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Schriftenreihe der Forschungsgruppe "Große technische Systeme" des Forschungsschwerpunkts Technik - Arbeit - Umwelt am Wissenschaftszentrum Berlin fiir Sozialforschung FS II 93-504

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Schriftenreihe der Forschungsgruppe "Große technische Systeme"

des Forschungsschwerpunkts Technik - Arbeit - Umwelt am Wissenschaftszentrum Berlin fiir Sozialforschung

FS II 93-504

Steuerung in die Nichtsteuerbarkeit.

Die erstaunliche Geschichte

des deutschen Telekommunikationswesens Herbert Kubicek

Wissenschaftszentrum Berlin fiir Sozialforschung gGmbH (WZB) Reichpietschufer 50, D-1000 Berlin 30

Tel. (030)-25 491-0 Fax (030)-25 491-684

(2)

STEUERUNG TN DTE NICHTSTEUERBARKEIT. DIE ERSTAUNLICHE GESCHICHTE DES DEUTSCHEN TELEKOMMUNIKATIONSWESENS Zusammenfassung

Die Telekommunikation, früher Femmeldewesen genannt, gilt als klassisches Beispiel eines Infrastruktursystems oder großen technischen Systems. In den letzten Jahren wurde es tiefgreifenden technischen, organisatorischen und ordnungspolitischen Änderungen unterzogen, die vor allem damit begründet wurden, den Strukturwandel in die sogenannte Informationsgesellschaft zu unterstützen und die internationale Wettbewerbsfähigkeit der informations- und kommunikationstechnischen Industrie zu stärken. In dem Beitrag wird argumentiert, daß diese Steuerungsversuche einem technologischen und einem ordnungspolitischen Irrtum erlegen und die Ziele nicht erreicht worden sind. Es gibt heute kein Verfahren mehr für eine Infrastrukturplanung, wie es in anderen Bereichen existiert. Da die Veränderungen nicht gegen den zuständigen Minister, sondern mit seiner maßgeblichen Unterstützung durchgeführt wurden, wird schließlich gefragt, ob es sich wirklich um Irrtum, Sabotage oder das Zauberlehrlingssyndrom gehandelt hat.

STEERING INTO UNCONTROLLABILITY. THE AMAZING STORY OF GERMAN TELECOMMUNICATIONS

Summary

Telecommunication is a typical case o f a technical infrastructure or a large technical system. During the last years it has undergone radical technical and regulatory changes, which were to create the infrastructure o f the coming information society and to improve competitiveness o f the information and communication technology industry. The article argues that these attempts o f control were based on a technological and a regulatory error and that they did not succeed in reaching their goals. Rather, the respective industry as well as the Telecom are in big economic trouble and there is no procedure for planning the development o f the network infrastructure which would reduce uncertainty for manufacturers and users only a little bit. As the interventions were not taken against the responsible minister but with his strong support, the author finally raises the question, whether this is really due to errors, a partisan strategy, or the magician’s apprentice syndrome.

(3)

INHALT

1. Einführung 1

2. Das Fernmeldewesen als großes technisches System 8 2. / Abgrenzungskriterien großer technischer Systeme 8 2.2 Die technische Dimension des Fernmeldewesens und seine

historische Entwicklung 9

2.3 Die institutionelle Dimension des Fernmeldewesens und

seine Entwicklung 16

2.4 Die Interaktionsdimension Dominante Handlungsorientierungen 22 3. Universalnetz und Deregulierung als Leitbilder für die

Transformationsphase in den 80er Jahren 26 3.1 Das Fernmeldewesen in den 80er Jahren vor neuen

Herausforderungen 27

3.2 Das globale Ziel: Errichtung der Infrastruktur für die

Informationsgesellschaft 32

3.3 Das Integrierte Universalnetz als technologisches Leitbild 35 3.4 Wettbewerb als ordnungspolitisches Leitbild 46 4. Der technologische Irrtum:

Die andere Welt der Datenverarbeitung 54

4.1 Das Fernsprechnetz als offene Infrastruktur 54 4.2 Die Entwicklung der Datennetze: Von Anwendemetzen

zu öffentlichen Netzen 57

4.3 Netzvielfalt als Reaktion a u f unterschiedliche

Anwenderanforderungen 60

4.4 Die Datendienste der Post - eine Serie von Mißerfolgen 64 4.5 Das Mißverständnis von der "offenen Kommunikation" 66 4.6 Die begrenzte Ausstrahlung von Netzstandards 74 5. Der ordnungspolitische Irrtum:

Dysfunktionen des Marktes bei Anwendungen und Netzen 77

5.1 Die Grenzen des Marktes bei Anwendungen 79

5.2 Tendenzen der Fragmentierung der Netze 82

5.3 Technische Klammern 88

5.4 Regulierung als Wettbewerbskontrolle 91

6. Steuerung in die Nicht-Steuerbarkeit

(Irrtum, Sabotage oder das Zauberlehrling-Syndrom?) 93

6.1 Steigender Steuerungsbedarf 94

6.2 Indikatoren abnehmender Steuerung und Steuerbarkeit 96 6.3 Irrtum, Sabotage oder das Zauberlehrlingsyndrom? 97 6.4 Konsequenzen fü r die Theorie großer technischer Systeme 101

7. Literatur 103

Anlage 1: Subsysteme der Telekommunikation 113

(4)

1. Einführung

Neben Strom- und Straßennetzen gilt das Fernsprechnetz als Infrastruktur und klassischer Fall eines großen technischen Systems.1 Dieses Fernsprechnetz gilt heute als die größte Maschine der Welt, weil man weltweit 500 Mio. Anschlüsse erreichen kann. In Deutschland waren 1991 33,6 Mio. Anschlüsse installiert, über die fast 42 Mrd. Verbindungen, davon etwa 1 Mrd. ins Ausland, getätigt worden sind.2 Es ist in den vergangenen Jahrzehnten jedoch nicht nur in seiner quantitativen Ausdehnung ge­

wachsen, sondern wurde schrittweise auch um Funktionen der Daten-, Text-, Faksimile- und Bewegtbildübertragung erweitert. Früher als Femmeldenetz bezeichnet, wird es seit einiger Zeit Telekommunikationsnetz genannt. Dem weiteren Ausbau der Telekommunikationsnetze wird allgemein eine zentrale Rolle für die Bewältigung des wirtschaftlichen Strukturwandels von der Industrie- zur sogenannten Informati­

onsgesellschaft zugeschrieben. Wirtschafts- und Technologiepolitik und auch Teile der Sozialwissenschaften stimmen darin überein, daß die Telekommunikationsinfrastruktur die Infrastruktur der Informationsgesell­

schaft ist und daß das wirtschaftliche Wohlergehen einzelner Regionen, der Bundesrepublik und der EG vom schnellen Aufbau einer leistungsfähigen Telekommunikationsinfrastruktur abhängt3.

