folgen für das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Symbol und symbolisiertem Gegenstand. Nicht länger gehen die Gegenstände den sie repräsentierenden Zeichen voraus, wie die Urbilder ihren Abbildern.

Vielmehr geben die Strukturen der Zeichensysteme vor, welche Merkma­

le wir den Gegenständen des wissenschaftlichen Diskurses überhaupt zu­

schreiben können. Radikaler noch: die Konsistenz der symbolischen R e­

präsentation wird zu einem Kriterium für die Existenz des repräsentierten Gegenstandes. So wie in Descartes’ Analytischer Geometrie die algebra­

ische Beschreibbarkeit einer Kurve zu einem Kriterium wird dafür, daß diese Kurve als Gegenstand der wissenschaftlichen Mathematik über­

haupt zugelassen werden kann (Descartes 1981). Oder wie bei Leibniz, der auf der Suche nach einem Unterscheidungsmerkmal zwischen mögli­

chen und unmöglichen Dingen, wie zum Beispiel der größten Zahl oder der schnellsten Bewegung, zu der Einsicht gelangt, daß die syntaktische Konsistenz symbolischer Ausdrücke dienlich sei als ein Kriterium für die Kohärenz der Begriffe, die in diesen Ausdrücken zur Darstellung gelan­

gen (Leibniz 1965).

Innerhalb der nicht-empirischen neuzeitlichen Wissenschaften wird al­

so die Herstellbarkeit durch eine symbolische Maschine zu einem Kriteri­

um für die Objektivität ihrer Gegenstände. Nicht anders denn die Repro­

duzierbarkeit im Experiment innerhalb der empirischen Wissenschaften zu einem Kriterium dafür wird, welche Gegenstände als ihr Untersu­

chungsobjekt überhaupt zugelassen sind.

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Die Säkularisierung der Symbole: Ein Projekt der Neuzeit. . . 25

6. Doch so sehr auch das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Zeichen und bezeichnetem Gegenstand in der neuzeitlichen Wissenschaft eine Umkeh­

rung erfährt: Die Demarkationslinie der symbolischen Differenz bleibt dabei unangetastet. An dieser Linie scheidet sich das Reich der bloßen Zeichen von der Welt der eigentlichen Gegenstände. Im neuzeitlichen Denken bleiben die Zeichen stets Stellvertreter für etwas, das selbst nicht mehr semiotischer Natur ist. Die Erfindung symbolischer Maschinen wur­

zelte ja gerade in der Einsicht, daß ein Zeichensystem operativ genutzt werden kann, eben weil es seine Funktion bewahrt, einen Bereich von Ge­

genständen symbolisch zu vertreten. Die Bezugnahme auf eine vor-symbo- lische Wirklichkeit bleibt die selbstverständliche Voraussetzung der intel­

lektuellen Nutzung symbolischer Maschinen.

Das Festhalten an der symbolischen Differenz und die Überzeugung von der einen, der universalen Methodik des Verstandes - das sind die Axiome, mit denen die instrumentelle Vernunft der Neuzeit sich buchsta­

bieren läßt. In dieser Axiomatik vollzieht sich im 20. Jahrhundert ein Wandel, welcher dann jene Mentalität des Denkens befördern wird, die wir mit der »Modernen« assoziieren. Wieder hat dieser Wandel zu tun mit symbolischen Maschinen. Genauer: mit dem Computer als dem universel­

len Simulator aller möglichen symbolischen Maschinen.

7. Mit »Maschine« assoziieren wir gewöhnlich einen Mechanismus, der ein wohlspezifiziertes, determiniertes Verhalten als Funktion seiner Ein­

gabe erzeugt. Nun unterläuft der Computer die Grenzen dieser determini­

stischen Maschinenkonzeption: Seine Eingabe ist selbst noch einmal auf­

gespalten in ein Programm und in die Daten. Durch die Variabilität der Programme tritt an die Stelle der einen wohlspezifizierten Funktion auf die hin eine Maschine konstruiert ist, jede mögliche Funktion, soweit sie berechenbar ist, soweit also für sie ein Programm aufgestellt werden kann.

Der Computer wird dadurch zu einer universalen Maschine.

Nun sind Programme nichts anderes als codierte Beschreibungen spe­

zieller Maschinen. Indem der Computer ein Programm abarbeitet, erzeugt er ein Verhalten, welches der im Programm codierten Maschine formal äquivalent ist. Das aber heißt: der Computer gewinnt seine Universalität kraft der Fähigkeit, in Abhängigkeit von dem eingegebenen Programm je­

de mögliche spezielle Maschine zu simulieren.

