• Keine Ergebnisse gefunden

Kommentar zu:

»Technikentwicklung als soziales Experiment«

von Wolfgang Krohn, Ralf Herbold und Johannes Weyer Wolfgang Bonß, Rainer Hohlfeld und Regine Kollek

Im Rahmen eines Kurzkommentars ist es kaum möglich, die von Weyer/

Krohn/Herbold vorgelegten Ausführungen angemessen zu würdigen. So können wir nur auf einige Problemkomplexe eingehen, und auch diese lassen sich allenfalls anreißen. Darüber hinaus ist das Moment der Kritik in einer vielleicht nicht immer ausgewogenen Form in den Vordergrund zu stellen. Aber es geht schließlich um die Einleitung in eine Diskussion und nicht um eine Laudatio. Dies vorweggeschickt möchten wir kurz vier Punkte ansprechen:

1. die von W eyer/Krohn/Herbold vorgenommene Abgrenzung von Wis­

senschaft und Technik}

2. ihren Begriff der »Experimentiergesellschaft«',

3. die mit den Stichworten »under-cover-Experimente«, »Ausstieg« und

»offene Experimente« angesprochene Kategorisierung der Forschungs­

praktiken und ihrer Risiken sowie

4. das Votum für eine »pragmatische Lösung« des sogenannten Planungspa­

radoxons, das es in seiner analytischen Brauchbarkeit zu diskutieren gilt.

1. Zur Abgrenzung von Wissenschaft und Technik

In ihren Ausführungen argumentieren W eyer/Krohn/Herbold mit einem konsequent soziologisierten Technikbegriff, dem ein vergleichsweise kon­

ventioneller Wissenschaftsbegriff gegenübersteht. So wird für technische

»Riskante Forschungspraktiken« - Kommentar zu Hohlfeld / Krohn / Weyer 97 im Unterschied zu wissenschaftlichen Erfindungen behauptet, daß sie nicht allein »die Konstruktion eines Artefakts (seien), sondern der Ent­

wurf einer neuen Handlungsform« (S. 80). Ob eine solche Kontrastierung sinnvoll ist, läßt sich freilich bezweifeln. Denn auch wenn wissenschaftli­

che Artefakte, wie von Habermas (1973, S. 214) hervorgehoben, in be­

stimmter Hinsicht »handlungsentlastet« entstehen mögen, so verweisen sie als Innovationen stets konstitutiv auf die Erzeugung einer neuen Handlungsform, die für die außerwissenschaftliche Handhabung gleich­

sam rahmensetzend ist und bleibt. Dies gilt bereits für die klassische La­

borwissenschaft (vgl. Hohlfeld 1988, S. 64 ff.) und erst recht für die ins Zentrum gestellten Fallbeispiele. Denn auf den Airbus 320 oder auf die Mülldeponie Bielefeld-Brake läßt sich die von W eyer/Krohn/Herbold formulierte Grenzziehung zwischen Wissenschaft und Technik gerade nicht anwenden - handelt es sich doch hier um zwei Varianten einer hand­

lungsbezogenen Erkenntnisproduktion jenseits der Laborwissenschaft, die auf eine verwissenschaftlichte Technik ebenso verweist wie auf eine tech­

nisierte Wissenschaft. Typisch für eine derartige Erkenntnisproduktion ist zunächst, daß sie sich außerhalb des institutionell abgegrenzten, »akade­

mischen« Wissenschaftssystems vollzieht. Die im 19. Jahrhundert ausgebil­

dete Trennung von (Grundlagen-)Forschung und Anwendung wird dabei ebenso unterlaufen wie die für klassische Experimente konstitutive U nter­

stellung eines theoretischen und empirischen Containments. In einer theoretisch gehaltvollen Form läßt sich dieser Typus von Erkenntnispro­

duktion unseres Erachtens nur dann durchdringen, wenn einerseits Wis­

senschaft als eine auf bestimmte Ziele hin orientierte Handlungsform be­

griffen und andererseits die gleichzeitige Verkoppelung und Differenz zwischen wissenschaftlichen und technischen Handlungsformen im Be­

reich der Großtechnik selbst zum Thema gemacht wird. Großtechnische Experimente wären in diesem Zusammenhang in Anlehnung an ethnome- thodologische Konzeptionen (vgl. zum Beispiel Lynch/Livingstone/Gar- finkel 1983) als spezifische »Arenen« handlungsbezogener Erkenntnispro­

duktion zu begreifen. Vor dem Hintergrund eines eigenständigen, institu­

tionell abgesicherten Erwartungsrahmens wird in diesen »Arenen« die Grenze zwischen wissenschaftlichem Wissen und technischem Know-how keineswegs aufgehoben (vgl. auch Lenk 1982, S. 52 ff.). Aber sie stellt sich in zeitlicher wie in sozialer und sachlicher Hinsicht anders her als im aka­

