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Kommentar zu:

»Die Säkularisierung der Symbole: Ein Projekt der Neuzeit und seine (post) modernen Folgen«

von Sybille Krämer Ingo Braun

Im folgenden möchte ich drei Aspekte des Vortrags von Sybille Krämer kritisch unter die Lupe nehmen, und zwar in bezug auf:

- die vorgenommene Korrelation zwischen »Moderne« und »Zeichenver­

weltlichung«, die keineswegs zwingend ist;

- die These, daß sich im Zuge der Durchsetzung moderner Computer­

techniken die Simulate von Wirklichkeit nicht mehr von der simulierten Wirklichkeit unterscheiden ließe, die mir zu »steil« und zudem für das Einfangen des Phänomens, auf den der Vortrag zielt, überflüssig zu sein scheint;

- die vertane Chance, den Kronzeugen (A. Turing) der und das zentrale Beweismittel (die »Turing-Maschine«) für die Zeichenverweltlichung soziologisch einzuführen.

1. Der epochen- bzw. zeitdiagnostische Wert, den Sybille Krämer der operativen Schrift als typischem Produkt (»Projekt«) der Neuzeit (der

»Moderne«) zubilligt, basiert, wenn ich recht sehe, auf der »entwicklungs­

logischen« Annahme, daß dem mündlichen Wort die phonetische Schrift gefolgt sei, von der sich dann wiederum die operative Schrift »abgelöst«

habe. In diesem Zusammenhang scheint mir zunächst die Gegenüberstel­

lung von phonetischer Schrift und »operativer« Schrift, mit der Sybille Krämer in erster Linie wohl numerische Notationssysteme meint, Verwir­

rung zu stiften. Auch die phonetische Schrift ist natürlich operativ, und zwar sowohl in dem strengen Sinn, daß sie einen eigenen Regelkorpus

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aufweist (etwa »Rechtschreiberegeln«), der es unter anderem erlaubt, sinnvolle Sätze zu schreiben, die noch nie gesprochen worden sind, als auch in dem trivalen Sinn, daß man natürlich auch Laute, ob nun schrift­

lich weiteroperiert oder nicht, als Kürzel für Operationen auffassen kann, die mit Hilfe von Mund, Zunge und Lunge vollzogen werden.

Aus Sicht einer Sozialwissenschaft, die selbstbewußt den »linguistic turn« unter Ausblendung aller »Spracharmen« und »konversationsun­

schicklichen« Handlungsweisen (Arbeiten, Fühlen, Essen und KA-PI-FU) vollzogen hat, mag nun einiges für die entwicklungslogische Abfolge von sprachlichem Laut, Lautschrift und Zahlenschrift sprechen. Folgt man der schriftgeschichtlichen und kryptologischen Forschung, muß man jedoch davon ausgehen, daß es sich bei den ersten nachweisbaren Schriften nicht um Repräsentationen von Lauten, sondern um Repräsentationen insbe­

sondere von Mengen und Maßen gehandelt hat. Zudem habe sich die Lautschrift aus einem höchst formalen System von Zähl- und Meßzeichen abgelöst und nicht umgekehrt, wie Sybille Krämer behauptet. Auf jeden Fall würde aber danach der Anbruch der Neuzeit ins vierte Jahrtausend vor Christi fallen - angesichts des Gegenwartszentrismus sozialwissen­

schaftlicher Modernisierungstheorien ein durchaus verfolgenswerter Ge­

danke.

