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Ingo Braun, Günter Feuerstein und Claudia von Grote-Janz

Einleitung

In unserem Beitrag werden wir uns nicht mehr mit den einzelnen techni­

schen Artefakten wie dem Computer oder dem Airbus 320 befassen, son­

dern mit systemischen Zusammenhängen von Techniken. Ein besonders spektakuläres Beispiel hierfür ist die Organtransplantation. Ihr systemi­

scher Charakter bildet häufig den Aufhänger für kurze Notizen, die man gelegentlich in Zeitungen findet. Ein Beispiel:

Auf dem Weg von New York über Paris und Frankfurt nach Öster­

reich stellt sich 1985 im Fall einer Niere heraus, daß sich der körperliche Zustand des vorgesehenen Rezipienten so verschlechtert hat, daß er nicht operiert werden kann. Da der nächste auf der für diese Niere erstellten Warteliste ein amerikanischer Patient war, wurde die Niere auf der Zwi­

schenstation Frankfurt kurzerhand umdirigiert, mit der nächsten Fracht­

maschine nach Paris befördert und von dort aus wie auf dem Hinflug mit der Concorde in die USA zurückgeschickt (Associated Press, 14.2.1987).

Was hinter solchen Abläufen an Techniken und technischen Netzen steht, geht weit über das Sammelsurium von Medizintechniken hinaus, das gemeinhin mit dem Begriff der »Apparatemedizin« assoziiert wird. Durch aufeinanderbezogene Informations- und Kommunikationstechniken (für die Rezipienten-Selektion), den Einsatz von im engeren Sinn medizini­

schen Techniken (für die Konservierung, die Ex- und Implantation der Organe) und den vereinnahmenden Zugriff auf »externe« Systeme (bis hin zu militärischen Düsenfliegern) werden im Transplantationsgeschehen sehr heterogene Akteure, Institutionen und technische Infrastrukturen verkoppelt. Die Transplantationstechnik stellt somit einen technischen Entwicklungsstrang dar, bei dem erstmals im größeren Umfang zwischen­

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klinische und überregionale technische Vernetzungen eine Rolle spielen.

Diese Netze sind notwendig, um die knappen Organressourcen unter ex­

tremem Zeitzwang möglichst weitgehend auszuschöpfen.

Die starke technische Vernetzung von medizinischen und nicht-medi- zinischen Komponenten, von Apparaten und Handlungsabläufen läßt uns bei der Organtransplantation von einem großen technischen System spre­

chen (vgl. Joerges 1988). Seine Entwicklung vom Ende der sechziger Jahre bis heute ist von einer rasanten Expansion gekennzeichnet - nicht nur ge­

messen an der Zahl der durchgeführten Transplantationen1 und dem Spektrum transplantierbarer Organe2, sondern auch an seiner zunehmen­

den netztechnischen Dichte. Diese äußert sich in der steigenden Zahl von Transplantationszentren und der zunehmenden Einbindung nicht-trans- plantierender lokaler Kliniken in die überregionalen Netzstrukturen.

Die Frage, die wir in diesem Beitrag aufgreifen wollen, zielt auf eben dieses Wachstum netztechnischer Strukturen. Warum beantworten große technische Systeme Funktionsprobleme - wie in unserem Fall die Organ­

knappheit - durch technisches Größenwachstum und über welche Mecha­

nismen geschieht dies.

An späterer Stelle wollen wir derartige Mechanismen mit Blick auf zwei Systemkontexte der Organtransplantation skizzieren:

1. Für den Wissenschaftskontext:

Angesichts der Forschungsintensität des Transplantationssystems stellt sich die Frage, welche Rolle die Wissensbeschaffung für das Wachstum des Systems spielt.

1 Pichlmayr (1990a, S. B-2679) gibt dafür folgende Zahlen an: Niere: im Jahr 1985:

1275 Transplantationen, 1989: 1960; Leber: im Jahr 1985: 58 Transplantationen, 1989: 263; Herzen: im Jahr 1985: 73 Transplantationen, 1989: 244.