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26 Krämer

Auf das Simulieren kommt es hier an. Die Simulation eines Sturmes wird die Papierseiten nicht vom Schreibtisch fegen und die perfekteste Simulation einer Eismaschine kann das Dessert für das Abendessen nicht bereitstellen. Der Computer, der eine spezielle Maschine simuliert, er­

zeugt also Beschreibungen des Verhaltens dieser Maschine. Er produziert nicht wirklich die Zustände dieser speziellen Maschine, sondern durch­

läuft diese nur symbolisch. Er bewegt sich ausnahmslos in der Welt der Zeichen, in einer Welt also, die durch die Demarkationslinie der symboli­

schen Differenz fest umrissen scheint.

Wie aber verhält es sich, wenn ein Computer nicht Stürme und Eisma­

schinen, sondern Rechnungen, Deduktionen und Beweise zu simulieren hat? Die symbolische Repräsentation einer Rechnung bleibt eine Rech­

nung, die Codierung einer Sprache, einer Deduktion, eines Beweises sind immer noch eine Sprache, eine Deduktion, ein Beweis. Sobald also für den Vorgang, der durch den Computer simuliert wird, selbst schon das Operieren in einem symbolischen Medium konstitutiv ist, gerät die Tren­

nungslinie der symbolischen Differenz ins Schwimmen. Wir können das auch so sagen: Sobald die spezielle Maschine, die ein Computer zu simu­

lieren hat, ihrerseits als eine symbolische Maschine definiert ist, verwan­

delt sich der Computer, der das entsprechende Programm abarbeitet, rea­

liter in eben diese Maschine. Der Computer ist eine Apparatur, die sich in jede beliebige symbolische Maschine faktisch transformieren kann.

Auf die Möglichkeit einer solchen Maschine stieß Alan Turing in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts (Turing 1936/37). Auf der Suche nach einer mathematische Präzisierung des intuitiven Begriffes Algorith­

mus, gelangte er zu einem Formalismus, der dann als »Turingmaschine«

bekannt wurde. Die Turingmaschine basiert auf der Idee einer Äquivalenz zwischen einer Symbolmanipulation und der Operation einer Maschine.

Wird nämlich die Symbolmanipulation in die Elementarschritte des Be­

schriftens, Identifizierens und Löschens von Symbolen auf Papier zerlegt, und wird eine Maschine ausgestattet mit einer zentralen Verarbeitungs­

einheit, dem Lese- und Schreibkopf, sowie einem passiven Speicher, dem Rechenband, dann kann diese Maschine in einer streng determinierten Folge von Schritten die Symbolmanipulation ausführen. Diese Schritte können niedergeschrieben werden in Gestalt einer zweidimensionalen

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Die Säkularisierung der Symbole: Ein Projekt der Neuzeit. . . 27 Matrix, der sogenannten Turingtafel. Eine Turingtafel ist die mathemati­

sche Präzisierung unseres intuitiven Begriffes »symbolische Maschine«.

Mit dem Formalismus seiner Turingmaschine verknüpft Turing eine These und einen Beweis. Seine These sagt aus, daß für jedes formale Sy­

stem eine äquivalente Turingmaschine existiere. Sein Beweis zeigt, daß es universale Turingmaschinen gibt, die jede andere Turingmaschine simulie­

ren können. Im Schnittpunkt dieser beiden Gedanken, also der Idee einer formalen Äquivalenz von Symbolsystem und Maschine und der Idee einer Universalität als universelle Simulierbarkeit, steht der Computer als deren gerätetechnische Realisation. Dieser Schnittpunkt bildet ein Gravitations­

feld aus, das so divergierende Richtungen der zeitgenössischen Diskussion wie die an der Leitidee informationsverarbeitender Systeme orientierten Wissenschaften einerseits und die postmodernen Differenz- und Indiffe­

renzdiskurse andererseits als Denkbahnen aufeinander bezogen sein läßt, die von eben diesem Gravitationszentrum zusammengehalten werden.

8. In der Äquivalenz von Formalisierbarkeit und Mechanisierbarkeit ist eine Statusänderung der Zeichen angelegt. In Turings Formalismus dient ein symbolisches System nicht mehr als bloßes Medium zur Beschreibung von etwas, sondern es ist zugleich das, was es beschreibt: Eine Turing-Ta- fel symbolisiert nicht eine Maschine, sondern sie ist eine Maschine. Die Zeichen verharren nicht in der bloßen Darstellung von Realität, sondern erlangen selbst den Status des Realen, sozusagen: ontologischen Rang.

