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R alf Herbold, Wolfgang Krohn und Johannes Weyer

1. Einleitung: Gefährdungen durch Realexperimente

Der europäische Airbus A 320 galt bislang als »das denkende Flugzeug, das Pilotenfehler verzeiht« (FAZ 14.10.1987), weil es über elektronische Sicherheitssysteme verfügt, die zum Beispiel verhindern, daß der Pilot das Flugzeug in instabile Lagen manövriert.1 Kurz nach der Markteinführung dieser neuen Technik sind zwei Maschinen des A 320 abgestürzt, am 26.

Juni 1988 im französischen Mulhouse sowie am 14. Februar 1990 im indi­

schen Bangalore. In beiden Fällen bemühte sich die Herstellerfirma, je­

den Verdacht auf technisches Versagen durch den Verweis auf krasse Pi­

lotenfehler zu zerstreuen, indem sie behauptete, daß die Piloten die auto­

matischen Anflugsysteme falsch bedient und so die Unfälle verursacht hätten.2 Die französischen Piloten, die das Unglück überlebten, machten ihrerseits die Airbus-Technik verantwortlich; durch manuelle Eingriffe ha­

be sich das Unfallgeschehen nicht beeinflussen lassen, da die Elektronik des A 320 unerlaubte Interventionen des Menschen ignoriert. Die beiden Unglücke verdeutlichen, daß die Hypothese der inhärenten Sicherheit des neuen Airbus auf Prämissen über das Verhalten der beteiligten sozialen Akteure basierte, die sich in Real-Situationen als unhaltbar erwiesen.

Das Beispiel demonstriert zudem, in welchem Maße technische Si­

cherheit nicht nur vom Funktionieren der technischen Artefakte, sondern gleichfalls vom Funktionieren der unterstellten Interaktion technischer und sozialer Komponenten anhängt. Hypothesen über die Funktionsfähig­

keit und Sicherheit eines komplexen technischen Gerätes erhalten durch

1 Zugleich ermöglicht diese elektronische Steuerung jedoch auch, näher an die Grenzbereiche heranzugehen und extreme Manöver zu fliegen, die bis vor kurzem im Bereich der Zivilflugzeuge als undenkbar galten.

2 In beiden Fälllen wird nach wie vor darüber gestritten, ob Mensch oder Technik für die Unfälle verantwortlich waren.

Technikentwicklung als soziales Experiment 77 Simulationen und Erprobungen zwar ihre Plausibilität, die reale Praxis ist jedoch nicht simulierbar.3 Dem Technikhersteller fällt spätestens dann die Verantwortung zu, Sicherheit auch in nicht vorhersehbaren Situationen zu erzeugen, wenn er beginnt, seine Produkte in einer komplexen Wirklich­

keit freizusetzen. Die Aussage »Das haben wir nicht wissen können« mag zwar zur Beruhigung der Öffentlichkeit wenige Tage nach spektakulären Unfällen geeignet sein4, das Problem des Glaubwürdigkeitsverlustes gera­

de bei Kunden, die man mit der zusätzlichen inhärenten Sicherheit um­

worben hatte, bleibt jedoch akut.5

Die Grenze zwischen vorhersehbaren und nicht vorhersehbaren U n­

fällen wird theoretisch festgelegt durch die Randbedingungen der Risiko­

modellierung. Eine solche Grenzziehung unterliegt immer einer gewissen Willkür, die sich in späteren Erfahrungen mehr oder weniger bewährt.

Trotz dieser Sachlage geht der Anwender zurecht davon aus, daß speziell seine Verwendung Berücksichtigung gefunden hat. Denn das Risiko des Irrtums trifft nicht nur die Technikhersteller. Es trifft - und zwar norma­

lerweise viel härter - diejenigen, denen zugemutet wird, an einem verdeck­

ten Großversuch teilzunehmen, über dessen Durchführung sie nicht infor­

miert waren und dessen Prämissen und Konsequenzen sie nicht kannten.