2 Das Transplantationsgeschehen erobert zunehmend neue Organbereiche. In jüng­

ster Zeit konzentrierte sich das experimentelle Interesse der Transplanteure vor al­

lem auf die Lunge, den Dünndarm, auf Nerven, auf Gehirnzellen, aber auch auf kombinierte Transplantationen von Herz-Lunge, Niere-Pankreas, Leber-Pankreas oder gar auf sogenannte »multiple« bzw. »Cluster«-Transplantationen wie Herz-Le- ber-Pankreas (Altmann 1989, S. 10) oder Leber-Pankreas-Zwölffingerdarm (Bi­

schoff 1990, S. 42).

Organtransplantation und technisch vernetzte Systeme 123 2. Für den Alltagskontext:

Angesichts des spektakulären Charakters der Transplantationsmedizin stellt sich die Frage, welche Rolle alltagsweltlichen Deutungen und Akzeptanzproblemen in der Entwicklung des Systems zukommt.

Bevor wir die Bezüge des Transplantationssystems zu Wissenschaft und Alltag aufgreifen, zunächst etwas zu den netztechnischen Strukturen selbst.

Netzstrukturen des Transplantationssystems

Das technische Netz des Transplantationswesens verbindet ein breites Spektrum unterschiedlicher Techniken: nämlich transplantationsspezifi­

sche, allgemein medizinische, apparative, chemische und biologische Techniken. Diese kommen in einem relativ heterogenen Spektrum von medizinischen und nicht-medizinischen Einrichtungen zum Einsatz und verbinden dadurch zum Beispiel die Eurotransplant Foundation (die europäische Daten- und Organisationszentrale der Transplantationschiru- gie3), regionale Transplantationszentren, normale Krankenhäuser, Ge­

webe- und Organbanken, Typisierungslabors, andere Transplantations- Datenzentren4 und schließlich auch Einrichtungen des Rettungswesens, des Funk- und Flugwesen. Die Vernetzung selbst wird dabei im wesentli­

chen über vorhandene kommunikations- und verkehrstechnische Infra­

struktursysteme hergestellt.

Nehmen wir, um dies zu illustrieren, als Beispiel das von Eurotrans­

plant Ende der achtziger Jahre eingerichtete PIONEER-Datenverarbei- tungssystem (Abbildung 1) (vgl. Broom 1988). Hierdurch werden die

re-3 Eurotransplant wurde 1967 in der niederländischen Stadt Leiden gegründet. Dies geschah in der Absicht, durch die Entwicklung technisch-organisatorischer Struktu­

ren eine medizinische Optimierung der Organverteilung und Rezipientenselektion in den fünf Mitgliedsländern (Österreich, Belgien, Bundesrepublik Deutschland, Niederlande, Luxemburg) zu realisieren (vgl. Grounewoud/M uderlak/Chen 1987).

4 Wie beispielsweise das TIS, ein vom KfH (Kuratorium für Dialyse und Nierentrans­

plantation) eingerichtetes Transplantations-Informations-System, das netztechnisch an der Schnittstelle des Datenaustausches zwischen den bundesdeutschen Trans­

plantationseinrichtungen und der Eurotransplant Foundation plaziert wurde (vgl.

Eurotransplant Newsletter 55, May 1988, S. 11; KfH 1990, S. 17 f.).

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Organtransplantation und technisch vernetzte Systeme 125 gionalen Transplantationszentren - unter Nutzung modernster Kommuni- kationstechniken - online mit dem Zentralcomputer von Eurotransplant verknüpft. Lokal anfallende und erfaßte Daten, beispielsweise über die aktuelle Transplantabilität eines Patienten, werden zeitnah, das heißt in wenigen Minuten, zum Zentralcomputer weitergeleitet und dem Daten­

pool aller wartenden Rezipienten hinzugefügt. Dieses System ermöglicht so eine ständige Anpassung der Datenlage an den körperlichen Zustand der potentiellen Rezipienten. Darüber hinaus erhalten die beteiligten re­

gionalen Transplantationszentren eine jeweils aktuelle Version ihrer in­

ternen Warteliste. Wird ein Spenderorgan verfügbar, erlaubt dieses Sy­

stem die computergesteuerte Selektion eines geeigneten Rezipienten, vor allem aber auch ein Gegen-Checken der regionalen Wartelisten mit den umfassenden Wartelisten von Eurotransplant.