Im Prinzip möglich, wenn auch unwahrscheinlich, könnte es sogar sein, daß für die frühen Zähl- und Meßzeichen zunächst einmal überhaupt kei­

ne sprachlichen Korrelate existiert haben. Dies verweist auf zwei weitver­

breitete, dennoch irreführende Umkehrschlüsse im Verhältnis von Spra­

che und Schrift. Aus der Tatsache, daß Sprache in Schrift abbildbar ist, läßt sich zum einen nicht folgern, daß Schriften in irgendeiner Form Spracheigenschaften aufweisen. Zum anderen ist damit keineswegs ausge­

schlossen, daß Schriften nicht-versprachlichte Wirklichkeiten repräsentie­

ren können. Bei numerischen Notationssystemen wären dies eben be­

stimmte Zähloperationen (etwa das Aufzählen oder Abzählen von Gegen­

ständen), bei musikalischen Notationssystemen ein bestimmter Umgang mit dem Musikinstrument. Von diesen Kurzschlüssen profitieren vor al­

lem die postmodernen Computermythen - so spricht alle Welt von Com­

putersprachen, obwohl sich die Computer wie die Menschen hartnäckig weigern, sie zu sprechen - ein Effekt, den letztlich wohl auch die Um­

»Kopierfahler« - Kommentar zu S. Krämer 39 gangssprache begünstigt, da in ihr zwischen »Schriftsprache« und »Sprach­

schrift« nicht unterschieden wird.

Während nun Sybille Krämer mehrfach betont, daß die »operative«

Schrift keinen Sprachcharakter (mehr) aufweise, nutzt sie die zweite Fol­

gerung, also den Schluß von der Abwesenheit versprachlichter Wirklich­

keitsbezüge auf die Abwesenheit von Wirklichkeitsbezügen überhaupt, als zentrales Argument zur Abgrenzung »symbolischer Maschinen« gegen­

über gegenständlichen Maschinenbegriffen. Dies ist mir unverständlich, gilt doch gerade in der französischen Kulturgeschichte und Philosophie die Differenz zwischen Schreiben und Sprechen (wie die zwischen ihren archetypischen Vorgängerinnen dem Zeichnen und Gestikulieren) als Pa­

radebeispiel für die Unterscheidung von technischem und nicht-techni- schem Handeln: ein Handeln, das über außerkörperliche Medien, insofern über gegenständliche Apparaturen (hier Bleistift und Papier) realisiert wird, in Abgrenzung von einem Handeln, das über den menschlichen Kör­

per (hier Zunge und Mund) realisiert wird. Und es ist dieser Gegenständ­

lichkeitsbezug, dem sich die unterschiedlichen, wenn auch nicht über­

schneidungsfreien Leistungsprofile von Schreiben und Sprechen verdan­

ken. Man denke hier etwa an die Konservierungsvorteile der Schrift - ein funktioneller Vorteil, der eben gerade darauf zurückzuführen ist, daß Schrift in einem »buchstäblichen« Sinne »nur« auf dem Papier (oder dem Bildschirm) existiert.

2. Was hat es nun mit der in abgewandelter Form von französischen Weltraumtechnikern übernommenen These auf sich, nach der Kopierma­

schinen GEMA-Gebühren zuständen? Fairer Weise sollte man davon aus­

gehen, daß mit der These, die Grenze zwischen Zeichen und Bezeichne­

tem kollabiere, nicht generell der Nutzen von Abbildrelationen (Reprä­

sentationsverfahren, Bezeichnungsoperationen) bestritten wird. Ich sehe nicht, wie man so etwas behaupten kann, ohne in irgendeiner Weise auf Abbildrelationen zurückzugreifen und sich der Unterscheidung von Zei­

chen (die »Säkularisierung der Symbole«) und Bezeichnetem (die »Mo­

derne«) zunutze zu machen. Zeichen bezeichnen immer etwas, und sei es nur das Nichts.1 Es kann hier also nur um eine relativierende Behauptung gehen, das heißt darum, daß ein näher zu bestimmendes Abbildungsver­

1 Vgl. B. Rotmann (1987): Signifying Nothing. The Semiotics of Zero. St. Martin

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fahren weniger als vom Zeitgeist angenommen oder weniger als andere Abbildungsverfahren leistet.