98 Bonß / Hohlfeld / Kollek

demischen Wissenschaftsbetrieb, und zugleich nimmt die Beziehung zwi­

schen Wissenschaft und Technik als Verhältnis zwischen Theorie und Pra­

xis eine andere Gestalt an.

Daß großtechnische Experimente jenseits der Laborwissenschaft ab­

laufen und letztlich zur Produktion eines anderen Wissens führen, sehen W eyer/Krohn/Herbold durchaus. Allerdings - und hierin sehen wir eine entscheidende Verkürzung - reduzieren sie die hiermit einhergehenden Veränderungen auf die Seite der Technik, während die Seite der Wissen­

schaft gleichsam stillgestellt wird. Zu dieser »wissenschaftszentristischen«

Sichtweise paßt auch die These, daß allein technische Erfindungen, nicht jedoch wissenschaftliche Artefakte »durch ihre Implementation getestet werden« können. Die Rede von der technischen »Implementation«

scheint in diesem Zusammenhang aber grundsätzlich problematisch. Zwar werden großtechnische Unfälle wie das Challenger-Unglück oder die Ka­

tastrophe von Tschernobyl sehr häufig als mißlungene Implementationen beschrieben. Derartige Analysen sind jedoch eher Ex-Post-Rationalisie- rungen, die bei den einschlägigen Experten vielleicht deshalb so beliebt sind, weil sie die angebliche Sicherheit des wissenschaftlichen Wissens selbst nicht in Frage stellen. Demgegenüber ist mit Charles Perrow (1984) darauf hinzuweisen, daß sich die Praxis der Großtechnik in der Regel nicht als deduktive »Implementation« wissenschaftlicher Konstrukte voll­

zieht. Die das Konzept der Implementation kennzeichnenden Annahmen einer Praxis von »oben« nach »unten« und einer institutionell klar identi­

fizierbaren Grenze zwischen Wissenschafts- und Praxissystemen lassen sich somit nur begrenzt machen (vgl. Beck/Bonß 1989, S. 21). Statt von

»Implementation« sollte daher eher von einer »Vergesellschaftung« der Erkenntnisproduktion gesprochen werden - eine Akzentsetzung, die es überdies erlauben würde, die »nicht-wissenschaftlichen Aspekte« der »Im­

plementationsdiskurse« besser zu erfassen.

2. Was ist eine »Experimentiergesellschaft«?

Obwohl W eyer/Krohn/Herbold nicht unbedingt historisch oder evolu­

tionstheoretisch argumentieren, enthalten ihre Ausführungen implizite Unterstellungen zur wissenschaftlich-technischen Entwicklungsdynamik.

»Riskante Forschungspraktiken« - Kommentar zu Hohlfeld/K ro h n / Weyer 99 Ihren deutlichsten Ausdruck finden diese in der Kategorie der »Experi­

mentiergesellschaft«, die schon in einem früheren Aufsatz eingeführt wur­

de (vgl. Krohn/W eyer 1989, S. 349 f.), aber seither nicht unbedingt an analytischer Schärfe gewonnen hat. »Experimentiergesellschaft«, so W eyer/Krohn/Herbold, sei »eine Kategorie, die analog zu ‘kapitalistische Wirtschaftsgesellschaft’ und ‘politische Demokratie’ konstruiert ist und eine der - ineinander nicht überführbaren - Perspektiven bezeichnet, mit der die moderne Gesellschaft beschrieben werden kann« (S. 78). Es läßt sich sicherlich darüber streiten, ob hierdurch das Stichwort von der »Expe­

rimentiergesellschaft« nicht mit etwas zu viel Ansprüchen befrachtet wird.