Derartige Vernetzungen bringen für die einzelnen regionalen Kliniken in unterschiedlicher Weise »Autonomiebegrenzungen« mit sich. Erstens verlangt der räumlich und funktionell verteilte Transplantationsbetrieb hohe Normierungsleistungen in bezug auf die eingesetzten Techniken (zum Beispiel der Gewebetypisierung) und die angewandten Verfahrens­

weisen (zum Beispiel bei der Explantation und Konservierung). Ebenso müssen Datenformate und Behandlungsmethoden standardisiert und zwi­

schen allen Kliniken kompatibel sein. Diese Regeln und Standards wer­

den zentral festgelegt und sind für die Kliniken verpflichtend.5

Regelungsbedarf besteht auch für die Kooperationsbeziehungen zwi­

schen den Kliniken und den verschiedenen beteiligten Professionen, und zwar nicht nur auf der Ebene der Organverteilung, sondern auch auf der Ebene des konkreten Transplantationsgeschehens. Besonders unter dem hohen Zeitdruck - wenn sich beispielsweise bei einer Organentnahme mehrere Explantationsteams verschiedener regionaler Transplantations­

zentren in den Betrieb eines lokalen Spender-Krankenhauses und dessen Infrastruktur »einklinken« - besteht die Gefahr von Mißverständnissen,

5 Beispiele solcher Probleme gibt es genug. Insofern bilden sie auch den Ausgangs­

punkt systempolitischer Überlegungen zur Entwicklung angemessener Umgangsfor­

men und formalisierter Abläufe in externen Kooperationsbeziehungen (vgl. Euro­

transplant Newsletter 66, July 1989, S. 5; Offermann 1987, S. 3; Smit/Heigel/Lau- chart 1990).

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Egoismen und Organisationshavarien, die letztlich zum Organverlust füh­

ren können.

Darüber hinaus können die Aktivitätsschübe, die dem Aufspüren eines Organspenders folgen, den klinischen Normalbetrieb durchaus über­

fordern. So wird nicht nur die Hierarchie des normalen Klinikbetriebs und die übliche Reihenfolge klinischer Aktivitäten unterlaufen. Auch und ge­

rade die Infrastrukturnetze des Explantationskrankenhauses werden gleichsam »überfallartig« von den verschiedenen Teams für eine Kaskade von größtenteils gleichzeitg ablaufenden Netzaktivitäten in Anspruch ge­

nommen: für das Einholen der Spendeneinwilligung, für die Vorbereitung der Ex- und Implantation, für den Austausch von Informationen über den Spender und seine Organe, für den datenförmigen Abgleich von Gewebe­

eigenschaften des Spenders und des potentiellen Rezipienten aus dem Gesamtpool, für die stoffliche Gewebekompatibilitätsprüfung, für die Ex­

plantation, den Transport von Gewebeproben, Organen, Patienten, Ärzte­

teams und schließlich für die Implantation.

Ein weiterer wichtiger Vernetzungsaspekt resultiert unmittelbar aus der zentralen Funktionsbestimmung des Organtransplantationssystem selbst. In realistischer Sicht kann man das »Transplantieren« selbst als einen Akt der technischen Vernetzung von menschlichen Körpern begrei­

fen. Im Fall einer Multi-Organspende - im systemischen Jargon bezeich­

net man solche Spender als MODs (Multi-Organ-Donors) - wird der Kör­

per eines Toten mit mehreren verschiedenen Körpern von Rezipienten technisch vernetzt, das heißt, die verschiedenen Spenderorgane finden in verschiedenen Rezipienten mit unterschiedlichen Gebrechen ein neues körperliches und technisches Umfeld.

