• Keine Ergebnisse gefunden

Arno Bamme

Beide Vorträge, sowohl der von Sybille Krämer als auch der von Bettina Heintz, stellen wichtige Bausteine dar auf dem Wege von einer Philoso­

phie zur Soziologie der Technik, genau genommen, zu einer Soziologie des Computers. Meine Aufgabe lautete, ein Korreferat zum Beitrag von Sybille Krämer zu verfassen. Ich habe mich dieser Aufgabe wie folgt entle­

digt: Ich habe ihre Argumentation zu vier Thesen verdichtet; ich habe die von ihr behandelte Thematik inhaltlich etwas variiert, und ich habe schließlich den Versuch einer soziologischen Reformulierung unternom­

men. Dafür wurden mir fünf Minuten zur Verfügung gestellt. Ich gestehe, bei der inhaltlichen Substanz des Beitrages von Sybille Krämer ist das in dieser Zeitspanne nicht machbar. Man möge mir zehn Minuten zubilligen.

Meine erste These lautet: Das Kapitel der »Technik als Rationalitäts­

typus der Moderne« ist noch lange nicht zu Ende geschrieben. Im Gegen­

teil. Jetzt geht es erst richtig los. In ihm äußert sich die Langzeitwirkung eines Umbruchs in den symbolischen Grundlagen des Denkens, eine Langzeitwirkung, die, soweit wir wissen, ihren Ursprung bei den Griechen des Altertums nahm. Für die Ausprägung unterschiedlicher Wissen­

schaftstypen wurde wichtig der Unterschied von phonetischer und typogra­

phischer bzw. operativer Schrift, wie Sybille Krämer neuerdings formuliert.

Ich variiere das Thema und interpretiere: Was wir gegenwärtig erleben, ist nicht so sehr die Aufspaltung menschlichen Bewußtseins in reines Den­

ken und empirisches Bewußtsein, sondern die Implementierung von Ele­

menten reinen Denkens auf Maschinen. Daraus ergeben sich für den So­

ziologen zwei zentrale Fragestellungen:

1 Für Hinweise, Beratung und Kritik habe ich Peter Heintel (Klagenfurt) zu danken.

32 Bamme

(a) eine sozialhistorische: In welcher Gesellschaftsformation treten For­

men reinen Denkens überhaupt auf? Anscheinend läßt sich ihre Exi­

stenz weder biologisch-psychologisch aus der Natur des Menschen ab­

leiten. So weist George Herbert Mead zum Beispiel darauf hin, daß die Regulationsmechanismen, die der Verkehrspolizist bzw. die Am­

pelanlage auf einer Straßenkreuzung realisieren, weder im Arm des Polizisten noch im Ampelgehäuse zu finden sind, selbst wenn man sie mikrochirurgisch in ihre Einzelteile zerlegen würde. Das, was man ih­

ren Geist nennen könnte, ist eine Bestimmung der sozialen Figuration

»Straßenkreuzung«, immateriell. Noch lassen sich die Formen reinen Denkens aus dem Gattungsschicksal des Menschen, der Arbeit, erklä­

ren. Gearbeitet wurde immer, aber nicht alle uns bekannten Ethnien haben, worauf Piaget ausdrücklich hinweist, Formen reinen Denkens hervorgebracht;

(b) und eine konstruktive, gleichsam ingenieurwissenschaftliche, die, ge­

nau genommen, aus zwei Fragen besteht: Welche, um mit Norbert Elias zu sprechen, sozialen Figurationen lassen sich in soziotechnische überführen? Und: Gibt es Kalküle, die der Komplexität und Dynamik sozialer Figurationen besser gerecht werden als die bisherigen und die gleichwohl als Maschine realisierbar sind? Bettina Heintz verweist in diesem Zusammenhang auf den Konnektionismus. Zu nennen wäre aber vor allem wohl die Günther-Logik.

Meine zweite These lautet: Wahrheit wird nicht mehr empfangen, kon­

templativ, sondern erzeugt. Sie ist Resultat eines Konstruktionsprozesses.

Sybille Krämer bezeichnet diesen Sachverhalt als Ablösung des ontologi­

schen Symbolismus durch den operativen.