Die Behauptung der französischen Pilotengewerkschaft, im Falle des A 320 handele es sich »um ein noch in der Entwicklung befindliches Flug­

zeug« (FAZ 16.2.1990), ist ein deutliches Indiz für den experimentellen Charakter des Einsatzes vermeintlich ‘fertiger’ Technik.

3 Selbst intensivste Erprobungen, die vor der Einführung eines neuen Flugzeuges er­

forderlich sind, ändern nichts an diesem Sachverhalt.

4 Vgl. die Darstellung bei Perrow (1986, S. 399 f.) zur schrittweisen Uminterpretation der Unfallverläufe und -Ursachen; vgl. auch den von Baumheier 1988: 167 darge­

stellten Thematisierungszyklus.

5 Die bis heute nicht restlos geklärten Unglücke nähren jedenfalls »die Zweifel an der vom Konstrukteur als ausgesprochen sicher bewerteten Verkehrsmaschine«

(FAZ 14.7.1990).

78 Herbold / Krohn / Weyei

2. Experimentelle Implementationen als Kennzeichen der Experimentiergesellschaft

Die Problematik impliziter Experimente in Realsituationen außerhalb des Forschungslabors und der durch sie produzierten Gefährdungen legt die Option eines Ausstiegs aus riskanten Experimenten nahe.6 Bei Gefähr­

dungen für Leib, Leben und Umwelt und zugleich mangelhafter politi­

scher Legitimation fällt diese Option leicht.7 Das Beispiel des Airbus wie auch das im nächsten Abschnitt diskutierte Beispiel der Mülldeponie zei­

gen jedoch, daß im allgemeinen zwar die Modalität der ‘impliziten Experi­

mente’ - und damit die Technikgestaltung - offen ist, aber nur in wenigen Fällen die Option der Unterlassung. Gleichzeitig handelt es sich bei der Wissenserzeugung im »offenen Feld« um eine neue und zunehmend do­

minant werdende Strategie des Wissenserwerbs. Um dieser Ausgangssi­

tuation gerecht zu werden und der normativen Konnotation der impliziten Experimente als illegitimer Praktiken zu entgehen, haben wir den Begriff der ‘Experimentiergesellschaft’ gebildet.8

Das wesentliche Kennzeichen der modernen Experimentiergesell­

schaft ist die Kopplung von Implementation und Invention in einer expli­

ziten und strategischen Weise. Spektakuläre Unfälle sowie die zahllosen Erfahrungen der schleichend zunehmenden Gefährdungspotentiale kom­

plexer Techniken haben die eher evolutionistische Praxis einer unkontrol­

lierten Freisetzung neuer Techniken und das naive Lernen aus Fehlern obsolet werden lassen. Die Forderungen nach Technikfolgenabschätzung sowie nach einer Verwissenschaftlichung (technologie-)politischer Praxis lassen sich als Indiz für diese Entwicklung werten. Da die prognostischen TA-Instrumente auf die Modellierung von Szenarien und Risiken bei fest­

gelegten Randbedingungen begrenzt sind und die mit der Entscheidung

6 Dies haben wir in einem früheren Aufsatz mit der Stichwort ‘Gesellschaft als Labor’

charakterisiert. Vgl. Krohn/Weyer 1989; siehe auch Krohn/Weingart 1986.

7 Anders verhält es sich etwa im Fall neuer Medikamente zur Aids-Therapie, die nach Meinung Infizierter ohne die sonst üblichen Zulassungsverfahren experimen­

tell erprobt werden sollen.

8 Wir verstehen ‘Experimentiergesellschaft’ als eine Kategorie, die analog zu ‘kapita­

listische Wirtschaftsgesellschaft’ und ‘politische Demokratie’ konstruiert ist und eine der - ineinander nicht überführbaren - Perspektiven bezeichnet, mit der die moderne Gesellschaft beschrieben werden kann.