Wenn man alle die technischen Prozesse berücksichtigt, denen das ge­

spendete Organ, um es am Funktionieren zu halten, schon im Leib des to­

ten Spenders ausgesetzt wird (organprotektive Therapie; vgl. Klöss/ Fret- schner/Baumann 1990), dann auf dem Weg zum Rezipienten (Konservie­

rung) und schließlich im Rezipienten-Körper selbst (Immunsuppression, Immunmodulation; vgl. Pichlmayr 1986), kann das Transplantat eher als ein »organisches Präparat« denn als »natürliches« Organ verstanden wer­

den.

Organtransplantation und technisch vernetzte Systeme 127 Die Vernetzung der Körper beinhaltet zudem eine Vernetzung der einzelnen Spender und Rezipienten mit dem technischen System, über das ihre Krankheitsdaten erhoben, zusammengeführt und miteinander ab­

geglichen werden. Welche Körper am Ende des Verfahrens de facto mit­

einander vernetzt werden, wird zunächst probeweise, also experimentell durch ein Gewebematching ermittelt.

Wie relativ eng hierdurch der professionelle und der alltägliche Kör­

perumgang aufeinander bezogen werden und wie vergleichsweise weit das technische Netz des Transplantationswesens in den Alltag seiner Klientel hineinragt, verdeutlicht in besonders plastischer Weise das ihm eigene

»Pieperwesen«. Potentielle Rezipienten erhalten einen Europieper, der es ihnen erlaubt, sich frei zu bewegen und dennoch jederzeit bei einer geeig­

neten Organspende abrufbar zu sein.

Mittlerweile erstreckt sich das Pieperwesen sogar auf das Leben mit dem Transplantat. So erhalten Herztransplantierte zusammen mit dem neuen Organ ein kleines Gerät eingepflanzt, das zum einen die Funktion eines handelsüblichen Herzschrittmachers erfüllt, zum anderen aber als nicht-invasives Warnsystem für immunologische Abstoßungsreaktionen fungiert. Basis dafür ist die automatische Messung und Auswertung der EKG-Potentiale im Herzmuskel. Dies jedoch erfolgt nicht allein durch das implantierte Artefakt. Denn gesteuert werden die Funktionen des mes­

senden Schrittmachers über eine Empfangsspule, die auf die Hautoberflä­

che des Transplantierten aufgeklebt werden kann. Auf diesem Weg gelan­

gen die erhobenen Daten dann auch wieder nach »außen« - an ein bettsei­

tiges Gerät und schließlich telemetrisch (über das normale Telefonnetz) zum klinikseitigen Zentralcomputer.6

Schließlich realisiert sich die Vernetzung der Körper noch als eine Vernetzung potentieller Spender. Ein großer Ausschnitt der technischen Netzstrukturen des Transplantationswesens dient der Organbeschaffung, genauer gesagt, der virtuellen Verknüpfung des Transplantationsbetriebs mit im Prinzip jedem beliebigen menschlichen Körper, der in irgendeinem Winkel der Gesellschaft in transplantationsgeeigneter Weise (also auf dem Weg des Hirntods) die Grenze des Lebens überschreitet.

6 Vgl. Warnecke u. a. 1986; Magnetfelder des Herzens verraten Abstoßungsreaktio­

nen (FAZ vom 1.11.1989); M üller/W amecke/Hetzer 1990.

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Selbst wenn es sich um virtuelle Netzleistungen handelt, wird dadurch eine Realität geschaffen, die jeden zum potentiellen Spender macht - eine Tatsache, die sich in der Betroffenheit und einem latenten Unbehagen der Bevölkerung gegenüber der Transplantationsmedizin widerspiegelt.

Mit diesem letzten Beispiel technischer Vernetzung kommen wir auf das entscheidende Funktionsproblem des Transplantationssystems zurück:

Die chronische Lücke zwischen dem Angebot an Organspenden und der Nachfrage durch organkranke Rezipienten.

Von Beginn an hatten es die Transplantationsmediziner mit diesem Knappheitsproblem zu tun - einem Problem, das sich mit zunehmender Entfaltung des Transplantationssystems keineswegs verringert, sondern vergrößert hat (vgl. Abbildung 2). Die Transplantationsfrequenz hat sich also erhöht, zugleich haben sich aber die Chancen, ein Transplantat zu be­

kommen, für die zur Transplantation vorgesehenen Patienten verringert.

