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Kommentar zu:

»Organtransplantation und technisch vernetzte Systeme«

von Ingo Braun, Günter Feuerstein und Claudia von Grote-Janz Rainer Hohlfeld

Ich werde in meinem Kommentar drei Punkte herausgreifen:

1. möchte ich die im Beitrag beschriebenen Entwicklungstrends in der biomedizinischen Forschung in die Zukunft verlängern;

2. werde ich das System der Organtransplantation im Kontext der bio­

medizinischen Wissenschaft betrachten und

3. möchte ich das Eindringen der medizinisch-wissenschaftlichen Seman­

tik in die lebensweltliche Deutung von Tod, Leben, Körper - den Schlußabschnitt des Beitrages zuspitzend - als »Modernisierung der kannibalischen Ordnung« deuten.

1. Die Überwindung der Engpässe in der Organtransplantation durch embryonale Zellkulturen

Auch wenn durch weitere Verbesserung der Immunsupression die Ab­

stoßungsreaktionen weiter vermindert werden, bleiben Knappheit der Organe und Gewebeverträglichkeit die Schlüsselprobleme. Deswegen wird einer Entwicklung in Fachkreisen besondere Beachtung ge­

schenkt, die hier Abhilfe schaffen soll: die Züchtung von differenzie­

rungsfähigen Embryonalzellen in Gewebekultur. Dazu können - wie in Tierversuchen nachgewiesen - Embryonalzellen aus abgetriebenen Fö­

ten oder Retortenembryonen, die durch Reagenzglasbefruchtung ent­

stehen, verwendet werden. In Gewebekultur gezogen, können dann die noch nicht differenzierten und »unsterblichen« Zellen weiter vermehrt und für eine Transplantation vordifferenziert werden. Auf diese Weise stünden dann »Stammzellen« für Nieren-, Leber- und Nervengewebe

»Kannibalische Ware« - Kommentar zu Braun / Feuerstein / v. Grote- Janz 151 zur Verfügung. Abgesehen von ihrer permanenten Verfügbarkeit bö­

ten sie den Vorteil, je nach Alter und Differenzierungsgrad mehr oder weniger gewebeverträglich zu sein, da sich die für die Transplantatab­

stoßung verantwortlichen Zelloberflächenantigene noch nicht ausge­

prägt haben. Das Problem liegt hier wiederum im ethischen Dissens:

Um die Ausgangszeilen zu ernten, müssen »verbrauchende« Experi­

mente mit menschlichen Retortenembryonen gemacht werden, die in Deutschland durch das Embryonenschutzgesetz untersagt sind, da sie nach Auffassung des Gesetzgebers gegen Artikel 1 und 2 GG ver­

stoßen. Die weitestgehende Vision hatte auch hier schon 1983 der

»Vater« des ersten Retortenbabies, R.G. Edwards, der die Idee eines

»Embryosplitting« von Retortenembryonen ins Spiel brachte: Die eine Hälfte könne zum Embryotransfer in die Gebärmutter verwendet, die andere tiefkühlkonserviert werden, um daraus später für im Erwachse­

nenleben auftauchende Krankheiten und Verschleißerscheinungen Er­

satzgewebe und Organe zu regenerieren. Diese hätten dann eine voll­

ständige Gewebeverträglichkeit, da es sich ja - rein biologisch gesehen - um eineiige Zwillinge handeln würde. Die Gentechnologie kommt in der Transplantationsmedizin erst ins Spiel, wenn nicht Organe oder Zellen, sondern Gene ausgetauscht, eingeführt oder verpflanzt werden, wie das zum Beispiel bei der somatischen Gentherapie zur Heilung von genetisch bedingten Stoffwechselerkrankungen der Fall ist. Das erste Humanexperiment in diesem Bereich ist vor einigen Monaten genehmigt und gestartet worden. Und die Gentechnologie kommt ins Spiel, wenn die für eine Transplantation verwendeten Zellen vor der Übertragung selbst genetisch transformiert werden und damit eine neue Eigenschaft in den Körper des Empfängers transportieren. Auf diese Weise könnten zum Beispiel Bindegewebszellen, die einen Ner- venwachstumsfaktor tragen, in geschädigtes oder degeneriertes Ner­