Technikentwicklung als soziales Experiment 79 verbundenen Risiken nicht aus der Welt schaffen können, wird das kon­

trollierte Experiment immer mehr zu einem Standardinstrument, mit des­

sen Hilfe technische Innovationen erzeugt werden.9 Hierzu ist keineswegs immer ein öffentlich ausgefochtener Risikodiskurs oder Innovationswider­

stand Voraussetzung. Beides gibt es im Falle des Airbus nicht. Das mit dem Experiment verfolgte Ziel, die Entwicklung eines sicheren Flugzeugs, kann vielmehr eine hohe gesellschaftliche Legitimität beanspruchen.10 Da die Sicherheit einer so komplexen Technik wie des Flugzeuges bzw. des Flugverkehrs nicht im Labor erzeugt werden kann, sind Realexperimente unausweichlich, weil der weltweite Einsatz einer Flugzeugflotte unter wechselnden Bedingungen weder im Labor noch in der Erprobungsphase simulierbar ist. Experiment und Implementation fallen zusammen, und den im Verlaufe experimenteller Implementationen generierten Erfah­

rungen kommt ein hoher Stellenwert für die Überprüfung und gegebenen­

falls Korrektur der Hypothesen zu, die dem Konzept einer neuen Technik zugrundeliegen.

Die Gefährdungsdimension der experimentellen Implementation von Technik ergibt sich vor allem aus der Tatsache, daß der Test neuer Tech­

nik in Form von Sozialexperimenten stattfindet, in dem Menschen poten­

tiell zu Betroffenen eines Versuchs mit unerwartetem Ausgang werden können. Dies ist nicht in allen Fällen zu vermeiden und wird von der Ge­

sellschaft nicht grundsätzlich negativ bewertet.11

3. Technik als Erfindung sozio-technischer Handlungsformen

Der Stellenwert, den wir den ‘kontrollierten Realexperimenten’ zuspre­

chen, ergibt sich aus einem Verständnis der technologischen Erfindung, das von vornherein die Dimension sozialen Handelns in den Technikbe­

9 In der Informatik hat sich zum Beispiel für die Methode, Systeme durch ihre Im­

plementation zu verbessern, der Ausdruck ‘prototyping’ eingebürgert.

10 Die Öffentlichkeit erwartet die Minimierung von Unfallrisiken im Flugverkehr und beobachtet Schadensfälle mit einer überdurchschnittlichen Aufmerksamkeit;

vgl. La Porte 1988.

11 Beispiele sind Schulversuche oder die versuchsweise Einführung von Tempoli­

mits.

80 Herbold / Krohn / Weyer

griff integriert. Eine technische Erfindung beschränkt sich nicht allein auf die Konstruktion eines Artefakts, sondern beinhaltet auch den Entwurf einer neuen Handlungsform. Konstruiert wird durch den Technikerzeuger immer eine sozio-technische Verkopplung, die neben den im engeren Sin­

ne instrumenteilen Komponenten eine Reihe sozialer Komponenten ent­

hält (vgl. Hughes 1987). Ein kleiner Teil dieser Verkopplungen ist in den Bedienungsanweisungen niedergelegt, der größere Teil besteht aus Ver­

mutungen über die Art des Einsatzes und der Nutzung sowie über die möglichen bzw. erforderlichen Interaktionen mit anderen Artefakten und/oder Akteuren. Der erfolgreiche Abschluß des Erfindungsprozesses endet also nicht nur mit einem Ergebnis, sondern mit einer Hypothese über die Operationsweise einer neuen sozio-technischen Handlungsform.

Diese Hypothese kann nur in seltenen Fällen unter kontrollierten Labor­

bedingungen geprüft werden, in keinem Fall aber ohne Einbeziehung von Interaktionen.