Im weiteren wollen wir nach Ursachen für die expansive Dynamik des Transplantationssystems suchen. Wir vermuten dabei, daß hierfür spezifi­

sche Rückkopplungsmechanismen verantwortlich zu machen sind, und zwar zum einen im Verhältnis des Transplantationssystems zu seinen wis­

senschaftlichen Kontexten und zum anderen auch im seinem Verhältnis zu akzeptanz- und deutungsrelevanten Alltagskontexten.

Abbildung 2

10

8 x 1000 6

4

2

Organtransplantation und technisch vernetzte Systeme

0

1968 1971 1974 1977 1980 1982 1984 1986 1988

The "g a p " betw een the total num ber o f patients awaiting renal transplantation and the num ber of patients transplanted

1968 1970 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1987 1988 Total waiting list 211 862 1197 1583 1690 2065 2865 3756 5285 7412 8268 9086

Totaltranspl.* 54 217 356 606 697 903 1231 1493 2023 2468 2738 2736

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Wissenschaftskontexte des Transplantationssystems

Die moderne Transplantationschirurgie hat einen langen Vorlauf in der experimentellen medizinischen Forschung. Mittlerweile gilt die Nieren-, Herz- und Lebertransplantation aus der Sicht der »Profession« als klinisch anerkannte und relativ erfolgsstabile Behandlungsmethode.7 Das Trans­

plantationsgeschehen konnte sich in diesen Organbereichen auf breiter Basis etablieren. Seine weiträumig organisierten Handlungsabläufe, die technischen Operationen und die Operationstechniken haben einen ho­

hen Routinegrad erreicht. Dennoch ist das System in vielen seiner Struk­

turen experimentell geblieben. Noch immer ist der Bedarf an Forschung und autoritativem Wissen immens. Und er konzentriert sich nach wie vor auf das ungelöste Hauptproblem des Transplantationswesens: den chroni­

schen Mangel an transplantierbaren Organen.

An drei Beispielen (der Immunforschung, der Gentechnik und der Be- troffenenforschung) wollen wir zeigen:

1. in welcher Weise Transplantationsmediziner auf Wissenschaft und Forschung zurückgreifen und welche Konsequenzen dies für die tech­

nischen Strukturen des Transplantationssystem hat;

2. warum die Versuche bislang gescheitert sind, durch den Rückgriff auf Wissenschaft und Forschung das Transplantatangebot der Nachfrage

»nachzuführen«, und

3. inwieweit diese Wissenschaftsschleifen auch durch legitimatorische Zwänge gesteuert sind.

7 Pichlmayr (1989a, S. 131; 1989b, S. 21). Erfolgsstabüität zeigt sich aus systemischer Sicht in den durchschnittlich erreichten Transplantat-Funktionsraten und/oder Pa- tienten-Überlebensraten. Ein Jahr nach erfolgter Operation beträgt die Patienten- Überlebensrate bei der Nierentransplantation ca. 95 % (die Transplantat-Funktion 80 bis 90 %), bei der Lebertransplantation 80 % (elektive Indikation) bzw. 30 % (Notfallindikation), bei der Herztransplantation ca. 80 % (vgl. ebenda). Bei Leber­

und Herztransplantationen sind Transplantat-Funktionsraten und Patienten-Über- lebensraten in der Regel - also mit Ausnahme von Zweit- oder Mehrfachtransplan­

tationen - identisch.

Organtransplantation und technisch vernetzte Systeme 131 Der Rückgriff auf die Immunforschung

Die Immunforschung, die für die Herausbildung der netztechnischen Strukturen des Transplantationssystems von entscheidender Bedeutung war und ist, hat sich in zwei transplantationsmedizinischen Schlüsseltech­

niken niedergeschlagen: der Immunsuppression und der Gewebetypisie­

rung. Beide Techniken sollen ein möglichst hohes Maß an Kompatibilität von Rezipient und transplantierbarem Organ herstellen, sollen also absto­

ßungsbedingte Organverluste verringern und zur besseren Ausnutzung des begrenzten Organangebots beitragen.