In dieser Debatte dominiert eine seltsame Kombination aus mehreren von Joerges4 allgemein für Diskurse über große technische Systeme ausgemachten Mythen. Generell wird angenommen, daß Telekommunikati­

onssysteme gestaltbar sind und daß bestimmte technische und organisatori­

sche Maßnahmen in überschaubarer Zeit berechen- und prognostizierbare Auswirkungen für Betreiber, Hersteller und Anwender der Telekommunika­

tion haben. So soll eine bestimmte Umrüstung des Netzes in Verbindung mit einer Marktordnungs- und Organisationsreform dazu führen, daß eine Fülle neuer Telekommunikationsdienste angeboten und genutzt sowie neue Geräte gekauft und produziert werden und damit ein Markt entsteht, der noch in den 90er Jahren die Größenordnung der Automobilindustrie überschreiten soll5.

Anders als in den Gründerzeiten, in denen großartige "system builders" ihre ganz persönlichen Visionen entwickelten und gegen Skepsis und zum Teil auch Widerstand zu realisieren versuchten, sind die dominanten Akteure

1 Vgl. z.B. die Beiträge in M ayntz und Hughes, 1988, und La Porte, 1991, sowie Joerges, 1992.

2 Deutsche Bundespost Telekom , 1992.

3 Vgl. die Aussagen von Politikern w ie Hauff, Glotz, Späth, Schwarz-Schilling und Genscher, zitiert in Kubicek, 1985 und 1988, oder auch von Sozialwissen­

schaftlern wie Bell, 1979 und 1990, der von einer dritten industriellen Revolution spricht.

4 1992.

5 Vgl. die in Kubicek und Berger, 1990, S. 47, zitierten Quellen.

(5)

heute in der Selbstdarstellung wie auch in der Auffassung vieler Sozi­

alwissenschaftler Vollstrecker historischer, technologischer und/oder öko­

nomischer Entwicklungsgesetze. Technologisch wird von einer Konvergenz der bisher getrennten Bereiche der Datenverarbeitungstechnik und der Nachrichtentechnik gesprochen, die im Terminus Telematik (Kunstwort aus Telekommunikation und Informatik) ihren Ausdruck findet. Auf der Ebene der Netzinfrastruktur wird von einer Evolution hin zu einem computerge­

steuerten und computergerechten Universalnetz gesprochen, das in mehre­

ren Transformationsschritten entstehen soll, zu denen das aktuell einge­

führte ISDN (Integrated Services Digital Network) gehört. Diese technische Konvergenz erfordere ihrerseits eine Anpassung des bisher monopolartig or­

ganisierten und regulierten Telekommunikationsbereichs an den stets marktförmig organisierten und unregulierten Bereich der Datenverarbeitung. Diese Variante des technologischen Determinismus findet man nicht nur in den politisch-ideologischen Begründungen für die Postreform, sondern zumindest ansatzweise auch in sozialwis­

senschaftlichen Studien.6

Von technischen und/oder ordnungspolitischen Alternativen war in diesen Debatten in den 80er Jahren kaum die Rede. Das Ziel schien völlig klar.

Weltweit waren sich Techniker, Ökonomen und zumeist auch Politiker einig.

In Deutschland gab es in technologischer Hinsicht auch keinen Dissens zwischen Regierungskoalition und SPD. Im Hinblick auf die ordnungspoliti­

sche und organisatorische Reform widersprach nur ein der Gewerkschaft verbundener Teil der SPD den Plänen der Regierung. Seit 1989 darf "jeder­

mann" Telekommunikationsdienstleistungen anbieten. Der Deutschen Bun­

despost Telekom wurde lediglich ein eingeschränktes Netzmonopol und das Monopol für den einfachen Femsprechdienst zugewiesen. Ansonsten sollen die Marktkräfte für die Entwicklung neuer Telekommunikationsdienste sor­

gen.

Knapp zehn Jahre nach den netztechnischen Grundsatzentscheidungen und fast vier Jahre nach der institutioneilen Reform ist festzustellen, daß die Erreichung der wirtschaftspolitischen Ziele nicht in Sicht ist:

- Zwar ist die Umstellung der Vermittlungsstellen im Fernsprechnetz auf den ISDN-Standard zügig vorangetrieben worden, die Zahl der instal­

lierten Anschlüsse beträgt jedoch nur einige Prozent der ursprünglichen Prognosen.

- Das Angebot an neuen Dienstleistungen durch private Anbieter ist gering.

Wo neue Anwendemetze entstehen, spielen netztechnische Fragen eine nachgeordnete Rolle.

- Neuere technologische Entwicklungen im Bereich des Mobilfunks und der Satellitentechnik führen zu neuen Spezialnetzen außerhalb des tradierten Netzmonopols. Das strategische Ziel eines einheitlichen Universalnetzes ist aufgegeben worden.

6 z.B. Schneider, 1991.

(6)

Von den maßgeblichen Akteuren wird jedoch an den technologischen und ordnungspolitischen Leitbildern festgehalten. Die Schuld für Verzögerungen und Fehlschläge wird aktuell der nicht weit genug getriebenen Dere­

gulierung zugewiesen. Die Umwandlung der Telekom in eine Aktiengesell­

schaft und ihre Herauslösung aus dem öffentlichen Dienstrecht sowie die Aufhebung der noch verbliebenen Monopole werden dementsprechend als Lösungen angepriesen.7

Die immer wiederholten Argumente überzeugen bei einer kritischen Be­

trachtung keineswegs. Das Ausmaß des damit eingeleiteten Paradigmawech­

sels wurde und wird kaum thematisiert und zum Anlaß für ein kritisches Hinterfragen genommen. Während die ersten 100 Jahre der Entwicklung des Fernsprechnetzes durch ein Wachstum gekennzeichnet waren, das mit technischer Vereinheitlichung und organisatorischer Zentralisierung ver­

bunden war und vermutlich dadurch wesentlich gefördert wurde,8 soll nun weiteres Wachstum durch das genaue Gegenteil erfolgen: Diversifikation und Deregulierung statt Einheitstechnik und Monopol. Offen bleibt, ob sich wirklich materiell Entscheidendes geändert hat oder ob sich nur die maßgeblichen Entscheider und deren dominierende Ideologien geändert haben.