vengewebe - wie etwa bei der Parkinsonschen Krankheit (Schüttelläh­

mung) - eingepflanzt werden, um an Ort und Stelle die Regeneration anzuregen oder Nervenzellen am Leben zu erhalten. Ein weiteres Bei­

spiel ist die Übertragung von Immunzellen, die den »Tumornekrose­

faktor« synthetisieren können und das Tumorwachstum im Körper ein­

dämmen sollen. Die letzten Experimente verweisen auf eine Entwick­

lung in der Gewebe- und Gentransplantation, die über den

klassisch-152 H ohlfeld

medizinischen Therapieauftrag hinausgeht: Der menschliche Körper erhält zusätzliche Eigenschaften, nämlich die Fähigkeit zur Synthese von zusätzlichen menschlichen Proteinen als »körpereigenen Wirkstof­

fen«. Begibt sich dieser Zweig der Zell- und Gentransplantation auf den Weg zum »human enhancement engineering«?

2. D er wissenschaftliche Kontext der Transplantationsmedizin:

das biomedizinische Modell

Sowohl als Zuhörer als auch Leser des Beitrages konnte ich mich des Eindruckes nicht erwehren, daß sich die Autorinnen so weit in das Netz »ihres « Systems hineinbegeben haben, daß sie dem »Kuß der Spinnenfrau« nahezu erliegen und die distanzierende Außenperspekti­

ve zu kurz kommen lassen. Was kann zum Status, zur Reputation der Transplantationsmedizin im Kontext der biomedizinischen Wissen­

schaften gesagt werden? Die fortgeschrittenen Transplantationsmedi­

zin ist in der medizinischen Community - abgesehen von ihrer ethi­

schen Problematik - auch wissenschaftlich-technisch umstritten. So kri­

tisiert zum Beispiel Lewis Thomas, der langjährige Direktor des Sloan- Ketterin-Memorial-Cancer-Center in New York und ein führender Vertreter der »Philosophie« biomedizinischer Forschung oder des

»biomedizinischen Modells«, «die Transplantationsmedizin als »medi­

zinische Halbtechnologie«:

«Hier geht es um das, was getan werden kann, wenn das Unglück bereits ge­

schehen ist, wenn wir uns darum bemühen müssen, die Zerstörungen im Ge­

folge von Krankheiten wettzumachen, in deren Ablauf wir nicht eingreifen können . . . Hervorragende Beispiele für diese Halbtechnologie sind in den letzten Jahren die Transplantation von Herzen, Nieren, Lebern und anderen Organen gewesen sowie die ebenfalls spektakulären Entwicklungen künstli­

cher Organe . . . Die Medien neigen dazu, jedes neue Verfahren solchen Typs als Durchbruch und therapeutischen Sieg darzustellen, statt als den Notbehelf, um den es sich in Wahrheit handelt.«

Er verweist darauf, daß es bisher kein klares wissenschaftliches Ver­

ständnis davon gibt, was eigentlich zur Zerstörung der Kapillargefäße in der Niere oder der Herzkranzgefäße führt. Wenn - so seine Leitidee - wirklich ein theoretisches Verständnis erreicht sei, was bei Herz­

krankheiten falsch laufe, müßte es möglich sein, die pathologische Entwicklung zu verhindern oder rückgängig zu machen. Dann könnte

»Kannibalische Ware« - Kommentar zu Braun / Feuerstein / v . Grote-Janz 153 auch das ganze »elektronische Spielzeug« wieder in die Ecke gestellt werden. Wenn wir noch einen Schritt weitergehen in der »Dezentrie­

rung« unseres Blickes und das biomedizinische Modell - auch in seiner ausgereiften »high tech«-Form - noch einmal in einem erweiterten Kontext betrachten, so ist auch dieses - zumindest was die Krankheiten der Industriezivilisation anbelangt- Gegenstand wissenschaftlicher Kri­

tik. Und kritisiert wird nicht das erreichte biotechnische Niveau, son­

dern die Unzulänglichkeit des Konzeptes: Die Definition des moleku­

laren Defektes könne nicht die Leidensgeschichte erklären, zu deren Verständnis zusätzliche Begriffe und Deutungsmuster notwendig seien, die den Rahmen des biomedizinischen Modells sprengten. »Der bio­

chemische Defekt ist nur ein Faktor unter vielen, deren komplexe In­

teraktion dann schließlich in aktiver Krankheit oder manifesten Leiden kulminieren kann.« Ein neues Modell für die Medizin müsse »inklu- siv«, nicht »exklusiv« angelegt sein und den Patienten, seinen sozialen Kontext sowie die Arztrolle und das gesellschaftliche und ökonomische System der Gesundheitsversorgung miteinbeziehen.