Akzeptiert man dies, läßt sich der von Sybille Krämer beschriebene Prozeß der Ablösung der Zeichen vom Bezeichneten relativ einfach als ein Verkettungsphänomen von Abbildungen »abbilden« und damit ganz unspektakulär als ein praktisches Handhabungsproblem rekursiv ver­

knüpfter Abbildungen begreifen. Bei einem Kopiervorgang von A auf B, dem ein zweiter Kopiervorgang von B auf C folgt, hat sich bereits die Ko­

pie C vom Original A abgelöst. Der »Kunstgriff« symbolischer Maschinen ist also ein höchst trivialer Vorgang: das C kann hier für die »Regeln« ste­

hen, nach denen mit B, den »Zeichen«, umgegangen wird, die A, die »Ge­

genstände«, bezeichnen. Intiutiv kann man natürlich A als Original von C erklären, formal, das heißt im Sinne des Kopierverfahrens, ist es lediglich B.

Speziell für die Sozialwissenschaften wird es interessant, wenn man das Spielchen weiter treibt, also lange Ketten bildet (Zeichen für Zeichen für Zeichen . . . ) oder aber, was auf dasselbe hinausläuft, viele Metaebe­

nen einzieht (Zeichen für das Operieren mit Zeichen für das Operieren mit Zeichen ...) . Wie bei der »Stillen Post« stellen sich hier sehr schnell praktische Probleme ein, seien diese nun kognitiver (»Komplexität«, Un­

übersichtlichkeit) oder materieller Art (»Kopierfehler«), die es schwierig oder gar unmöglich machen, vom Ende der Kette (der letzten Kopie) her ihren Anfang (das Ausgangsoriginal) zu »rekonstruieren«.

In einer technischen Sprache ließe sich damit das Ablösen der Zei­

chen vom Bezeichneten als Informationsverlust (datentechnisch), stören­

de Reibung (mechanisch), Verrauschen (akustisch) oder aber Verschmie­

ren (bildlich) von hochverketteten Abbildungsoperationen begreifen. Für Mathematiker käme dies dem Grundsatz gleich, daß formale Aussagesy­

steme (»Kalkülketten«) immer auch Probleme aufwerfen, die innerhalb des Systems nicht entscheidbar sind (Gödel). Ökonomen würden hier vom

»fallenden Grenznutzen« eines wildwuchernden Zeichengebrauchs spre­

chen.

Schließlich lassen sich durchaus auch viele der Tendenzen, die die So­

zialwissenschaften der modernen Gesellschaft attestieren, als Handha­

bungsprobleme hochverketter Abbildungsoperationen »abbilden«. Man

»Kopierfähler« - Kommentar zu S. Krämer 41 denke hier etwa an den Zerfall traditioneller Werte (die der »neuen U n­

übersichtlichkeit« Platz machen sollen), den man als Abriß von Überliefe­

rungsketten deuten könnte, an die einschlägigen Büro-, Medio- und Ex- pertokratiethesen, die sich als Rekonstruierbarkeitsprobleme verschach­

telter Regulierungs- und Bewertungsketten interpretieren lassen, oder einfach an die Hörner des Moses im Juliusgrabmal in Rom, die einem sprachlichen Kopierfehler angelastet werden (cornuta statt coronata).

Sozialwissenschaftliche Anknüpfungspunkte in einem vergleichbaren Sinne finden sich in dem Vortrag von Sybille Krämer leider nur wenig.

Eine Ausnahme bildet ihre These, nach der die formalen Symbolsysteme zur Egalisierung von Expertenwissen beitragen. Mir ist jedoch nicht klar, ob mit dieser These eine postmoderne Folge der Zeichenverweltlichung oder die Zeichenverweltlichung selbst angesprochen ist.