Vor diesem Hintergrund soll im folgenden argumentiert werden, daß das technologische und das ordnungspolitische Leitbild auf Fehleinschätzungen der Funktion und Bedeutung der Telekommunikationsinfrastruktur beru­

hen:

(1) Die These vom Zusammenwachsen der Nachrichten- und Datenver­

arbeitungstechnik und die daraus abgeleitete Entscheidung für ein integrier­

tes Universalnetz verkennt die nach wie vor bestehenden grundlegenden technischen, organisatorischen und kulturellen Unterschiede zwischen der

’Welt" der Nachrichtentechnik und der "Welt" der Datenverarbeitung und die daraus resultierende unterschiedliche Entwicklungslogik und -dynamik:

- Während das Fernsprechnetz eine zweckoffene Infrastruktur ist, die unmittelbar inhaltlich beliebig benutzt werden kann, erfordern Daten­

netze ein wesentlich höheres Maß an technischen Festlegungen und Vor­

aussetzungen und stiften selbst zumeist nur geringeren Nutzen.

- Der eigentliche Nutzen, mit möglichst vielen Partnern möglichst einfach Transaktionen per Datenfernverarbeitung vorzunehmen, erfordert zusätzliche Voraussetzungen, die weit über das hinausgehen, was Femmeldenetze im allgemeinen und das ISDN im besonderen tun und auch können. Dazu sind Anwendemetze9 erforderlich, deren Entwicklung ganz anderen Regeln folgt und in ganz anderen Arenen stattfindet. Die technischen und organisatorischen Chancen dazu sind durch das ISDN und die Deregulierung nicht nennenswert verbessert worden.

7 z.B. die Beiträge Bauer, 1992.

8 Schneider, 1991.

9 auch große technische Systeme zweiter Ordnung genannt; Braun, 1991;

Joerges, 1992.

(7)

(2) Generell wird die Bedeutung der Telekommunikation für die Volks­

wirtschaft überschätzt und die Gewichtung einzelner technischer Entwick­

lungen und rechtlicher Regelungen für Großanwender und Hersteller falsch eingeschätzt. Auf dem Endgerätemarkt hat sich zwar viel getan, er ist jedoch relativ klein. Bei den Telekommunikationsdiensten ist nichts in Sicht, was sich vom Umsatz her auch nur zu Bruchteilen des Femsprechdienstes ent­

wickeln könnte. Das Interesse privater Investoren konzentriert sich eher auf neue Netze. Dem entsprechenden Druck gibt das Ministerium nach. Mit der Vergabe von Lizenzen für Mobil- und Satellitenfunk wird jedoch ein Prozeß der Auflösung der bisher über fast 100 Jahre als Ziel verfolgten einheitlichen technischen Infrastruktur eingeleitet. Nun kommt es zu einer Fragmentie­

rung von Netzen, die unter den Bedingungen schärferer Konkurrenz die Fi­

nanzkraft der Telekom für Infrastrukturaufgaben schwächen wird. Die so entstehenden Spezial- und Teilnetze dürften auf Dauer kaum durchgängig verknüpft werden. Die technische Standardisierung kann die durch den Wettbewerb ausgelösten Zentrifugalkräfte nicht Zusammenhalten.

(3) Durch die Orientierung an den falschen Leitbildern sind nicht nur die volkswirtschaftlichen und industriepolitischen Ziele nicht erreicht worden.

Über die Fokussierung auf die Märkte für Endgeräte, Mehrwertdienste und Mobilfunk ist die für die Telekommunikationsindustrie langfristig be­

deutsamere Frage nach der Errichtung der Infrastruktur für das hochauflö­

sende Fernsehen und den gesamten Multimediabereich fast ganz aus dem Blick geraten. Heute ist völlig unklar, wer die Investitionen für ein flächen­

deckendes Breitbandvermittlungsnetz tätigen soll und kann. Die Kompeten­

zen und Ressourcen des Monopolisten sind beschnitten worden, ohne daß auch nur darüber öffentlich diskutiert wird, wie ein für Infrastrukturen typi­

sches langfristiges Planungsverfahren aussehen könnte, das der neuen Viel­

zahl der Akteure Rechnung trägt. Die aktuellen Vorschläge für die Postre­

form 2 vergrößern dieses Problem noch.

(4) Die Paradoxie der Entwicklungen der letzten 10 Jahre liegt darin, daß in dem Bemühen, die Telekommunikation gezielt für medien-, wirtschafts- und industriepolitische Ziele zu instrumentalisieren, eine Steuerung in die Nicht- Steuerbarkeit erreicht worden ist. Darauf hat auch die kritische Diskussion über Risiken der Telekommunikation nicht genügend hingewiesen, sondern sich bei Einzelheiten einzelner Techniklinien verheddert.

Damit ist die auf den Gegenstandsbereich bezogene Fragestellung umrissen.

Die Ausarbeitung ist jedoch nicht primär in einem telekommunikati­

onspolitischen Kontext entstanden, sondern in einem interdisziplinären Diskussionskreis über große technische Systeme (gtS). Neben der kritischen Auseinandersetzung mit der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen sowie politischen Behandlung der Telekommunikation sollte auch der Frage nach­

gegangen werden, was man aus diesem Beispiel für ein großes technisches System für eine diesbezügliche allgemeinere Theorie großer technischer Sy­

steme lernen kann. Die Beschäftigung mit dieser Frage war wesentlich schwieriger als erwartet, weil es diese Theorie noch nicht einmal in Ansätzen gibt. Bereits bei der Definition zentraler Begriffe bestehen erhebliche Unter-

(8)

schiede. Während für Hughes eine einheitliche Koordination der heterogenen und technisch zum Teil nur lose gekoppelten Systemteile als konstitutiv für ein gtS gilt,10 vertritt Joerges die Auffassung, daß die meisten großen technischen Systeme irgendwann so groß werden, daß sie nur bei einer organisatorischen Dispersion weiterwachsen können.11 Aber wie weit können organisatorische Dispersion und technische Fragmentierung gehen, um immer noch von einem gtS sprechen zu können?