Dies um so mehr, als sich Krohn/Weyer an anderer Stelle gegen »eine ex­

tensive Verwendung des Experimentbegriffs« wenden (Krohn/Weyer 1989, S. 356) und ihn relativ eng an das Geschäft des direkten oder indi­

rekten Hypothesentestens zu binden versuchen. In dieser engen Fassung kann er jedoch kaum zu einer gesellschaftstheoretischen Grundkategorie der »Moderne« erhoben werden, auch wenn die Herausbildung von expe­

rimentellen und Risikoorientierungen durchaus zur kulturellen Infrastruk­

tur bürgerlicher Vergesellschaftung gehört (vgl. Priddat 1990).

Sofern eine historische Unterfütterung des Stichworts von der Experi­

mentiergesellschaft fehlt, bleibt unklar, ab wann dieser Begriff für Weyer/

Krohn/Herbold empirisch gehaltvoll ist. Den wenigen Hinweisen nach zu urteilen, scheint er jedoch erst im 20. Jahrhundert bzw. auf der Ebene der

»Sekundärverwissenschaftlichung« relevant zu werden, nämlich dann, wenn »die Koppelung von Implementation und Invention in einer explizi­

ten und strategischen Weise« gelingt (S. 78). Erst unter dieser Vorausset­

zung, die auf ein Selbstreflexiv-Werden des experimentellen Handelns verweist, greifen die Prinzipien der experimentellen Überprüfung über die Grenzen des institutionalisierten Wissenschaftssystems hinaus und be­

mächtigen sich der Technik - ein Prozeß, der nach W eyer/Krohn/Herbold insofern zu Problemen führt, als hierdurch die Grenzen der Laborwissen­

schaft überschritten werden und die Gesellschaft selbst den Charakter eines Labors annimmt.

Diese Beschreibung ist sicherlich insofern zutreffend, als die moder­

nen Wissenschaften von der Computer- über die Atom- bis hin zur Gen­

technologie die Grenzen des Labors nicht nur in Ausnahmefällen,

son-100 B o n ß /H o h lfeld /K o llek

dern systematisch zu sprengen scheinen. Zu fragen bleibt gleichwohl drei­

erlei: zum einen, ob diese Verwissenschaftlichung der Technik nicht zu­

gleich eine Verwissenschaftlichung der Gesellschaft voraussetzt, die es ge­

rade beim Stichwort der »Experimentiergesellschaft« stärker zu berück­

sichtigen gilt; zum zweiten, ob der Übergang zur »Experimentiergesell­

schaft«, so er denn stattfindet, nicht zwangsläufig auf eine Aufweichung bzw. Verschiebung der Grenze zwischen technischen und sozialen Aspek­

ten hinausläuft. Zum dritten schließlich, ob sich hieraus nicht auch Rück­

wirkungen auf die Wissenschaft selber ergeben.

Diese drei Fragen liegen zumindest dann nahe, wenn man die in letz­

ter Zeit diskutierten Thesen zur »Sekundärverwissenschaftlichung« ernst nimmt, wie sie in breitenwirksamer Form insbesondere von Ulrich Beck (1986) vorgetragen worden sind. Dreh- und Angelpunkt dieser Thesen ist die Beobachtung, daß die Generalisierung zweckrational-experimenteller Orientierungen, wie sie sich im Siegeszug der neuzeitlichen Wissenschaft niederschlägt, offensichtlich nicht zu jenem »linearen« Zuwachs an Sicher­

heit und Rationalität geführt hat, als dessen theoretischer Ausdruck das Webersche Konzept der okzidentalen Rationalisierung gelesen werden kann. Wie die immer wieder beobachtbaren Katastrophen und Beinahe- Unfälle zeigen, übersteigen die erzeugten Kontingenzen die beherrschba­

ren Komplexitäten vielmehr bei weitem, und angesichts der Kosten der nichtintendierten Nebenfolgen ist es durchaus zweifelhaft, ob die angebli­

che Koppelung von Implementation und Invention per se zu Rationali­

tätsgewinnen führt. Das durch die »Primärverwissenschaftlichung« erzeug­

te und sie zugleich dementierende Bewußtsein von Unsicherheit und R a­

tionalitätsdefiziten prägt dabei nicht nur die öffentlichen Diskurse, son­

dern macht sich in »abgefederter« Form auch im Wissenschaftssystem sel­

ber bemerkbar. So steht unter den Bedingungen der »Sekundärverwissen­

schaftlichung« die Idee eines kumulativen Erkenntnisfortschritts ebenso in Frage wie die Möglichkeit, von »sicheren« Erkenntnissen zu sprechen - ein Faktum, das für den gesellschaftlichen Status der wissenschaftlichen Erkenntnisproduktion zumindest dann folgenreich wird, wenn aus den einstmals verbindlichen wissenschaftlichen Erkenntnissen bzw. Gesetzen ein eher unverbindlicher »Stand von Wissenschaft und Technik« wird.