In jedem Fall wird an dieser Stelle deutlich, daß der Zeichenbegriff von Sybille Krämmer letztlich nicht mit dem Vorschlag in Deckung zu bringen ist, das Bezeichnen als simplen Kopiervorgang einzuführen. Wenn ich recht sehe, unterscheidet sie nämlich zwischen formalen Zeichen (im Vortrag mit dem lateinischen Begriff »Symbol« markiert), die nichts (mehr) bezeichnen, und nicht-formalen Zeichen (etwa phonetischen Schriftzeichen), die etwas bezeichnen. Im Sinne des »Kopieransatzes« hät­

te man es im ersten Falle mit einer formal unkorrekten bzw. gestörten Ab­

bildung zu tun (A auf C) im letzteren mit einer formalen bzw. funktionie­

renden Abbildung (A auf B, B auf C). Im »Kopieransatz« würde sich also das Zeichen zum Symbol wie 499 zu CCCCLXXXXIX verhalten.

Es macht nun in der Tat Sinn, Zeichen und Symbole auseinanderzu­

halten, jedoch nicht über die Unterscheidung von formal/nicht-formal, denn auch die Störungen hochverketteter Abbildungsvorgänge lassen sich formalisieren, absichtsvoll erzeugen und planmäßig einsetzen. Das Sym­

bolisieren und das Bezeichnen würden demnach zwei distinkten Klassen von Abbildrelationen zugehören, die zwar gleichermaßen formal sind, je­

doch Unterschiedliches leisten. Im einfachsten Falle würde man hierfür festlegen, daß bei Zeichenoperationen ein und nur ein Original (A auf B) zugelassen ist, wodurch sich zwar nur Zeichenketten bilden lassen, aller­

dings die Rekonstruierbarkeit der Verknüpfungen formal gewahrt bleibt.

Bei Symboloperationen könnte man dann zwei oder mehrere Originale

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(A oder B auf C) zulassen, wodurch netzartige Verknüpfungen ermöglicht werden, diese allerdings nicht mehr rekonstruierbar sind. Mit dieser einfa­

chen Festlegung sind bereits zwei intuitiv evidente Unterschiede von Zei­

chen und Symbolen formal abgebildet: die relativ große Abbildungs/Zex/Zw- lität der Symbole und die relativ große Abbildungs/rewe der Zeichen.2 * * * &

3. Mit dem Kunstgriff der Turingmaschine verhält es sich wie mit dem Kunstgriff symbolischer Maschinen, nur daß hier C für die »universelle Turingmaschine« steht, mit der verschiedene B’s, »spezielle Turingmaschi- nen«, beschrieben werden, die A, »formalen Aussagesysteme«, abbilden.

Hieran zeigt sich nun zweierlei. Zum einen verwendet Sybille Krämer an dieser Stelle plötzlich einen »realistischen«, auf Gegenständlichkeit ab­

stellenden Maschinenbegriff, insofern sie von der »im Computer realisier­

ten« Turingmaschine spricht. Turing selbst hat seine Turingmaschine si­

cher nicht als Anweisung zum Bau eines Computers verstanden, was man allein schon daran ablesen kann, daß der Bauplan seiner Maschine mit dem Endlosband einen Allquantor (»alle«, »keine«, »immer«, »nie«, »aus­

schließlich«; hier: »unendlich«) als tragendes Konstrukt ausweist - ein Bauteil, mit dem man außerhalb formaler Aussagensysteme nicht unge­

straft hantieren kann, wovon die Klagen der Kindergärtner zeugen, die in Massen bedruckten Computerpapiers zu ersticken drohen.

Zum anderen stellt sich die Frage, ob mit der Turingmaschine oder anderen Varianten des Berechenbarkeitsbeweises, die ja formalen Aussa­

gen über das noch nicht Berechnete darstellen, überhaupt Sinn machen.