Oder ein anderer Punkt: Während Hughes die Entwicklungsphasen hin zu immer größeren Systemen und das dabei treibende "Momentum" aus­

führlich schildert, verweist er nur mit wenigen Worten darauf, daß solche Systeme auch stagnieren oder schrumpfen können.12 In einem erweiterten Phasenmodell behandelt Mayntz13 auch die Phase des Wandels und Niedergangs. Zum Niedergang kommt es danach vor allem dann, wenn die soziale Existenz eng mit einer bestimmten Technik verbunden ist und es nicht gelingt, technische Substitute zu integrieren.

Die Bezugnahme auf Wachsen und Schrumpfen, Aufstieg und Niedergang wirft, wie Joerges zu Recht betont, die Frage nach den angelegten Maßstä­

ben auf. Mayntz betont die unterschiedlichen Entwicklungsmuster von Zentralisierung und Dezentralisierung, Vereinheitlichung und Differenzie­

rung, stärkerer Koppelung und Entkoppelung, wenn sie Energie-, Verkehrs­

und Telekommunikationssysteme miteinander und Eisenbahn-, Auto- und Flugverkehr oder Elektrizitäts-, Gas- oder Solarenergiesysteme untereinan­

der vergleicht. So unterschiedlich identitätsbildende Eigenschaften, System­

grenzen, Größenmaßstäbe und Entwicklungsmuster auch definiert werden, so herrscht doch die Vorstellung vor, daß es dominante Akteure gibt, die für Aufbau und Betrieb der technischen Maschinerie wichtige Organisationen auch gegen konfligierende Interessen und eine gelegentlich auch feindselige Umgebung ausbauen oder zumindest erhalten wollen.

Die Entwicklung der Telekommunikation in Deutschland zeigt demge­

genüber eine bisher wenig hervorgehobene Abweichung. Wenn die Annahme zutrifft, daß die für Netztransformation und Deregulierung angeführten Gründe nicht stichhaltig sind und die volkswirtschaftlichen Ziele weitgehend verfehlt wurden und wenn außerdem deutlich wird, daß der Postminister die Deutsche Bundespost als früher einmal zentraler und starker Akteur in immer größere Schwierigkeiten gebracht hat, dann muß man schon fragen, ob dafür ideologische Fehlleitungen durch die falschen Leitbilder oder andere Gründe ausschlaggebend gewesen sind. Es kann ja auch sein, daß die Argumente von volkswirtschaftlicher Verantwortung, gesamtwirtschaftli­

chem Wachstum usw. nur die Fassade bilde(te)n, hinter der bisherige Er­

träge des Staates an einige private Investoren verschoben werden soll(t)en.

10 Hughes, 1983: 5f.; Schneider, 1992: 217.

11 1992: 57 f.

12 Hughes, 1986: 43.

13 1988: 25ff.

(9)

Als Frage zugespitzt: Hat der für die Leitung dieses Systems Telekom­

munikation zuständige Minister aus Irrtum gehandelt, weil er seiner Ideolo­

gie vom Markt, der Innovationen entfacht und alles regelt, gefolgt ist und die Deregulierung betrieben hat, im guten Glauben, damit die Infrastruktur zu modernisieren und vielfältige neue Dienstleistungen anzustoßen? Oder han­

delt es sich um Sabotage in dem Sinne, daß zwar vom weiteren Wachstum des Systems und seiner dienenden Funktion für die Gesellschaft geredet wird, tatsächlich aber wohlwissend um Dysfunktionen und Verwerfungen eine Privatisierung eingeleitet wurde und nun vielleicht sogar vollendet wird, die dem Staat Einnahmequellen entzieht und diese privaten Investoren zu­

schiebt?

Diese Frage kann hier nicht abschließend beantwortet werden. Falsche Leitbilder und Mißverständnisse, die aus der Entwicklungsgeschichte des Systems und der Sozialisation maßgeblicher Akteure zu erklären sind, haben auf jeden Fall entscheidend zu der skizzierten Entwicklung beigetragen. Um diese These zu belegen, soll

- im zweiten Abschnitt die technische und institutioneile Entwicklung des Femmeldewesens bzw. der Telekommunikation als großes technisches System bis in die 80er Jahre nachgezeichnet werden,

- im dritten Abschnitt das technologische und ordnungspolitische Leitbild der frühen 80er Jahre für die Auiwärtstransformation zur Infrastruktur für die Informationsgesellschaft dargestellt werden,

- im vierten Abschnitt die These von einem technologischen Irrtum er­

läutert werden, der in der Verkennung der Unterschiede zwischen den beiden "Welten" der Nachrichtentechnik und der Datenverarbeitung gesehen wird,

- im fünften Abschnitt die These von einem ordnungspolitischen Irrtum be­

handelt werden, nach der die Marktkräfte für die Entwicklung von An­

wendemetzen oder Mehrwertdiensten überschätzt werden, und auf die zunehmende unkoordinierte Binnenkonkurrenz und Inkompatibilität im Bereich der Netze hingewiesen werden, die es fraglich macht, ob überhaupt noch zutreffend von einem technischen System bzw. einer Infrastruktur gesprochen werden kann,

- um dann im sechsten Abschnitt die These von der Steuerung in die Nicht-Steuerbarkeit zu skizzieren und die Frage nach der Rolle von Irrtümern und/oder "Sabotage" im Lichte der vorangegangenen Darstellungen noch einmal aufzuwerfen.