Ein klassisches Beispiel mag den Zusammenhang illustrieren. Die Konstruktion einer funktionsfähigen Glühbirne als singulärem Artefakt stellt zunächst nur den experimentellen Beweis einer wissenschaftlichen Hypothese im Labor dar. Die Konstruktion des soziotechnischen Systems

‘Elektrische Beleuchtung privater Haushalte’ ist auf das Schlüsselelement

‘Glühbirne’ notwendigerweise angewiesen; hinzu kommen müssen jedoch Vermutungen über das Verhalten der sozialen und technischen System­

elemente sowie deren Wechselwirkungen.12 Die Beispiele zeigen, daß zur Überprüfung technischer Erfindungen immer ein sozialer Kontext des Ex- perimentierens bestehen muß und zudem die Eingrenzung der relevanten Randbedingungen, unter denen die Erfindung sich bewährt, erfahrungsab­

hängig ist.

12 Werner Rammert hat diesen Sachverhalt durch den Begriff ‘Nutzungsvision’ be­

schrieben und in seiner Fallstudie über das Telefon darauf verwiesen, welche R e­

levanz Nutzungskonzepte für die Durchsetzung einer Technik besitzen, welche als isoliertes Artefakt zunächst völlig irrelevant war; vgl. Rammert 1988 und 1989.

Technikentwicklung als soziales Experiment 81 4. Gefahren von Sozialexperimenten

Perrows Feststellung, daß komplexe Systeme durch die in ihnen enthalte­

nen Rückkopplungsschleifen notwendigerweise »Interaktionen mit uner­

wartetem Ablauf« (1988, S. 115) erzeugen, verweist auf die Risiken, die der Entwurf solcher Systeme notwendigerweise enthält.

Komplexe Interaktionen und die damit verbundenen Risiken der Kon­

struktion sozio-technischer Systeme sind jedoch nicht zwangsläufig mit einem Katastrophenpotential verbunden (vgl. Perrow 1988, S. 125). Z u­

nächst ist die experimentelle Erprobung neuer Techniken in Form von So­

zialexperimenten nur mit dem für wissenschaftliche Forschung typischen Erkenntnisrisiko behaftet und insoweit normativen Bewertungen entzo­

gen. Problematisiert werden Experimente jedoch in der Regel dann, wenn Erkenntnisrisiken mit nicht akzeptablen sozialen Gefährdungen in einem hohen Maße koinzidieren und Schäden entstehen, die als nicht kompen­

sierbar gelten.13 Dabei müssen analytisch zwei Formen der Schädigung unterschieden werden: An Sozialexperimenten sind einerseits die Ver­

suchspersonen beteiligt, deren soziales Verhalten in Mensch-Maschine-In- teraktionen getestet wird. Ein Beispiel sind die Piloten des Airbus, also das eigentliche Bedienungspersonal. Andererseits gibt es Betroffene, de­

ren Verhalten im Rahmen des Versuches keine Rolle spielt, die im Falle eines unerwarteten Verlaufs jedoch zu Opfern werden können. Um beim Beispiel zu bleiben, sind dies Flug-Passagiere, aber auch Personen, die im Falle eines Absturzes eines Flugzeugs auf ein Chemiewerk geschädigt wer­

den usw.14 Diese grundsätzliche Schrankenlosigkeit der Betroffenheit U n­

beteiligter macht die eigentliche Problematik von Sozialexperimenten aus.

13 Solche irreversiblen Schädigungen werden in unserer Kultur vor allem über die Würde und Gesundheit des Menschen, in jüngerer Zeit auch die Intaktheit der Natur sowie die Offenheit von Zukunft definiert.

14 Eine ähnliche Kategorisierung findet sich bei Perrow 1988, S. 101.

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5. Forschungspraktiken und deren Risiken

Bislang existieren im wesentlichen zwei Praktiken zum Umgang mit der geschilderten Problematik, mit Hilfe derer unseres Erachtens jedoch die Risiken experimenteller Implementationen nicht vollständig bewältigt werden können.