Bei der Immunsuppression handelt es sich um eine Technik zur Mani­

pulation des Rezipientenkörpers. Sein Abwehrsystem wird stumpf gegen­

über dem fremden Organ. Die Technik der Gewebetypisierung setzt dage­

gen bereits im Vorfeld der Transplantation an. Sie dient dazu, den von seiner Gewebestruktur her am besten geeigneten Rezipienten für ein Transplantat zu identifizieren.

Auch wenn sich beide Techniken im Hinblick auf die Kompatibilitäts­

problematik ergänzen, im Hinblick auf den Einfluß, den sie auf die Ent­

wicklung der Systemstrukturen ausüben, befinden sie sich in Konkurrenz.

In der Aufbauphase der Organtransplantationssysteme waren die Mög­

lichkeiten der Immunsuppression noch sehr beschränkt. Die Intensität im­

munologischer Abstoßungsreaktionen und der Transplantationserfolg korrelierten sehr eng mit dem Grad der erreichten Gewebeübereinstim­

mung (vgl. van Rood 1989). Dies steuerte den Wissensbedarf in die Rich­

tung kompatibilitätsorientierter Problemlösungen, führte zur Entwicklung von standardisierter Gewebe-Typisierungstechniken und zu einer weiträu­

migen und technisch vernetzten Systemauslegung.

Vor dem Hintergrund einer unzureichenden Immunsuppression konn­

te sich die kompatibilitätsorientierte Rezipienten-Selektion noch unange­

fochten als das effektivere Verfahren des »ökonomischen« Umgangs mit Organressourcen behaupten. Und zwar nicht nur im eng medizinischen Sinn. D enn die als medizinisches Roulette inszenierte Organverteilung er­

zeugte nicht nur eine verbesserte Transplantationsstatistik, sondern auch den Eindruck von Transplantationsgerechtigkeit. Der hohe Automatisie­

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rungsgrad der Selektions-Abläufe erwies sich unter dem Druck der Organ­

knappheit als enorm legitimationswirksam.

Neben der Kompatibilisierung durch Selektion haben jedoch auch neu entwickelte Techniken der Immunsuppression dazu beigetragen, eintre­

tende Abstoßungsreaktionen zu bekämpfen. So brachte die seit Anfang der achtziger Jahre verfügbare Substanz Cyclosporin A (CyA) einen sprunghaften Anstieg der durchschnittlichen Transplantat-Funktionsra­

ten.8

Bezogen auf das Problem der Organknappheit hat der Rückgriff auf die immunologische Forschung zur erheblich besseren Nutzung des be­

grenzten Organreservoirs geführt und insbesondere den Bedarf an Re- Transplantationen nach einer Organabstoßung verringert. Entsprechend mehr Patienten konnten so mit den begrenzt verfügbaren Organen ver­

sorgt werden. Die bessere Beherrschung immunologischer Faktoren hat jedoch noch andere Dimensionen des Erfolgs: Zum einen erhöhte sich die Lebensqualität von Transplantierten. Und zum anderen wurde es möglich, die medizinische Indikation auf eine größere Patientengruppe, beispiels­

weise auf ältere Patienten, auszudehnen. Im Ergebnis führten die Erfolge der wissenschaftlich-technischen Lösungen zur Ausweitung der Nachfrage nach Spenderorganen.

Mit der Verbesserung der Immunsuppression steuert das Transplanta­

tionssystem in eine Strukturkrise. Denn die erhöhte Wirksamkeit der neuen Substanzen löste Diskussionen darüber aus, ob ein kompatibilitäts­

orientierter Organaustausch im gegebenen Umfang oder überhaupt noch notwendig ist.9 Tatsächlich änderten sich Anfang 1987 die Austauschkrite­

rien von Eurotransplant so, daß die regionalen Zentren weniger zum Or­

ganexport gezwungen sind als zuvor. Mit der neuentdeckten Substanz FK 506 bahnt sich ein weiterer Entwicklungssprung in der Immunsuppression

8 Die Ein-Jahres-Transplantatfunktionsrate stieg mit CyA in der Nierentransplanta­

tion auf über 90 % im Vergleich zu etwa 55 % bei konventioneller Therapie. Nach vier Jahren liegt das Verhältnis bei knapp 80 % (CyA) zu unter 50 % (Pichlmayr

1986).