Im begrenzten Rahmen dieser Abhandlung kann nicht auf die gesell­

schaftlichen Folgen dieser Entwicklung der Telekommunikation für die Ar­

beitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei der Deutschen Bundespost Telekom, bei den Herstellern von Telekommunikationstechnik und in den Anwenderuntemehmen, auf die Folgen für den Daten- und Ver­

braucherschutz, die Verletzlichkeit des Systems und viele andere Aspekte eingegangen werden, die in den letzten zehn Jahren im Vordergrund meiner Beschäftigung mit der Telekommunikation standen.14

14 Kubicek und Rolf, 1985; Kubicek, 1988.

(10)

Hier mu ß der Hinweis genügen, daß die meisten dieser Risikoanalysen auch auf dem Leitbild des einheitlichen Universalnetzes basierten und von daher zu revidieren sind. Daraus darf allerdings nicht der Schluß gezogen werden, die nun prognostizierte Dispersion bzw. Fragmentierung des Systems würde zu einer Reduzierung problematischer Folgen führen. Vielmehr ist von Pro­

blemverschiebungen hinsichtlich Art und Umfang der Betroffenheit aus­

zugehen, die noch ausführlicherer Untersuchungen bedürfen, sowie von erheblich größeren Problemen aller Regulierungsversuche zur Risikover­

meidung, da man es nicht mehr mit einem Hauptakteur, sondern mit einer nicht überschaubaren Vielzahl von Akteuren in unterschiedlichen Hand­

lungssystemen zu tun hat. Insofern erhalten wirtschaftliche und soziale Pro­

bleme mit der zunehmenden Nicht-Steuerbarkeit dieselbe Ausgangsbasis.

Die Bemühung um die Wiederherstellung von Steuerbarkeit im Sinne von Infrastrukturplanung und Regulierung auch im Hinblick auf soziale und ökologische Anforderungen müßte daher ein gemeinsames Ziel der Mehrheit der Akteure und Betroffenen werden können. Auf jeden Fall erscheint eine breitere Debatte über Regulierungskonzepte und eine Ausweitung der Regu­

lierungsforschung dringend geboten.16

Der Text beansprucht nicht, eine vollständig wahre Beschreibung und Erklärung der Entwicklung der Telekommunikation zu liefern. Das Anliegen ist vielmehr zu zeigen, daß maßgebliche Akteure aus Politik und Industrie sowie technische und wirtschaftliche Experten im wissenschaftlichen Be­

reich sich in Aussagen über die ökonomischen Folgen der von ihnen empfohlenen Entscheidungen vereint haben und nun ein Scheitern einge­

standen werden muß und Leitbilder korrigiert werden müssen. Daß dies zur Zeit nicht geschieht, liegt auch daran, daß das große technische System Telekommunikation einschließlich seiner anerkannten Berater über eine nur gering ausgeprägte Reflexionsfähigkeit verfügt.

Die praktische Konsequenz sollte darin bestehen, daß diesen Experten, wenn sie heute der Öffentlichkeit neue Maßnahmen empfehlen, mit mehr Skepsis begegnet wird. Der Vorwurf richtet sich nicht dagegen, daß sie sich geirrt haben, sondern daß sie sich stets kritischen Diskussionen entzogen haben, bis heute Irrtümer nicht eingestehen und ihre Vermutungen oder Hoffnungen immer noch als Gewißheiten ausgeben. Eine hier präsentierte, andere Sichtweise und zum Teil auch zugespitzte Thesen sollen vor allem Bewegung in diese recht starre Diskussion bringen.

15 Kubicek, 1991; Kubicek, M ohr und Falke, 1992.

(11)

2. Das Fernmeldewesen als großes technisches System

2.1. Abgrenzungskriterien großer technischer Systeme

Die Telekommunikation oder, wie es in diesem historisch ausgerichteten Abschnitt noch heißen soll, das Femmeldewesen, unterliegt zur Zeit grundlegenden technischen und organisatorischen Veränderungen. Ob dieses große technische System (gtS) sich noch in einer Wachstums- oder im Übergang zu einer Stagnationsphase befindet, ob es sich in einem Prozeß der Binnendifferenzierung oder einem Prozeß des Auseinanderfallens in mehrere Teilsysteme befindet, hängt von den Definitionen ab, die man zugrundelegt. Einigkeit scheint darüber zu bestehen, daß in einem gtS technische und soziale Systemteile eng miteinander verbunden sind. Techni­

sche Elemente bilden die ökonomische Basis, bedingen aufgrund der möglichen Leistungen, besonderer Eigenarten und Störanfälligkeiten eine bestimmte Organisation. Sie sind Bezugspunkte, um Akteure zu definieren.

So unterscheidet man in der Telekommunikation z.B. Endgerätehersteller, Netzbetreiber, Diensteanbieter, Teilnehmer.

Joerges16 und Schneider17 vertreten die Auffassung, daß eine enge technische Koppelung von technischen Artefakten über weite Entfernungen ein konstitutives Merkmal ist. Mayntz18 macht demgegenüber an Beispielen wie Autoverkehr oder Solarenergie deutlich, daß eine physische Koppelung nicht zwingend ist. Wenn man den Begriff Telekommunikation weit faßt, dann gehören dazu auch die unterschiedlichen Funksysteme im Flugverkehr und der Schiffahrt sowie die Sondernetze für Hörfunk und Fernsehen, die weder untereinander noch mit dem Fernsprechnetz gekoppelt sind. So gesehen liegt die Bezeichnung Telekommunikation bzw. Fernmeldewesen auf derselben Ebene wie Energie- oder Verkehrssysteme und ist selbst in mehrere eigenständige gtS zu zerlegen, die wiederum unterschiedlich eng oder lose gekoppelt sein können.

Während es zumeist relativ gut gelingt, die Entstehung eines gtS zu be­

stimmen und dabei zumeist eine ganz bestimmte technische Erfindung als Anfang identifiziert wird, ist die Phase des Wandels und eventuellen Nieder­

gangs von der Technik her nicht eindeutig zu bestimmen. Im Telefonnetz ha­

ben mehrfach technische Erneuerungen stattgefunden. Weil die Grundlei­

stung dieselbe geblieben ist, sprechen wir nach wie vor vom selben gtS.

Auch wenn zentrale Organisationen zerteilt werden und Ei­

gentumsverhältnisse verändert werden, bleibt es dasselbe gtS. Als systembildend erscheint letztlich eine gewisse Strukturiertheit, Koordination oder Steuerungs- bzw. Regulierungsstruktur (governance), die technische Komponenten und soziale Organisation jeweils für sich und miteinander

zusammenhält. x

16 1988; 1992.