(a) Under-cover-Experimente

Da gefährliche Großversuche mit Menschen nicht legitim sind und auch durch die Freiheit der Forschung nicht abgesichert werden können, betrei­

ben Wissenschaftler häufig Huckepack-Forschung in gesellschaftlichen Bereichen, in denen Technikanwendung und -Verbesserung durch nicht­

wissenschaftliche Begründungen legitimiert sind. Nur auf diese Weise sind Experimente möglich, die auf Grundlage der klassischen Legitimation der Forschung als konsequenzenentlastetem Probehandeln nicht zulässig wä­

ren. Under-cover-Forschung stößt jedoch alleine schon deshalb an Gren­

zen, weil Wissen, das auf nicht explizite Weise generiert wurde, auch nur beschränkt verwertbar ist. Es bleibt eingegrenzt auf Spezialcommunities zum Beispiel im militärischen Bereich. In welchem Maße die Gesellschaft die Risiken solcher Forschung zu tragen hat, bleibt solange verborgen, wie die Experimente positiv ausgehen. Erst Unfälle oder Spätfolgen verdeutli­

chen, in welchem Maße die Gesellschaft zum Labor und einzelne Grup­

pen zu Versuchskaninchen gemacht wurden.

(b) Ausstieg

Eine plausible Alternative zu impliziten Experimenten bestünde im Ver­

zicht auf die Entwicklung von Techniken, die mit großen Schadenspoten­

tialen behaftet sind. So einleuchtend diese Option in besonders krassen Fällen inhumaner Menschenexperimente sein mag15, so problematisch ist sie in vielen anderen Fällen, die sich nicht eindeutig nach einem ‘Gut-Bö­

15 Beispiele dazu finden sich in Krohn/Weyer 1989.

Technikentwicklung als soziales Experiment 83 se’-Schematismus codieren lassen, sondern konfligierende Bewertungen erfahren. Zudem ist auch die Entscheidung für den Ausstieg bzw. die Wahl von Alternativen grundsätzlich eine riskante Entscheidung, die dem Planungs- und Antizipationsdilemma nicht entgeht. Thematisieren läßt sich im wesentlichen das Gefahrenpotential, das verschiedene soziale Ak­

teure vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Kosten-Nutzen-Kalküle je ­ doch unterschiedlich bewerten. Die von der Gesellschaft vorgenommene Grenzziehung in legitime und illegitime Experimente ist im wesentlichen eine Frage der Konsensfähigkeit moralischer Standards. Eine Grenzzie­

hung, die generell den Ausstieg aus allen risikobehafteten Zukunftsinve­

stitionen zum Ziele hätte, würde in Konsequenz jede geregelte Selbstbe­

obachtung von Innovationsprozessen untersagen.

(c) Offene Experimente

Weder Versteck- noch Verzichtstrategien sind Lösungen, mit denen die moderne Gesellschaft typischerweise auf die Risiken der experimentellen Implementation neuer Technik reagieren kann. Eine grundsätzliche Alter­

native bieten Experimente, die ihr Forschungsdesign, ihre Prämissen, die Arbeitshypothesen, die erwarteten Versuchsergebnisse und die antizipier­

ten Gefahren offen benennen und so einen Diskurs über die Akzeptabili­

tät möglicher Gefährdungen sowie die Notwendigkeit des angestrebten Wissenserwerbs ermöglichen. Der Großversuch mit Tempo 100 auf Land­

straßen, eines der aufwendigsten und forschungsintensivsten Sozialexperi­

mente, das jemals in der Bundesrepublik stattgefunden hat, ist ein gutes Beispiel, ganz unabhängig von der Kritik an Versuchsaufbau und -durch- führung.16 Auch die Regulierung medizinischer Experimente durch Ethik­

kommissionen läßt sich anführen (vgl. van den Daele 1990). Erforderlich für eine solche Praxis ist also ein gesellschaftlicher Konsens bezüglich der Legitimität solcher Experimente, gekoppelt mit einer effektiven Miß­