»Riskante Forschungspraktiken« - Kommentar zu Hohlfeld / Krohn / Weyer 101 3. Forschungspraktiken und ihre Risiken

Neben dem Konzept der »Experimentiergesellschaft«, das in seinen ge­

sellschaftstheoretischen Qualitäten erst zu entfalten wäre, ist aber auch die Analyse der Forschungspraktiken und ihrer Risiken zu differenzieren.

Ergänzungsbedürftig erscheinen hier vor allem die Ausführungen zur Ri­

sikogenese. Zwar gehen W eyer/Krohn/Herbold zu Recht davon aus, daß die Vorhersehbarkeit von Unfällen »theoretisch (?) durch die Randbedin­

gungen der Risikomodellierung« (S. 77) festgelegt wird, aber jenseits die­

ser globalen Anmerkung beschäftigen sie sich kaum mit den Problemen unterschiedlicher Risikomodelle. So wird unter Rekurs auf Perrow (1984) beiläufig angemerkt, daß komplexe Experimente mit systematisch einge­

bauten »unerwarteten Interaktionen« häufig, aber nicht in jedem Fall zu Katastrophen führen müssen - eine höchst wichtige Feststellung, die ge­

nauer diskutiert werden müßte, zumal die von Perrow eingeführte Syste­

matik keineswegs unproblematisch ist. Ähnlich wie bei Perrow bleibt je­

doch auch bei W eyer/Krohn/Herbold unklar, ob es allein die »unerwarte­

ten Interaktionen« sind, die für die Risikoentstehung ausschlaggebend sind, welche Rolle andererseits erwartbare, aber jenseits des Labors nicht mehr handhabbare Effekte spielen, und wie schließlich in beiden Fällen das Verhältnis zwischen sozialen und stofflichen Aspekten zu begreifen ist.

Wenn W eyer/Krohn/Herbold, anstatt diese Fragen zumindest aufzu­

werfen, davon sprechen, daß die Risikomodellierung »immer einer gewis­

sen Willkür« unterliegt, entziehen sie sich vorschnell der Mühe, ein syste­

matisches Konzept zur Risikoentstehung, Risikowahrnehmung und Risi­

koausblendung zu entwickeln. Letzteres ist um so bedauerlicher, als die Möglichkeiten und Strategien einer Risikopolitik je nach der Risikogene­

se unterschiedlich ausfallen. Von unserem Ansatz her (vgl. Bonß/Hohl- feld/Kollek 1990) wäre ein solches Konzept »kontexttheoretisch« anzuge­

hen, denn die Risikogenese ergibt sich letztlich aus einer Ausblendung vorgängiger Kontexte bzw. Wirkungszusammenhänge, die sich mindestens in zwei Dimensionen studieren läßt: Zum einen anhand der kognitiven Sy­

stematik, wie sie sich insbesondere in den reduktionistischen Theoriepro­

grammen niederschlägt, zum anderen anhand der institutionellen Aus­

102 Bonß / Hohlfeld / Kollek

blendungsbedingungen, wie sie sich unter anderem durch die Ausdifferen­

zierung der Laborwissenschaft und die Errichtung der »Grenze« zwischen Labor und Gesellschaft ergeben haben.

Die mangelnde Reflexion der Risikogenese prägt auch die Argumen­

tationen zu den konkreten Forschungspraktiken, wie sie unter den Stich­

worten »Under-Cover-Experimente«, »Ausstieg« und »offene Experimen­

te« vorgestellt werden. So läßt sich bereits bezweifeln, ob die Kontrastie- rung von »Under-Cover-Experimenten« und »Ausstieg« überhaupt empi­

risch gehaltvoll ist. Darüber hinaus erscheint eine solche Dichotomisie- rung insofern prekär, als hierdurch die Handhabung wissenschaftlich er­

zeugter Unsicherheiten letztlich zu einem moralischen Problem wird, das dem wissenschaftlichen Diskurs prinzipiell äußerlich bleibt. Zwar ist Weinberg (1972) recht zu geben, wenn er behauptet, daß die moderne Wissenschaft Probleme erzeugt, die als »transwissenschaftliche« mit dem etablierten Methodenarsenal nicht zu lösen sind. Aber die Frage ist, ob dies nicht die kognitiven Strukturen selber in einer Form verändert, die auf einen »Strukturwandel der Wissenschaft« hinausläuft - ein Struktur­

wandel, der freilich nur auf der Grundlage eines nicht-konventionalisti- schen Wissenschaftsbegriffs sichtbar werden kann.