17 1991.

18 1988.

(12)

Der insbesondere vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in die Diskussion über gtS gebrachte Begriff der Governance verliert allerdings dort an Aussagekraft, wo er in Anlehnung an die ökonomische Debatte den Markt als Organisationsform einführt. Wie insbesondere Schneider19 ausführt, zeichnen sich gtS durch technische und soziale Regelstrukturen aus. Governance wird als Steuerung oder Regulierung gekennzeichnet. Dies setzt steuernde bzw. regulierende Instrumente und Akteure bzw. Insti­

tutionen voraus. Termini wie Markt und Selbstregulierung werden dabei oft in einem Atemzug mit Hierarchie, Netzwerk, Clan usw. genannt. In dem ur­

sprünglich industrie- und wettbewerbspolitischen Kontext, in dem William­

son diese Terminologie entwickelt hat und wo es um staatliche Interventio­

nen in die Wirtschaft ging, ist die Nicht-Intervention eine denkbare Alterna­

tive.

Im Kontext von gtS ist dies m.E. anders. Wenn es keinerlei institutioneile Klammer, explizite Organisation, Instanz mit Interventionsrechten gibt, kann man nicht von einem gtS sprechen. So erscheint es mir wenig sinnvoll, alle Computer als ein gtS Datenverarbeitung zu bezeichnen, das die Govemancestruktur des Marktes aufweist. Vielmehr möchte ich eine mehr oder weniger wirksame Steuerung auf bestimmte Ziele sowie technische und organisatorische Regelungswerke, die von Institutionen erlassen und hinsichtlich der Einhaltung auch überwacht werden, als konstitutiv dafür ansehen, ob wir es mit einem oder mehreren gtS zu tun haben. Die Perspektive des gtS soll dabei das Wechselspiel zwischen technischem und institutionellem Wandel besonders hervorheben.

Im folgenden sollen zur näheren Kennzeichnung des gtS Femmeldewesen in Anlehnung an Ekardt drei Dimensionen unterschieden werden:

(1) die technische Dimension stellt die Maschinerie, ihre Funktionen und Funktionsvoraussetzungen in den Vordergrund:

(2) die institutioneile Dimension beschreibt den von außerhalb des Systems (Staat, Gesellschaft) vorgegebenen normativen Rahmen, in dem Entwickler und Betreiber agieren, (die "governance structure" im Sinne von Schneider):

(3) die interaktive Dimension betrifft die Interaktionen zwischen den Ak­

teuren im System und mit der Systemumwelt.

2.2. Die technische Dimension des Femmeldewesens und seine historische Entwicklung

Als spezifische Funktion oder Leistung des gtS Femmeldewesen oder Telekommunikation definiert Schneider "Kommunikation über große Entfer­

nungen mittels Übertragung elektronischer Signale zu ermöglichen".20 Wenn man das Adjektiv elektronisch weit auslegt, schließt diese Definition

19 1992.

20 Schneider, 1992: 22.

(13)

einerseits die Briefpost aus, andererseits neben dem Telefon auch den Telegraphen und den Fernschreiber ein. Im Vordergrund der Betrachtung steht jedoch stets das Telefon.

Die dem Telefon- oder Fernsprechnetz zugrundeliegende Basistechnik, gesprochene Worte in elektrische Schwingungen umzuwandeln und diese über Kupferdrähte zu übertragen, wurde zwischen 1854 und 1876 wohl weitgehend unabhängig voneinander in Frankreich, Deutschland und in den USA entwickelt.21 Um Gespräche über eine größere Anzahl von Telefonapparaten an unterschiedlichen Orten zu ermöglichen, mußte ein Übertragungs- und Vermittlungsnetz errichtet werden. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits seit einigen Jahrzehnten das elektrische Telegraphennetz, an dem sich die Entwicklung des Fernsprechnetzes orientieren konnte.

Ein Fernsprechnetz besteht aus einer Reihe technischer Elemente, die nach technischen Gesichtspunkten und im Hinblick auf die Verkehrsbelastung gut aufeinander abgestimmt werden müssen.22

- Den Kern bilden Vermittlungsstellen, die Verbindungen zwischen Teil­

nehmeranschlüssen hersteilen. Ein Fernsprechnetz besteht dabei in der Regel aus hierarchisch geordneten und miteinander verbundenen Ver­

mittlungsstellen.23

- Zumeist räumlich mit den Vermittlungssystemen zusammengelegt, aber funktional davon zu unterscheiden sind die Einrichtungen für die Ge­

bührenermittlung und -abrechnung.

- Übertragungswege (Kabel, Verstärker, Richtfunk- und Satellitenanlagen) verbinden Vermittlungsstellen untereinander (Femebene) sowie Teilnehmeranschlüsse mit Vermittlungsstellen (Ortsebene).

Ortsvermittlungs- Ortsvermittlungs- stellen (OVSt) Femvermittlungs- stellen (OVSt)

stellen (FVSt)

Teilnehmer

ft

End­

gerät Teilnehmer­

anschlußbereich

Schnitt­

stelle

Fern­

melde­

amt mit Ver- mitt- lungs- technik

— Ortsverbindungs-—

leiningen mit

—Übertragungs-__

_ technik

Fern­

melde­

amt mit Ver- mitt- lungs- techmk

Teilnehmer- anschlußbereich

End- gerat

Schnitt­

stelle

Teilnehmer

ft

Fernsprechnetz ->r ->

Telefondienst

Anwendungen / Mehrwertdienste im Telefondienst

Abb. 1: Netze, Dienste, Anw endungen am Beispiel des Telefonierens

21 Oberliesen, 1992: 129 ff; Rammert, 1990: 26.

22 Abb. 1.

23 vgl. Abb. 2.

(14)

- Sprechstellen oder Telefone sind Teilnehmereinrichtungen oder soge­

nannte Endgeräte.