Die Formalität - im neuzeitlichen Rationalismus noch als Bedingung und Charakteristikum von Erkenntnisprozessen proklamiert - wird nun zur Auszeichnung des Wirklichen selbst. Der Mechanismus der symboli­

schen Maschine avanciert zum Aufbauprinzip unserer sprachlichen, unse­

rer psychologischen und geistigen Realität. Wie anders könnte Chomskys Konzept einer generativen Grammatik verstanden werden, als so, daß die grammatische Kompetenz der Sprecher ausgerichtet wird am Vorbild des Regelwerks einer syntaktischen Maschine? Und wie anders kann der An­

satz der kognitiven Psychologie, das Denken als Informationsverarbeitung zu fassen, interpretiert werden, denn so, daß dann die Architektur des Computers zum faktischen Bauplan des Mentalen avanciert (Habel/Kan- negießer/Strube 1990). Und wenn die Annahme, daß das formale Operie­

ren mit Symbolen eine notwendige und zugleich hinreichende Bedingung

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28 Krämer

von Intelligenz sei, zum Credo der Künstlichen Intelligenz Forschung wird: Ist das anders zu deuten, denn als Versuch, die formale Rationalität des Symbolgebrauches zum ontologischen Charakteristikum von Geist überhaupt zu verallgemeinern (Newell/Simon 1985)?

Wo aber Programme als Theorien, die Computersimulation als Erklä­

rung für das, was simuliert wird, gelten, scheint da nicht der Rationalitäts­

typus der instrumenteilen Vernunft noch einmal den Universalschlüssel zum Refugium des Erkennbaren abzugeben?

Nur: Wer diesen Schlüssel besitzt, dem ist zugleich das Schloß abhan­

den gekommen, welches die Welt der Zeichen von der Welt des Bezeich­

neten abriegeln soll. Für Leibniz blieben die Operationen der symbolisch verfahrenden, der berechnenden Vernunft Kompensation für den Verlust einer intuitiven Erkenntnisfähigkeit, welche allein das Wirkliche in seiner zeichenunabhängigen Gestalt zu erfassen vermochte. Wenn dies auch Gott Vorbehalten war, so bewahrte sich doch die Idee einer Bezugnahme des Denkens auf etwas, das selbst nicht mehr Zeichen ist. Der Verlust Gottes ist zugleich der Verlust des Glaubens an die eine, die einheitliche, die zeichenunabhängige Wirklichkeit. Indem unsere Sprache, unser Den­

ken, unsere Gesellschaft, letztlich wir selbst, als Systeme von Informa­

tionsverarbeitung und das heißt als symbolische Maschinen konzipiert werden, ist die Ontologisierung der Zeichen auf die Spitze getrieben. Die Zeichen geraten in einen Zustand, in welchem die Realität als ihr Ande­

res, ihr Original und ihr Vorbild sich verflüchtigt.

Damit finden wir uns wieder auf einer anderen Bahn der zeitgenössi­

schen Reflexion, die, so sehr sie sich absetzt von den analytischen An­

strengungen des »linguistic turns« und der Systemtheorie der Informa­

tionsverarbeitung, gleichwohl auf jenes gemeinsame Gravitationsfeld be­

zogen bleibt, in dessen Zentrum die Turingmaschine und der Computer stehen.

Mit Turings Idee, Universalität zu sichern durch Simulierbarkeit, bür­

gen die Zeichen nicht länger für die symbolische Differenz, sondern stif­

ten formale Äquivalenz. Wo die Universalität gewährleistet wird durch die bloße Mannigfaltigkeit von Simulationen, da entpuppt die Vielfalt sich leicht als das unbestimmte Spiel der Differenz, da ihre Bindungen an die

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Die Säkularisierung der Symbole: Ein Projekt der Neuzeit. . . 29 eine vorausgesetzte Wirklichkeit als Kristallisationsform aller definiten Differenz verloren gegangen sind.

Da ist zum Beispiel Deleuze’s Idee der freien Differenz, welche die klassischen Unterscheidungsmerkmale von Abbildung, Ähnlichkeit und Analogie hinter sich gelassen habe (Deleuze 1968). Und da ist Derridas Versuch, die Bewegung der Differenz selbst als eine urtümliche Konstitu­

tion von Sinn vor aller metaphysischen Zuschreibung von Bedeutung aus­

zumachen (Derrida 1972). Sind das nicht alles Variationen zu jenem The­

ma der Aufhebung der symbolischen Differenz zwischen Zeichen und Be­

zeichnetem, welches die Schwelle markiert, an der sich die moderne Men­

talität von ihrem neuzeitlichen Vorläufer abzusetzen beginnt? Es ist ja ge­

rade jenes freie Flottieren der Zeichen, die nicht mehr austauschbar sind gegen das Reale, um die es Baudriallard zu tun ist (Baudrillard 1982). In der die äquivalenzstiftende Funktion der Zeichen ausmündet in einer In­