brauchskontrolle, die Tests mit geringem oder zweifelhaftem Nutzen aus­

schließt und die Versuche auf die kontrollierte Erprobung konsensuell ak­

16 Vgl. Hellstem/W ollmann 1983; zur Interpretation von Reformprogrammen als Sozialexperimente vgl. auch Campbell 1969.

84 Herbold / Krohn / Weyer

zeptierter Innovationen beschränkt. Die Problematik des Konsens-Mo­

dells liegt jedoch in der Selektivität von Chancen und Schäden. Ein riskan­

tes Experiment wird vom Experimentator wegen eines erwarteten Nutzens durchgeführt, der lediglich hypothetisch antizipiert, in seinen Auswirkun­

gen, Nebeneffekten, Wechselwirkungen etc. jedoch nicht vollständig be­

schrieben werden kann. Selbst in wohldefinierten naturwissenschaftlichen Experimenten sind nicht immer alle Ergebnisvarianten vorab bekannt.

Unerwartete, gesellschaftlich als Fehlschläge deklarierte Ergebnisse und die durch sie bewirkten Schäden haben eine erkenntnisstimulierende Funktion; der Erkenntnisgewinn verdankt sich oft gerade den nicht antizi­

pierten Überraschungen. Sie werden erst dann zu einem Problem, wenn Unbeteiligte von Schäden betroffen sind, die von wissenschaftlichen Expe­

rimenten verursacht werden. Wenn in diesem Sinne Nutzenerwartungen und Schadensmöglichkeiten untrennbar miteinander verknüpft, sozial aber unterschiedlich verteilt sind, ist die Basis für eine mögliche Kompro­

mißkonstruktion eng. Wahrscheinlich ist, daß Betroffene einerseits prote­

stieren und Experimentatoren daher andererseits die Öffentlichkeit und den rechtzeitigen Kontakt mit den Betroffenen scheuen und under-cover- Experimente vorziehen, statt ‘schlafende Hunde zu wecken’.

Die Diskussion der Problematik experimenteller Implementationen zeigt, daß auch Strategien zur Gefahrenminderung nicht risikofrei sind.

Unabhängig vom Gefährdungspotential einzelner materieller Komponen­

ten komplexer sozio-technischer Systeme (hochexplosiver Stoffe usw.) be­

stehen Entscheidungsrisiken, die sich aus dem Nicht-Wissen über zukünf­

tige Entwicklungen und der Nicht-Antizipierbarkeit der Effekte der eige­

nen Interventionen ergeben. Dies gilt auch für Interventionen, die von der Intention der Gefahrenabwehr geleitet sind. Da der Erwerb neuen Wis­

sens über die Sicherheit eines sozio-technischen Systems nicht anders möglich ist als über dessen kontrollierte Erprobung, wird die Gesellschaft, wenn sie durch wissenschaftliche Forschung erzeugten technischen Fort­

schritt zuläßt, notgedrungen zur Experimentiergesellschaft, die ihre fort­

laufende Modernisierung (auch in ökologischer Perspektive) nicht anders als in Form von wissenschaftlich betriebenen Großversuchen vorantreiben kann. Die einzige Alternative wäre die Entscheidung, das Risiko des

Technikentwicklung als soziales Experiment 85 Nicht-Wissen-Könnens durch das Risiko des Nicht-Wissen-Wollens zu er­

setzen.

Das mit der Praxis einer Experimentiergesellschaft einhergehende Entscheidungsrisiko läßt sich nicht beseitigen. Mit ihm in einer demokra­

tischen Gesellschaft, die Kritik und Einspruch zuläßt, offen umzugehen, ist angesichts der selektiven Betroffenheiten seinerseits riskant.

6. Fallbeispiel: Planung einer modernen Mülldeponie

Bislang haben wir die Problematik experimenteller Implementationen aus der Perspektive des Meta-Beobachters betrachtet, für den kein Hand­

lungszwang existiert. Die Frage, wie praktisch Handelnde in konkreten Entscheidungssituationen mit dem Problem umgehen und welche Spiel­

räume sich dabei eröffnen, soll Gegenstand der folgenden Abschnitte sein, die sich mit der Planung einer neuen Mülldeponie in der Nähe von Bielefeld befassen.