Die Größe dieses technischen Systems kann an folgenden Zahlen für das Jahr 1991 verdeutlicht werden (Deutsche Bundespost Telekom 1992):

- ca. 6.000 Ortsvermittlungsstellen und 500 Femvermittlungsstellen,

- 33,6 Mio. Telefonanschlüsse, (31,2 alte Bundesländer, 2,4 neue Bun­

desländer),

- 41,9 Mrd. Telefonverbindungen.

Dabei sind im Laufe der Zeit die nationalen Femmeldenetze fast über die gesamte Welt miteinander verbunden und weitestgehend für den Selbst­

wählverkehr ausgelegt worden. Nicht ohne Stolz sprechen Fernmeldeingeni­

eure von der "größten Maschine der Welt".

OVL Ortsverbindungsleitung

Abb. 2: Hierarchischer Aufbau des Fernsprechnetzes24

24 ZVEI, 1983: 20.

(15)

Dieses Wachstum des Telefonnetzes in den hundert Jahren seines Beste­

hens wird üblicherweise an der Anzahl der installierten Telefone pro 100 Einwohner aufgezeigt.25

Dieses Größenwachstum wurde wesentlich durch eine Reihe technischer Innovationen ermöglicht, die hier nur knapp und ohne Darstellung der komplexen Wechselbeziehungen zwischen ihnen dargestellt werden können:26 27

Abb. 3: Telefondichte 1885-198527

(1) Die ursprüngliche Handvermittlung durch das "Fräulein vom Amt" wurde ab 1908 durch elektromechanische Selbstwählvermittlung zunächst für den Ortsverkehr, ab 1926 auch für den Fernverkehr abgelöst. Dazu wurden elektromechanische Vermittlungssysteme eingesetzt, zunächst sogenannte Hebdrehwähler, seit 1953 der von Siemens entwickelte Edelmetall-Motordrehwähler (EMD). Angesichts der technologischen Entwicklungen in der Mikroelektronik wurde Ende der 70er Jahre ein halbelektronisches Wählsystem (EWSO) eingeführt, das jedoch kurz nach dem Einsatz der ersten Vermittlungsstellen als überholt angesehen wurde. Nach mehreren Probeinstallationen werden seit 1988 die volldigi­

talen Vermittlungssysteme EWS (Siemens) und System 12 (SEL) einge­

setzt.

(2) Bei der Handveimittlung wurden ursprünglich für die Gebührenermitt­

lung und -abrechnung sogenannte Sprechzettel ausgefüllt. Später wurde das Verfahren der Zeitimpulszählung eingesetzt, bei dem ein Ge­

bührenzähler in Abhängigkeit von Tageszeit und Entfernung in unter­

schiedlichen Geschwindigkeiten mitläuit.

(3) In der Übertragungstechnik gab es ursprünglich nur analoge Verfahren, bei denen die Schallwellen als elektrische Schwingungen über eine

25 vgl. Abb. 3.

26 vgl. Werle, 1990.

27 Thom as, 1988: 185.

(16)

Kupferdoppelader übertragen werden. In den 70er Jahren wurden auf den Femstrecken digitale Multiplexverfahren eingesetzt, mit denen eine größere Anzahl von Gesprächen parallel verschachtelt übertragen werden kann. Neben einfachen Kupferadem werden Kupferkoaxialkabel und seit Ende der 80er Jahre Glasfaserkabel eingesetzt. Neben Kabelstrecken werden auch Richtfunkstrecken und Satellitenverbindungen genutzt.

(4) Die Telefonapparate haben ebenfalls erhebliche äußere und innere technische Veränderungen erfahren: Vom frühen Wandapparat mit zwei Hörem über den Wählscheibenapparat bis zum Tastentelefon und neu­

erdings dem schnurlosen Telefon oder Autotelefon.28

Bei den geschilderten Innovationen handelt es sich um Prozeßinnovationen.

Sie waren für das Denken der Fernmeldeingenieure maßgeblich. Ihr Ziel war es, ein immer größeres Netz mit steigendem Verkehrsvolumen funk­

tionssicher zu machen, die Zeiten für den Verbindungsaufbau zu reduzieren u.ä.m. Mit dem weitgehenden Ausbau eines flächendeckenden Fernsprech­

netzes gewannen allerdings auch Produktinnovationen an Bedeutung: Das Femmeldenetz sollte für weitere Leistungsmerkmale und Femmeldedienste genutzt werden.

Ein Femmeldedienst ist ein technisch standardisiertes und durch Tarife, Benutzungsbedingungen und ähnliche Regelungen genormtes Dienstlei­

stungsangebot, für das in der Regel spezielle Teilnehmerverzeichnisse erstellt werden. Ende der 80er Jahre wurden über das Fernsprechnetz folgende Dienste angeboten:29

- Femsprechdienst mit Zusatzdiensten wie Anrufweiterschaltung (GEDAN), Gebührenübemahme (Service 130),

- Telefax,

- Datenübertragung mit Modems, - Bildschirmtext.

Im Laufe der Zeit wurden neben dem Fernsprechnetz weitere Netze errichtet, die zum Teil die gleichen Übertragungswege nutzen. Zum Teil wurde das Fernsprechnetz auch als Zubringer genutzt. Dies gilt etwa für das Mobil­

funknetz und die Datennetze.

Bei aller Diversifikation ist der Femsprechdienst immer noch mit Abstand der größte und seit den 70er Jahren der fast einzige rentable Dienst.30

Charakteristisch für den Fernsprechdienst und - wie noch zu zeigen sein wird - prägend für das Denken der Fernmeldetechniker, ist seine Nut­

zungsoffenheit. Zwar waren, kulturell bedingt, die Nutzungen zunächst recht unterschiedlich und entsprachen keineswegs immer den Erwartungen der Entwickler.31 Im Laufe der Zeit ist es aber zu einer immer breiteren Palette von Nutzungen gekommen, die kaum klassifiziert werden können.

28 vgl. Oberliesen, 1982.