Diese Frage ist nun meines Wissens auch und gerade unter Mathemati­

kern und Logikern umstritten - sie eröffnet damit einen genuin wissen­

schaftssoziologischen Zugang zur Turingmaschine. Daß ausgebuffte M athe­

matiker die Beweiskraft der Turingmaschine bezweifeln, belegt etwa die Chursch’sche Hypothese, nach der die Turing’sche Berechenbarkeit zu na­

2 Ähnliche Klassifizierungen finden sich in vielen Disziplinen. So unterscheidet man zum Beispiel in der Mathematik eindeutige und eineindeutige Funktionen, in der Physik statistische und deterministische Methoden, in den Sozialwissenschaften multikausale und monokausale Analysen, in der Logik die Morphismen und die Iso­

morphismen. Instruktiv ist zum Beispiel der Versuch von Calogero Benedetti, Zei­

chen und Symbol mit Hilfe der Matrixrechnung zu unterscheiden; vgl. C. Benedetti 1088): »Annahmen zu einem axiomatischen Verständnis von Zeichen und Symbol«.

In: C. Benedetti/U. Rauchfleisch (Hg.): Welt der Symbole. Göttingen: Vandenhoeck

& Ruprecht, S. 38-56.

»Kopierfähler« - Kommentar zu S. Krämer 43 iven bzw. intuitiven Berechenbarkeitsvorstellungen äquivalent sei. Sie ist nämlich bis heute eine Hypothese, also unbewiesen, geblieben. Zudem hat es offenbar vor wie nach Turing ähnliche »Berechenbarkeitsbeweise« ge­

geben (zum Beispiel in Form der sogenannten Gödelnummer). Vielleicht würde sich nach näherem sozialhistorischem Studium sogar herausteilen, daß für die Geschichte der »Formalwissenschaften« (Mathematik, Logik, Informatik, analytische Philosophie) derartige Selbstvergewisserungen über die Reichweite des Formalen nachgerade charakterisch sind und sie eben immer wieder durch den Traum vom »universellen Formalismus«

bzw. vom »reinen« Zeichen vorangetrieben wurden.

Als Berechenbarkeitsbeweis, den man in ein sozialwissenschaftliches Maschinenkonzept oder eine Theorie der Moderne einbauen könnte, nutzt hingegen die Turingmaschine wenig - in etwa soviel, wie der Nach­

weis der universellen Sprach- oder Beobachterabhängigkeit von Tatbe­

ständen, den sich Diskursphilosophen, Systemtheoretiker, Konstruktivi- sten und Dekonstruktivisten unermüdlich gegenseitig vorführen. Denn sie zeigen letztlich auch nur, daß man jedem Ding einen Namen geben kann und Namen lassen sich nun mal, ob nun von Baudrillard oder Luhmann, zu allenfalls fußschmeichelnden Wortflokaties verarbeiten.

Modernisierungsstrategien und Computerarchitekturen

Bettina Heintz

1. Einleitung

Zur selben Zeit, als Ferdinand Tönnies, Georg Simmel und Max Weber, um nur die bekanntesten Vertreter der ‘klassischen’ Soziologie zu erwäh­

nen, die zunehmende Rationalisierung zu einem zentralen Topos ihrer Gesellschaftstheorie machten, setzte sich in der Mathematik die Auffas­

sung durch, daß man das Betreiben von Mathematik reduzieren könne auf einen rein formalen Prozeß, der im wesentlichen darin bestehe, Zeichen­

ketten Schritt für Schritt umzuformen, nach klar spezifizierten Regeln und ohne Ansehung ihrer Bedeutung. Alan Turing hat diese formalistische Konzeption der Mathematik zuende gedacht und sie gleichzeitig radikali- siert: Jede Operation im Rahmen eines formalen Systems läßt sich im Prinzip auch von einer Maschine ausführen. Formalisierung und Mechani­

sierung sind bedeutungsäquivalente Begriffe. Was bei Turing noch eine rein symbolische Maschine war, ein mathematisches Modell, hat zehn Jah­

re später mit der Erfindung des Digitalcomputers konkrete Gestalt ange­

nommen. Alle Digitalcomputer, die seither entwickelt worden sind, und das gilt auch für die innovativen Computerarchitekturen der siebziger und achtziger Jahre, sind gleichermaßen gerätetechnische Realisierungen von Turings symbolischer Maschine. Denn trotz enormer Unterschiede, was ihre Bausteine und ihre Architektur anbelangt, haben sie einige Grund­

prinzipien gemeinsam, und es sind diese Grundprinzipien, die Turing als erster beschrieben hat.