4. Planungsparadoxien und ihre Lösung. Oder: How fair is safe enough?

Die mit der Unterscheidung von »Under-Cover-Experimenten«, »Aus­

stieg« und »offenen Experimenten« gesetzten Thematisierungslinien fin­

den ihre Fortsetzung in den Ausführungen zum »Planungsparadox« und in dem Votum für dessen »pragmatische« Lösung. Zwar haben Weyer/

Krohn/Herbold durchaus Recht, wenn sie davon ausgehen, daß wissen­

schaftlich erzeugte Unsicherheit sich grundsätzlich nicht in Sicherheit ver­

wandeln und das »Planungsparadox« somit auch nicht »harmonisch« auf- lösen läßt. Aber die Bedingungen für »die Entscheidung für den Abbruch des Reflexionsprozesses und die Inkaufnahme eines klar definierten Risi­

kos« (S. 93) sind verfahrenstechnisch unterkomplex beschrieben. Darüber hinaus läßt sich der im Fall der Mülldeponie vorliegende Entscheidungs­

»Riskante Forschungspraktiken« - Kommentar zu Hohlfeld / Krohn / Weyer 103 druck keineswegs umstandslos auf andere Fälle übertragen. Im U nter­

schied beispielsweise zur Gentechnologie ist die wissenschaftliche Depo­

niesanierung ein eindeutig reaktives Unternehmen, das ohne frühere Ent­

scheidungen für Müllproduktion weder möglich noch notwendig wäre.

Aufgrund von in der Vergangenheit gesetzten Entscheidungsprämissen sind hier in der Tat alle denkbaren Entscheidungen bis hin zur Nichtent­

scheidung unter Umständen gleichermaßen riskant. Ähnliches dürfte demnächst für die Beseitigung atomarer Brennstäbe gelten, während bei der Weltraumforschung oder auch bei der Gentechnologie von einem zu reaktivem Verhalten zwingenden Entscheidungsdruck bislang (noch) nicht unbedingt gesprochen werden kann. Bei einem aktiv-inventiven Feld wie der Gentechnologie etwa ist daher ein Moratorium sicherlich weniger ris­

kant oder zumindest nicht riskanter als eine konventionell kontrollierte Fortsetzung der Forschung, und so gesehen wäre die These, »daß die Pro­

duktion von mehr Sicherheit zugleich auch die Unsicherheit vergrößert«

(S. 91) auf jeden Fall zu differenzieren.

Die am »Müllbeispiel« entwickelten Argumentationen sind aber auch noch in anderer Hinsicht defizitär. Zwar läßt sich an dem vorgestellten Bielefelder Modell die Einübung in einen experimentellen Umgang mit Unsicherheit offensichtlich sehr gut studieren. Aber diese Einübung wird insofern »halbiert« beschrieben, als die zusammenfassend genannten Aspekte (S. 90) sich im wesentlichen auf technische Konzepte (wie Rück- holbarkeit, Reparierbarkeit etc.) beziehen; die sozialen Auseinanderset­

zungen und die politischen Kontexte, die über die unmittelbare Technik­

wahl hinausgehen, werden hingegen bei W eyer/Krohn/Herbold nur am Rande diskutiert und als eher äußerlich behandelt. Gerade an dieser Stel­

le wären jedoch größere theoretische Anstrengungen notwendig. Denn es müssen Antworten auf die Frage gefunden werden, wer wie im Rahmen welcher Verfahren über den »Abbruch« von Risikodiskursen entscheidet, welche Argumente wann zulässig sind, und wie das Verhältnis von wissen­

schaftlichen, technischen und sozialen Kontexten hier zu begreifen ist.