3. Die kannibalische Ware

Doch die Entwicklung in der Transplantationsmedizin verläuft in die Gegenrichtung: Die psychische und soziale Dimension von Leiden und die Inklusion der Selbstberichte der Patienten werden durch die Ma­

schinensprache medizinischer Expertensysteme und die Gesetze ge­

sellschaftlicher Waren- und Tauschverhältnisse verdrängt. Und diese Dynamik ist im Fortschrittsbegriff der modernen Medizin selbst ange­

legt. »Wenn ihr meiner Wissenschaft folgt, werdet ihr die Krankheiten und eines Tages auch den Tod überwinden«, hatte schon Descartes versprochen. Zeigen nun embryonale Stammzellkulturen, Organ- und Gewebetransplantationen und zellbiologische, biochemische und gene­

tische Prothesen den Weg in die Unsterblichkeit?

Zunächst einmal müssen reproduzierbare Bedingungen geschaffen werden, um den wissenschaftlichen Erfolg sicherer zu machen. Der Spender, der Empfänger, das Organ, das Gen muß identifiziert, nor­

miert, standardisiert, codiert und anonymisiert werden. Eigenart und Individualität gefährden den Erfolg. Der potentielle Organempfänger

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muß entsprechend seinem Lebensstil, seinen »Anfälligkeiten«, seinen Verschleißerscheinungen präpariert und biologisch vorreguliert wer­

den, um auf den Tag x seines Organempfanges vorbereitet zu sein.

Wird damit die Vortransplantationsphase zum Vorbote, Paradigma gar einer vorausschauenden, »prädiktiven« Medizin, einer »selbstde- nunziatorischen« Unterwerfung der Lebensplanung und Tagesgestal­

tung nach genetischen Kriterien und physiologischen Meßdaten? In Europa soll die Organspende »als belohntes Geschenk« attraktiv ge­

macht werden, in den USA wird in der »Bioethik« unter dem Motto

»My Body - My Property« dafür argumentiert, Eigentums- und Ver­

tragsverhältnisse auf Körperteile auszudehnen und in Bombay werden in zehn Kliniken armen Leuten Nieren zum Weiterverkauf an arabi­

sche oder europäische Länder entnommen. Die Reichen konsumieren die Armen, um weiterleben zu können. Kannibalische Ware. Für den Kritiker der »kannibalischen Ordnung« der Medizin findet hier eine Entwicklung ihren Abschluß, »in der die Ordnungen des Lebens im­

mer mehr Warencharakter annehmen. Ein neues Übel kündigt sich an:

Anormalität; eine andere Form der Heilung zeichnet sich ab: Substitu­

tion; ein anderer Heilkundiger übernimmt die Macht: die Prothese, die Kopie des normalisierten, kodifizierten, konsumierbaren Körpers.« Da dieser Charakter so offensichtlich, Kannibalismus jedoch mit den Prin­

zipien einer Zivilgesellschaft offensichtlich unverträglich ist, werden Ersatzmythen kreiert, um diesen Sachverhalt zu verleugnen: Die Or­

ganspende als »Akt der Nächstenliebe«, als »belohntes Geschenk« soll über den Warencharakter menschlicher Körperteile und -funktionen hinwegtäuschen und die gegenwärtige und zukünftige Praxis als

»ethisch« legitimieren. Das Ergebnis ist nicht eine neue »Rekombina­

tion« von gesellschaftlichen Deutungsmustern und eine »Pluralisie- rung« des Umgangs mit den Problemen der Transplantationsmedizin, wie die Autorinnen es interpretieren, sondern die »Kolonialisierung«

der lebensweltlichen Deutung von Körper, Leben und Tod durch die politische Semantik des medizinischen Fortschritts und die Gesetze der marktwirtschaftlichen Ordnung. Die letzte Metamorphose der kan­

nibalischen Ordnung ist ihre Modernisierung.