6.1 Müll als Risiko

Ein Rückblick auf die Geschichte des Mülls17 zeigt, daß die Ablagerung von Abfällen lange Zeit weder auf seiten der Wissenschaft noch auf seiten der Technik thematisiert wurde. Erst Ende der fünfziger Jahre setzte in­

nerhalb der entstehenden Abfallwissenschaft ein innerwissenschaftlicher Diskussionsprozeß ein, der ästhetische und hygienische Probleme in den Mittelpunkt stellte, zugleich aber die Wahrnehmung ‘Müll als Risiko’ kon­

stituierte. Bislang war man davon ausgegangen, man könne eine Deponie nach ihrer Verfüllung und Rekultivierung vergessen bzw. »den selbsthei­

lenden Naturkräften überlassen« (Salomo 1985, S. 66). In den sechziger Jahren einsetzende Analysen zur Verunreinigung des Oberflächen- und Grundwassers durch Hausmüllkippen belegten jedoch nachdrücklich die von ihnen ausgehende Umweltbeeinträchtigung. Schließlich wurde die

17 Vgl. dazu ausführlich Herbold 1990.

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Thematik im Kontext der entstehenden Umweltbewegung der siebziger Jahre auch zu einem Gegenstand öffentlicher Debatten.

Die Überzeugung, daß von Mülldeponien dauerhafte Gefährdungen für Mensch und Natur ausgehen18 und der Einsatz modernster Technik erforderlich sei, um die Sicherheit neuer Deponien zu gewährleisten, schlug sich im 1972 in Kraft getretenen Abfallbeseitigungsgesetz (AbfG) nieder, das ausdrücklich das »Wohl der Allgemeinheit« und die »Un­

schädlichkeit der Abfallbeseitigung« zur Meßlatte für die Genehmigungs­

fähigkeit neuer Anlagen machte (§ 2 AbfG).19

6.2 Das Experiment ‘Entwicklung neuer Deponietechnik’

Die Verwissenschaftlichung der Deponietechnik sowie die Formalisierung und Rationalisierung der planerischen Entscheidungsverfahren sind zwei Aspekte des Abfallbeseitigungsgesetzes, die für unsere Fragestellung von besonderem Interesse sind. Das Gesetz markiert eine Zäsur, an der das evolutionäre Lernen aus Erfahrung ersetzt wurde durch einen systemati­

schen und methodisch kontrollierten Ansatz der Entwicklung neuer, si­

cherer Technik. Spätestens ab diesem Zeitpunkt kann der Bau einer neuen Deponie als großtechnisches Realexperiment verstanden werden.

Der experimentelle Charakter läßt sich anhand der drei Parameter bele­

gen:

(a) Wissensdefizit,

(b) innovative Hypothesen und

(c) Unkenntnis der Versuchsergebnisse.

18 Im Gegensatz zu Nuklearabfällen besitzen viele Abfallstoffe nicht einmal Halb­

wertzeiten; Schenkel vom Umweltbundesamt spricht daher in diesem Zusammen­

hang von modernen Pyramiden: »Deponien sind säkulare Ereignisse. Sie anzule­

gen, gleicht dem Pyramidenbau.« (Schenkel 1986a, S. 46) Vgl. auch Schenkel 1986b.

19 Über den ‘Stand der Technik’ als Umsetzung dieser Forderung wurde zudem ein eigendynamischer Prozeß der Entwicklung immer strengerer technischer Normen in Gang gesetzt, weil die Technikhersteller durch eine Erfüllung der Normen die Genehmigungsfähigkeit zu erzielen trachteten und die Genehmigungsbehörden dies ihrerseits nutzten, um eine Verschärfung der Sicherheitsstandards zu fordern.