Der folgende Beitrag ist ein zugegebenermaßen spekulativer Versuch, die Entwicklungsgeschichte des Computers - seine theoretische Konzep­

tion durch Alan Turing auf der einen und die Veränderungen seines ar­

chitektonischen Designs auf der andern Seite - an den sozialen Kontext

Modemisierungsstrategien und Computerarchitekturen 45 zurückzubinden. Theoretisch liegt dabei die Annahme zugrunde, daß die Entwicklung und Durchsetzung von theoretischen wie technischen Kon­

struktionen auf systematische Weise sozial konditioniert ist.1 Wie sich das

‘Soziale’ allerdings konkret fassen läßt, darüber besteht auch in der neue­

ren Wissenschaftssoziologie keine Einigkeit. Während etwa die ‘Edin­

burgh-School’ (Barnes/MacKenzie 1979, Bloor 1982) die sozialen Fakto­

ren auf soziale Interessen reduziert, macht sie Karin Knorr Cetina an ge­

sellschaftlichen Praktiken fest, die im Labor in Instrumente der Wissens­

erzeugung und - Validierung umgewandelt werden (Knorr Cetina 1988).

Damit sind die Optionen freilich noch keineswegs erschöpft. Als weitere Kandidaten bieten sich an: ‘Produktionsweise’, ‘historische Situation’, ‘Ge­

sellschaft’, ‘soziale Mobilität’, ‘soziale Prozesse (Konkurrenz, Konflikt usw.)’ etc. Dies ist nur als kleine Auswahl aus Mertons Liste möglicher Determinationsfaktoren (Merton 1985, S. 223).

Während diese Faktoren gewissermaßen als Selektoren wirken, die zwischen verschiedenen konkreten Wissensinhalten diskriminieren, läßt sich auf einer abstrakteren Ebene die Frage stellen, ob auch die Fähigkeit zu formalem Denken überhaupt in ähnlicher Weise sozial determiniert ist.

Für Simmel (1989) ist der geldvermittelte Tausch der entscheidende Fak­

tor, der die Herausbildung des ‘modernen’ Denkens erklärt, das in der neuzeitlichen Wissenschaft seine klarste Manifestation gefunden hat.

Geldvermittelter Tausch bedeutet Umwandlung qualitativer Größen in quantitative, Abstraktion von der konkreten Beschaffenheit der getausch­

ten Objekte, die Fähigkeit, subjektive Impulse zurückzudrängen zugunsten von »Langsicht« - Merkmale, die nach Simmel auch das moderne Denken prägen. Ähnlich wie das Geld »charakterlos« ist (S. 595) gegenüber der Art seiner Verwendung, ist die Logik eine Form, in die sich alle Inhalte gießen lassen, unbeschadet welche Konsequenz aus ihnen resultiert. Das Geld, so Simmel, »drückt sozusagen das reine Geschäft an der geschäfts­

mäßigen Behandlung der (Dinge) aus, wie die Logik die Begreiflichkeit an den begreiflichen Dingen darstellt« (S. 615).

Obschon Simmels Ausführungen über die Beziehung zwischen Geld­

wirtschaft und abstraktem Denken auf einer sehr allgemeinen Ebene an­

1 Vgl. zu diesem ‘strengen Programm’ der Wissenssoziologie ausführlicher Bloor (1976).

46 Heintz gesiedelt sind, haben sie mit dem Gegenstand, um den es hier geht, eini­

ges zu tun. Arno Bamme verknüpft den von Sybille Krämer beschriebenen Prozeß eines sukzessiven Auseinandertretens von Zeichenmanipulation und -interpretation mit der Kant’schen Unterscheidung zwischen apriori­