Ich variiere das Thema und reformuliere. Die Wahrheitsfrage der KI-Forschung lautet daher auch nicht: Werden Maschinen denken können wie Menschen, sondern: Welche Bereiche reinen Denkens lassen sich auf Maschinen implementieren? Diese Frage wird nicht philosophisch-kon­

templativ entschieden, sondern praktisch. Entweder es gelingt, eine ent­

sprechende Maschine zu bauen, oder es gelingt nicht.

Ein philosophisches ist zum ingenieurwissenschaftlichen Problem ge­

worden. Insoweit auch läßt sich formulieren, daß die klassischen Fragen der Philosophie des Deutschen Idealismus nach der Identität des Men­

Die Säkularisierung des Kantischen Transzendentalsubjekts 33 sehen, nach dem Verhältnis von Subjekt und Objekt heute wieder auf der Tagesordnung stehen, aber eben nicht als spekulativ-philosophische, son­

dern als solche technologischer Machbarkeit.

Ich komme zur dritten These: Konstruktion und Interpretation der Kal­

küle, sagt Sybille Krämer, werden voneinander abgetrennt. Dieser Vor­

gang hat zwei Implikationen von nicht zu unterschätzender Bedeutung.

Einmal büßen die Symbole, büßt reines Denken die »Aura transzendenta­

ler Bedeutungshaftigkeit« ein. Dieser Sachverhalt läßt sich mit Sybille Krämer als Säkularisierungsprozeß bezeichnen. Zum anderen löst sich die durch reines Denken ermittelte Wahrheit ab von den Körperempfindun­

gen, von der Intentionalität etc. der empirischen Subjekte. Sie folgt von nun an dem »Ariadnefaden der Symbole«. Ja, mehr noch: Ihr Konstruk­

tionsprozeß wird an Maschinen delegiert. Dieser Vorgang läßt sich mit Sy­

bille Krämer als die Radikalisierung des Säkularisationsprozesses der Sym­

bole bezeichnen.

Der Verlust transzendentaler Bedeutungshaftigkeit vollzieht sich na­

turwüchsig, als arbeitsteilig betriebener Prozeß. Mehr noch als seine Fol­

gen bleiben seine psychosozialen und sozioökonomischen Voraussetzun­

gen weitgehend unbewußt. Sie aufzuhellen, meine ich, wäre Aufgabe des Soziologen.

Ich variiere die Thematik und reinterpretiere mit soziologischem Im­

petus: Seit Hume und Kant wissen wir, daß es im menschlichen Bewußt­

sein Formen und Kategorien gibt, die sich zwar im Denken und Verhalten der einzelnen Individuen, der empirischen Subjekte, äußern, deren Eigen­

tümlichkeit aber gerade darin besteht, daß sie überindividuelle Gültigkeit haben. Sie sind aus der Erfahrung, das heißt empirisch, nicht ableitbar. Sie gehen vielmehr jeder Erfahrung voraus. Kant nennt sie deshalb apriorisch, Äußerungsformen eines wie immer gearteten transzendentalen Subjekts, und er denkt dabei in erster Linie an Mathematik und Logik.

Jedes empirische Subjekt eignet sich in einem psychogenetischen Pro­

zeß diese Denkformen und -kategorien an. Piaget und Mead beschreiben ausführlich den Prozeß dieser Aneignung. Weder handelt es sich hierbei um Phänomene göttlichen noch bloß biologischen Ursprungs, sondern um solche, die aus der Gesellschaftlichkeit menschlichen Seins hervorgehen.