Keine Lösungen, wohl aber Anregungen hierzu lassen sich einerseits aus neueren systemtheoretischen Analysen zu den Konzepten von Risiko und Gefahr (vgl. Luhmann 1990) sowie andererseits aus der hierzulande noch kaum rezipierten amerikanischen Diskussion über »risk

communica-104 Bonß /H ohlfeld /K o lle k

tion« entnehmen (vgl. zum Beispiel Hoff m ann/Borgm ann/Rohrm ann/

Wiedemann 1988, Keeney/Winterfeldt 1986, Plough/Krimsky 1987). Die­

se ist zumindest insofern interessant, als sie deutlich macht, daß die Pro­

bleme nicht nur in der technischen, sondern ebenso in der kommunikati­

ven Dimension liegen - eine Erkenntnis, die in der bekanntlich technisch dominierten Risikoforschung inzwischen zu weitergehenden Verschiebun­

gen im Aufmersamkeitsspektrum geführt hat. Denn an die Stelle der alt­

bekannten, akzeptanztheoretisch akzentuierten Frage »How safe is safe enough?« (Starr 1968) tritt heute zunehmend die Frage »How fair is safe enough?« (Rayner/Cantor 1987) - eine Umformulierung, die auf soziale und kulturelle Auseinandersetzungen als einen zentralen Bezugspunkt von Risikokonflikten verweist. Und wer sich mit Planungsparadoxien der Technikentwicklung beschäftigt, wird letztlich auch kaum darum herum kommen, diese Auseinandersetzungen stärker als im vorliegenden Papier zum Thema zu machen.

Literatur

Beck, U. / Bonß, W. (Hg.) (1989): Weder Sozialtechnologi.e noch Aufkärung? Studien zur Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp

Beck, U. (1986): Risikogesellschaft. A u f dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp

Bonß, W. / Hohlfeld, R. / Kollek, R. (1990): Risiko und Kontext. Zum Umgang mit den Risiken der Gentechnologie. Diskussionspapier 5/90. Hamburg: Hamburger Institut für Sozialforschung

Habermas, J. (1973): »Wahrheitstheorien«. In: H. Fahrenbach (Hg.): Wahrheit und Re­

flexion. Walter Schulz zum 60. Geburtstag. Pfullingen: Neske, S. 211-230

Hohlfeld, R. (1988): »Biologie als Ingenieurskunst. Zur Dialektik von Naturbeherr­

schung und synthetischer Biologie«. In: Ästhetik & Kommunikation, 69, S. 61-70 Hoffmann, R. / Borgmann, M. / Rohrmann, B. / Wiedemann, P. (1988): Risiko-Kom­

munikation - Bibliographie - Arbeiten zur Risikokommunikation. Manuskript. Jülich:

Kemforschungsanlage Jülich

Keeney, R. J. / Winterfeldt, D. von (1986): »Improving Risk Communication«. In: Risk Analysis, 6, S. 417-424

Krohn, W. / Weyer, J. (1989): »Gesellschaft als Labor«. In: Soziale Welt, 40, S. 347-349 Lenk, H. (1982): Zur Sozialphilosophie der Technik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp

Luhmann, N. (1990): »Risiko und Gefahr«. In: ders. (Hg.): Soziologische Aufklärung 5.

Konstruktivistische Perspektiven. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 131-170.

»Riskante Forschungspraktiken« - Kommentar zu Hohlfeld/K ro h n / Weyer 105

Lynch, M. / Livingstone, E. / Garfinkei, H. (1983): »Zeitliche Ordnung in der Arbeit des Labors«. In: W. Bonß / H. Hartmann (Hg.): Entzauberte Wissenschaft. Zur Rela­

tivität und Geltung soziologischer Forschung. Göttingen: Schwarz, S. 129-150

Perrow, C. (1984): Normale Katastrophen. Die unvermeidbaren Risiken der Großtechnik.

Frankfurt a. M .: Campus

Plough, A. / Krimsky, S. (1987): »The Emergence of Risk Communication Studies: So­

cial and Political Context«. In: Science, Technology & Human Values, 12, S. 4-10 Priddat, B. (1990): Unsicherheit und Risiko. Ein Essay zur Theoriegeschichte. Manu­

skript. Hamburg: Hamburger Institut für Sozialforschung

Rayner, S. / Cantor, R. (1987): »How Fair is Safe Enough? The Cultural Approach to Societal Technology Choice«. In: Risk Analysis, 7, S. 3-9

Starr, C. (1969): »Social Benefit versus Technological Risk. What is our society willing to pay for safety?« In: Science, 165, S. 1232-1238

Technikgestaltung als soziale Handlung