scher und empirischer Erkenntnis.2 Es ist das ‘reine Denken’, die formale Operation, die auf einer Maschine simulierbar ist. Wenn man die Ausbil­

dung des reinen Denkens, die zunehmende Auflösung der Beziehung zwi­

schen Zeichen und Referenzgegenstand, als historischen Prozeß begreift, stellt sich folglich die Frage nach den sozialen Konstellationen, die diesen Prozeß ermöglicht haben. Auf diese Frage geben Simmel (und Sohn-Re- thel, auf den sich Bamme bezieht) eine sehr ähnliche Antwort: Die Aus­

bildung des reinen Denkens ist an die Durchsetzung des geldvermittelten Tausches geknüpft (Simmel 1989, Sohn-Rethel 1985,1990).

Ich möchte im folgenden dieser (auch in den beiden anderen Korefe­

raten) vertretenen Generalthese eine sehr viel kleinmütigere entgegen­

stellen. Denn mit der These, daß Denkabstraktionen ihren Ursprung in Tauschabstraktionen haben, werden Differenzierungen aufgehoben, die, denke ich, zu beachten sind. Die Differenzierung beispielsweise zwischen einem formalen Denken, bei dem die Zeichen trotz aller Abstraktion im­

mer noch für ‘etwas’ stehen, und einem, wo die ‘symbolische Differenz’

(Krämer) aufgehoben ist. Oder ähnlich: die Differenzierung zwischen einer Auffassung von Mathematik, die ihr Fundament letztlich immer noch in der Anschauung verankert, und einer, in der die Beziehung zwi­

schen Zeichen und Bezeichnetem endgültig abgebrochen ist. Diese letzte Entwicklung beginnt sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts abzu­

zeichnen und wird im 20. Jahrhundert zu Ende geführt (vgl. dazu Volkert 1986, Mehrtens 1990). Anstatt allgemein zu fragen: Woher kommen die abstrakten Begriffe?, stellt sich hier sehr viel konkreter die Frage nach den Ursachen dieser ganz spezifischen Verschiebung im Zeichengebrauch.

Gibt es, anders ausgedrückt, einen Zusammenhang zwischen den sozialen Umbrüchen der Zeit und dem modernen Formalismus, so wie er von David Hilbert entwickelt, von Turing systematisiert (und mit dem ‘realen’

Computer praktisch gemacht wurde)? Und wie läßt sich das ‘Soziale’ in diesem Fall fassen?

2 Vgl. sein Koreferat zu Sybille Krämer in diesem Heft.

Modernisierungsstrategien und Computerarchitekturen 47 Auf diese beiden Fragen sollen die folgenden Ausführungen eine ver­

suchsweise Antwort geben. Ausgangspunkt ist dabei die Beobachtung, daß zwischen den Grundmerkmalen des modernen mathematischen Formalis­

mus und den Strukturelementen formaler Rationalisierung eine augenfäl­

lige Parallele besteht. In Turings Formalismus kristallisieren sich, das ist die erste These, die Grundprinzipien formaler Rationalisierung. Das heißt: Bevor der Computer theoretisch gedacht, technisch realisiert und praktisch eingesetzt werden konnte, mußte formale Rationalität zu einem bestimmenden Moment sozialer Wirklichkeit geworden sein (Ab­

schnitt 2).

Formale Rationalisierung ist eine der Antworten auf die Probleme, die durch die Moderne aufgeworfen wurden. Das entscheidend neue Mo­

ment der Moderne ist die zunehmende Diskrepanz zwischen Erfahrung und Erwartung und die sie begleitende Erfahrung einer Beschleunigung sozialen Wandels (vgl. Koselleck 1979). Die Tatsache, daß die Vergangen­

ment der Moderne ist die zunehmende Diskrepanz zwischen Erfahrung und Erwartung und die sie begleitende Erfahrung einer Beschleunigung sozialen Wandels (vgl. Koselleck 1979). Die Tatsache, daß die Vergangen­