Nicht beantwortet hingegen wird von ihnen die Frage, wie jener für die

34 Bamme empirischen Subjekte zwingende Geltungscharakter der Formen und Ka­

tegorien reinen Denkens soziogenetisch zustande gekommen ist. Wie kommt er in die Welt? Warum gilt er für einige Gesellschaftsformationen, für andere nicht? Die Fragen so zu stellen, heißt, die soziologische Auflö­

sung des Kantischen Transzendentalsubjekts betreiben. Überlegungen hierzu finden sich bereits bei Norbert Elias und Alfred Sohn-Rethel. Be­

merkenswert an der Argumentation Sohn-Rethels ist, daß die Formen und Kategorien reinen Denkens, so wie es sich schließlich auf Maschinen implementieren läßt, nicht der Auseinandersetzung der Menschen mit ih­

rer physischen Umwelt entspringen, sondern einer bestimmten Weise ihres sozialen Zusammenlebens: der gesellschaftlichen Synthese ihrer Lebenszu­

sammenhänge durch Warenproduktion. Konstitutiv für die Formen des intersubjektiven Bewußtseins ist die Sphäre des Tausches, nicht die der Produktion. Mit anderen Worten: Das Transzendentalsubjekt ist in der Warenform versteckt und nirgendwoanders.

Die Tauschabstraktion ist eine Form sozialen Handelns. Als solche ist sie Realabstraktion. Die Menschen handeln, real, nicht im Kopf. Das Cha­

rakteristikum des Tausches, sobald er sich als soziales Institut, das heißt, in systematischer Weise, etabliert hat, besteht andererseits aber gerade darin, daß im Tauschakt selbst, im Äquivalentsetzen von an sich U nter­

schiedlichem, von jeglichem Inhalt, von jeglicher Körperlichkeit, von jegli­

chem Sinnesempfinden abstrahiert werden muß. Alles Wahrgenommene wird quantifizierbaren Prinzipien unterworfen. In dieser Hinsicht unter­

scheidet sich der Warentausch substantiell vom Gabentausch, ein Vor­

gang, der den Menschen ihrerseits zur abstrakten Natur, zur sozialen R ea­

lität wird. Hierin, so steht zu vermuten, dürfte die tiefe Affinität von frü­

her griechischer und später bürgerlicher Kultur ihre Ursachen haben. Was ist so faszinierend an den Überlegungen Sohn-Rethels? Im Gegensatz zur semiotischen Transformation der Kantischen Transzendentallogik oder zum Konzept einer generativen Grammatik, also zu dem, was Sybille Krämer den »linguistic turn« nennt, verschiebt die Argumentation Sohn- Rethels nicht einfach das Problem. Und sie bezieht sich auf einen histo­

risch präzisen und überschaubaren Zeitraum, ein Tatbestand, der ihrer Falsifikationsfähigkeit zugute kommt. Was aber folgt aus alledem?

Die Säkularisierung des Kantischen Transzendentalsubjekts 35 Wenn es sich bei jenen Denkformen und -kategorien, die auf einer Maschine implementierbar sind, um säkularisierte Entäußerungen des transzendentalen Subjekts handelt, dann muß eine Kritik, die darauf insi­

stiert, eine Maschine könne nicht denken wie ein Mensch, weil sie nicht über Intentionalität verfüge, kein körperliches Empfinden habe etc., schon vom Ansatz her am eigentlichen Problem Vorbeigehen. In ihr wird eine Differenzierung in der Problemformulierung, wie sie in der Philosophie spätestens mit Hume und Kant erreicht worden ist: die erkenntnistheore­

tische Unterscheidung zwischen empirischem und transzendentalem Sub­

jekt, nicht berücksichtigt. Die Folgen sind katastrophal: Geist, ein soziales Phänomen, wird im Gehirn gesucht (neurophysiologischer Zugriff) oder, ohne eigentlich recht zu wissen, was es sei, auf Maschinen simuliert (inge­

nieurwissenschaftlicher Zugriff). Folgerichtig wird man in der KI-For- schung Informatiker antreffen, Neurophysiologen und Kognitionspsycho­

logen, wohl aber kaum einen Soziologen. Ich halte das, gelinde gesagt, für einen Skandal.

Ich komme zur vierten, zur letzten These: Die Radikalisierung im Sä­

kularisationsprozeß der Symbole besteht darin, so Sybille Krämer, daß die Zeichen, vermittelt über den Computer, heute beginnen, Realität zu er­

zeugen. Damit erhalten sie ontologischen Rang.