9 Eine explizit systempolitische Position bezog dabei Prof. Land (1985, S. 131; 1989, S. 20). Ausführlicher zur Immunsuppression und Systempolitik siehe in Feuerstein (1990, S. 50 ff.).

Organtransplantation und technisch vernetzte Systeme 133 an.10 Die Gewebetypisierung verliert dadurch noch mehr an Bedeutung.

Und mit ihr die relativ kritikfesten medizinischen Kriterien der Rezipien- ten-Selektion. Es entsteht ein Vakuum für »soziale« Kriterien der Organ­

zuteilung.11 Bedroht sind dadurch nicht nur die Systemstrukturen, son­

dern auch das Steuerungsmonopol der Transplantationschirurgie.

Vor diesem Hintergrund versteht sich die Suche von Transplantations­

medizinern nach neuen medizinischen Kriterien und neuen »ausgeklügel­

ten Systemen« zur »objektiven« Empfängerselektion (so auch schon Land 1985). So wurden zwischenzeitlich sämtliche Transplantationszentren der Bundesrepublik zusätzlich mit einem Transplantations-Datenzentrum ver­

bunden, dessen Datenbestand in die transplantationsimmunologische For­

schung eingeht. Ein Ziel dieser Forschung ist es, die fortbestehende Nütz­

lichkeit einer hohen Gewebeübereinstimmung und des weiträumigen Or­

ganaustausches statistisch nachzuweisen.12 Darüber hinaus eröffnet das Datenzentrum die Möglichkeit, weitere Selektion-Kriterien gewichtet fest­

zulegen und »damit angesichts des Mangels, der auch weiterhin bestehen wird, zu bewirken, daß das jeweils verfügbare Organ der richtige, also auch gerecht ermittelte Empfänger bekommt.« (KfH 1990) Die großtech­

nische Auslegung des Transplantationssystems generiert hier sozusagen die Legitimation ihrer selbst.

Diversifizierung des Organangebots durch Genforschung

Während die immunologische Forschung eng mit den Einrichtungen des Transplantationssystems verknüpft ist, koaliert die experimentelle Trans­

plantationschirurgie mit Forschungs- und Wissenschaftsaktivitäten, die weit außerhalb des Systems angesiedelt sind. Ein besonders anschauliches Beispiel dafür bietet die Entwicklung der Hirngewebetransplantation.

Denn auch hier herrschen Knappheitsprobleme bei der Organversorgung,

10 Verschiedentlich wird FK-506 bereits als Wunderdroge, als Jahrhundert-Medika­

ment gepriesen (Fletcher 1990; Der Spiegel, 44/1989, S. 305).

11 Ausführlicheres zur Kriterien-Diskussion in der Organverteilung siehe in Feuer­

stein 1991.

12 Vgl. Datenbank TIS in Heidelberg soll Überblick schaffen. In: Ärzte-Zeitung vom 9./10. Juni 1989.

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die die Akteure des Transplantationssystems durch Rückgriffe auf For­

schung und Wissenschaft zu lösen versuchen.

Die Transplantation von Hirngewebe konzentriert sich gegenwärtig auf die Therapie des Parkinsonismus, einer Krankheit, die noch bis vor wenigen Jahren als unheilbar galt. Parkinson-Patienten leiden an einer Art »Schüttellähmung«. Ihre Bewegungssteuerung ist gestört, weil die Hirnzellen kein Dopamin produzieren. Trotz einiger Fehlversuche und manch wissenschaftlicher Zweifel zeichnen sich seit 1987 mit der Trans­

plantation von Hirngewebe erste Behandlungserfolge ab.13

Als zentrale Barriere für die Transplantation von Hirngewebe haben

Als zentrale Barriere für die Transplantation von Hirngewebe haben