differenz, in welcher die Unterschiede zwischen Simulation und Simulier­

tem hinfällig werden. Die Baudriallard mit seinem Begriff der »Agonie des Realen« einzufangen sucht, mit dem er jenen Zustand meint, in dem die Realität ihre Gegeninstanzen verloren hat, weil sie von den Beschrei­

bungen, den Deutungen und den Abbildungen nicht mehr unterschieden werden kann (Baudrillard 1978).

9. Die Physiognomie des neuzeitlichen Geistes an der Schwelle zum 17.

Jahrhundert und die Signatur der Moderne in unserem Jahrhundert un­

terscheiden sich gerade durch den Verlust der Überzeugung, daß die Sym­

bole Bezug nähmen auf eine einheitliche, ihnen vorgängige außersymboli­

sche Wirklichkeit. Diese Verlusterfahrung wird in dem, was ich hier äußerst vergröbernd den »angelsächsischen« und den »französischen«

Diskurs nennen möchte, auf jeweils unterschiedliche Weise thematisiert.

Beide Male geht es darum, daß die Zeichen die Rolle bloßer Beschrei­

bungssysteme für das, um was es »in Wirklichkeit gehe«, hinter sich gelas­

sen haben und selbst zur Wirklichkeit sui generis werden. Im »angelsächsi­

schen Diskurs« schlägt sich dies nieder in der Nobilitierung des Formalen - bisher ein Merkmal ausschließlich von Beschreibungssystemen - zum Kernbestand der Wirklichkeit selber werde. Im »französischen Diskurs«

reflektiert sich dies in der Annahme, daß die Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem überhaupt obsolet geworden sei. Daß beides Fernwir­

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30 Krämer

kungen eben jenes Umbruches in den semiotischen Grundlagen des Gei­

stes sind, den ich als Mechanisierung des Intellektes durch den Einsatz symbolischer Maschinen analysiert habe, dies - so hoffe ich - konnten mei­

ne Überlegungen deutlich machen.

Literatur

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Viete, F. (1970): »Opera mathematica«. In: F. Schooten (Hg.), Hildesheim, Bd. 1, S. 1- 12

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Die Säkularisierung des Kantischen Transzendentalsubjekts1

Arno Bamme

Beide Vorträge, sowohl der von Sybille Krämer als auch der von Bettina Heintz, stellen wichtige Bausteine dar auf dem Wege von einer Philoso­

phie zur Soziologie der Technik, genau genommen, zu einer Soziologie des Computers. Meine Aufgabe lautete, ein Korreferat zum Beitrag von Sybille Krämer zu verfassen. Ich habe mich dieser Aufgabe wie folgt entle­

digt: Ich habe ihre Argumentation zu vier Thesen verdichtet; ich habe die von ihr behandelte Thematik inhaltlich etwas variiert, und ich habe schließlich den Versuch einer soziologischen Reformulierung unternom­

men. Dafür wurden mir fünf Minuten zur Verfügung gestellt. Ich gestehe, bei der inhaltlichen Substanz des Beitrages von Sybille Krämer ist das in dieser Zeitspanne nicht machbar. Man möge mir zehn Minuten zubilligen.

Meine erste These lautet: Das Kapitel der »Technik als Rationalitäts­

typus der Moderne« ist noch lange nicht zu Ende geschrieben. Im Gegen­

teil. Jetzt geht es erst richtig los. In ihm äußert sich die Langzeitwirkung eines Umbruchs in den symbolischen Grundlagen des Denkens, eine Langzeitwirkung, die, soweit wir wissen, ihren Ursprung bei den Griechen des Altertums nahm. Für die Ausprägung unterschiedlicher Wissen­

schaftstypen wurde wichtig der Unterschied von phonetischer und typogra­

phischer bzw. operativer Schrift, wie Sybille Krämer neuerdings formuliert.

Ich variiere das Thema und interpretiere: Was wir gegenwärtig erleben, ist nicht so sehr die Aufspaltung menschlichen Bewußtseins in reines Den­

ken und empirisches Bewußtsein, sondern die Implementierung von Ele­

menten reinen Denkens auf Maschinen. Daraus ergeben sich für den So­

ziologen zwei zentrale Fragestellungen:

1 Für Hinweise, Beratung und Kritik habe ich Peter Heintel (Klagenfurt) zu danken.

Referenzen

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