Ich ergänze: Der einzige, der meines Wissens eine ontologische Be­

gründung dieses Vorgangs, und zudem in einer anspruchsvollen, die Gren­

zen der zweiwertigen Logik für das Bewußtsein von Maschinen aufzeigen­

den Weise, geliefert hat, ist Gotthard Günther. Hatte Alfred Sohn-Rethel aus einer erkenntnistheoretischen eine soziologische Fragestellung ge­

macht, hatte er Ökonomie in Soziologie verwandelt und, indem er die so­

zialhistorischen Wurzeln des Kantischen Transzendentalsubjektes freileg­

te, der abendländischen Philosophie eine Rekonzeptualisierung ermög­

licht, eine Alternative zwischen der Scylla des Idealismus und der Charyb- dis des Materialismus, so wird zeitgleich eine solche Alternative von Gott­

hard Günther entworfen, indem er philosophisches Denken als For­

schungsprogramm rekonzeptualisiert in konstruktiver, gleichsam in inge­

nieurwissenschaftlicher Absicht, ein Programm, dessen Realisierung, wie ich in meiner ersten These skizziert habe, unverzichtbar sozialwissen­

schaftliche Kompetenzen erfordert. Mit der Nennung seines Namens

36 Bamme

möchte ich, gleichsam programmatisch, schließen. Das paßt auch deshalb gut, weil Gotthard Günther in diesem Jahr 90 Jahre alt geworden wäre.

Literatur

Apel, Karl-Otto (1981): »Von Kant zu Peirce: Die semiotische Transformation der Transzendentalen Logik«. In: P. Heintel/L. Nagl (Hg.): Zur Kantforschung der Ge­

genwart. Dannstadt

Apel, Karl-Otto (1982): »Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen«. In: K.-O. Apel (Hg.): Sprachpragmatik und Philosophie.

Frankfurt a. M.

Bamme, Arno (1990): »Transcendental and Empirical Consciousness. Sociological and Epistemological Aspects of Cognitive Science«. In: P. Baumgartner (Hg.): Intention- ality in Cognitive Science, Part II. Klagenfurt

Bamme, Arno (1989): »Das Metonym ‘KT. Soziologische Anmerkungen zum Projekt der implementierten Theorie«. In: K. Leidlmair/J. Retti (Hg.): Informatik-Fachbe­

richte 208. Berlin etc.

Bamme, Amo / Kotzmann, Ernst / Oberheber, Ulrike (1989): »Mechanik des Den­

kens. Philosophische Aspekte der Künstlichen Intelligenz (KI)«. In: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie, 4

Chomsky, Noam (1970): Sprache und Geist. Frankfurt a. M.

Dreyfus, Hubert L. / Dreyfus, Stuart L. (1989): »Schöpfung des Geistes oder Modellie­

rung des Gehirns? Künstliche Intelligenz am Scheideweg«. In: Klagenfurter Beiträge zur Technikdiskussion, 23

Elias, Norbert (1980): Überden Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychoge­

netische Untersuchungen, 1. Band. Frankfurt a. M.

Günther, Gotthard (1963): Das Bewußtsein der Maschinen. Krefeld, Baden-Baden Heintz, Bettina (1990): Modemisierungsstrategien und Computerarchitekturen (in die­

sem Band)

Holling, Eggert / Kempin, Peter (1989): Identität, Geist und Maschine. Reinbek Hume, David (1982): Eine Untersuchung überden menschlichen Verstand. Stuttgart Kant, Immanuel (1962): Kritik der reinen Vernunft. Hamburg

Krämer, Sybille (1990): Die Säkularisierung der Symbole: Ein Projekt der Moderne und seine Folgen (in diesem Band)

Leidlmair, Karl (1989): Das Sein des Denkens. Habilitationsschrift. Uni. Salzburg Mead, George H erbert (1973): Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt a. M.

Minsky, Marvin (1990): Mentopolis. Stuttgart

Piaget, Jean (1984): Psychologie der Intelligenz. Stuttgart

Searle, John R. (1986): Geist, Him und Wissenschaft. Frankfurt a. M.

Sohn-Rethel, Alfred (1989): Geistige und körperliche Arbeit. Weinheim

Winograd, Terry / Flores, Fernando Erkenntnis Maschinen Verstehen. Berlin