29 Abb. 4 30 Abb. 5.

31 Rammert, 1990.

(17)

Telefonnetz kann somit als ein Musterbeispiel einer zweckoffenen und nutzungsindifferenten Infrastruktur bezeichnet werden.32

Abb. 4: Fem m eldenetze und -dienste Ende der 80er Jahre

So wurden in der wohl umfassendsten empirischen Untersuchung des Telefonierens in Deutschland von der Forschungsgruppe Telefonkommuni­

kation im Auftrag der Deutschen Bundespost für eine Gesamtmenge von 9099 Telefongesprächen Anlässe oder Themen vorgegeben wie: Besonderes Ereignis (Geburtstag u.ä.), Freizeitaktivitäten, Schule/Ausbildung, Gesund­

heitsprobleme, Einladung/Besuch, gesellschaftliche Aktivitäten, berufliche Angelegenheiten, Organisation des täglichen Lebens und Geschäftliches, die jeweils Anteile zwischen 2 und 14 % auf sich vereinigen konnten. Wie in dem Bericht vermerkt wird, konnten jedoch 44 % der Gesamtheit der Gespräche nicht inhaltlich eingeordnet werden, weil die Befragten keine näheren Angaben machen wollten (Kategorie: "Persönliche Angelegenheiten" 22 %) oder machen konnten (Kategorien "kein besonderer Anlaß", "anderer Anlaß",

"keine Angaben" 22 %).33

Diese inhaltlich nicht näher gekennzeichneten Gespräche sind mit einer durchschnittlichen Dauer von 15 und 10 Minuten auch die längsten. Wenn nach Handlungen gefragt wird (Verabredungen treffen, absagen, Infos einholen oder geben, Probleme besprechen, Aufträge erteilen etc.) ergibt sich

32 vgl. ausführlicher: Pool, 1981 und Forschungsgruppe Telefonkom m unikation, 1989.

33 Adler, 1992: 5f.

(18)

ein sehr viel zielgerichteteres Bild: Nur 10% fallen auf Zeitvertreib und sonstiges.

| |1982 | 1984 | 1986 | 1988 | 1990 1991 | 1992

Fem sprech-dienst 22,6 24,4 26,2 27,8 31,9 33,6 35,3

(Mio) davon A B L

N B L

30,0 1,9

31,2 2,4

k.A.

k.A.

Andere Dienste (Tsd)

Telefax 10,2 17,5 43,8 197,2 696,2 946,2 1.172,

Datenübertragung

im Fernsprechnetz 54,7 71,2 105,6 160,8 _* _* _*

Bildschirm text - 21,3 58,4 146,9 259,8 302,3 340,4

D atex L 9,1 ' 14,5 18,4 21,6 24,2 24,7 23,4

D atex P 1,7 7.0 17,0 35,3 56,5 69,0 81,8

T elex 150,5 157,4 167,3 158,3 134,5 111,9 79,7

Teletex 1,7 8,5 15,5 19,1 16,3 14,1 10,8

Hauptanschluß für

D irektruf 94,5 108,6 145,5 184,7 231,0 „ * ♦ -**

ISDN Kanäle 5,6 34,0 285,8 616,8

Basis-Anschlüsse 1,4 7,6 59,1 138,8

Prim är-M ultiplex-

Anschluß 0,1 0,6 5,6 11,3

M obilfunk (B, C -

Netz) 123,1 292,6 546,6 782,0

* nach Aufhebung des Modem-Monopols nicht mehr erfaßt

** statistische Erhebung eingestellt

Abb. 5: Entwicklung der Anschlußzahlen ausgew ählter Fem m eldedienste^^

Die von Joerges in den Vordergrund gestellte Frage, was das große technische System Femmeldewesen im Sinne sozialer Handlungen tut, kann vor diesem Hintergrund nur recht abstrakt beantwortet werden:

Es nimmt Aufträge von berechtigten Teilnehmern entgegen, eine Verbindung zu genau definierten anderen Teilnehmern herzustellen. Dann können beide Teilnehmer über beliebige Inhalte miteinander sprechen und/oder sich Dokumente mit Symbolen oder formatierte elektronische Zeichen (Daten) zusenden. Die technischen Eigenschaften des Netzes beeinflussen die Kommunikationsinhalte und -anlässe nicht unmittelbar. Das technische System ist bemüht, daß die von den Teilnehmern gesendeten Signale auf dem Übertragungsweg und bei der Codierung und Decodierung möglichst nicht verfälscht werden. Es garantiert aber keineswegs, daß die beiden Teil- *

34 Quellen: DBP-Geschäftsberichte und -Presseerklärungen; mündliche Auskünfte.

(19)

nehmer sich verstehen können. Man kann diese Funktionen mit den Hand­

lungen eines Boten vergleichen. Einige der normativen rechtlichen Anforde­

rungen an Technik und Personal, wie das Femmeldegeheimnis, resultieren genau aus dieser Zwischenschaltung Dritter in der Kommunikation.

Die technische Entwicklung kann als Aufwärtstransformation im Sinne von scale and scope gekennzeichnet und anhand von drei Dimensionen be­

schrieben werden:35

(1) Die Zahl der angeschlossenen und damit auch erreichbaren Teilnehmer ist sowohl durch die Verdichtung des inländischen Netzes als auch durch den Anschluß immer weiterer ausländischer Netze, die ihrerseits ebenfalls immer dichter werden, ständig gestiegen. Mit dem Ausbau der Femmeldenetze in Osteuropa steht noch einmal eine deutliche Grö­

ßensteigerung bevor.

(2) Der Leistungsumfang kann zum einen hinsichtlich der Kommunikati­

onsmedien beschrieben werden. Wie geschildert fand eine Ausweitung dieser Medien durch neue Endgeräte und zum Teil auch neue Netze statt.

Die einzelnen Medien stehen in keiner ordinalen Beziehung zueinander, sondern sind in etwa in der historischen Abfolge ihrer Einführung genannt, die aktuell noch in bezug auf bewegte Bilder (schwarz-weiß und farbig) ausgeweitet wird.36

(3) Daneben kann der Leistungsumfang durch die Funktionalität des Netzes beschrieben werden. Die bisherige und zukünftige Ausweitung soll in vier Stufen untergliedert werden, die historisch und logisch, kumulativ aufeinander aufbauen. Während das Netz zunächst nur die Übertragung von Signalen erlaubte und die Vermittlung manuell erfolgen mußte, kam in einer zweiten Stufe die automatische Vermittlung zu einem vom Teilnehmer ausgewählten anderen Teilnehmer hinzu. In einer dritten Phase kommen seit einiger Zeit zuvor noch manuelle erbrachte Zusatzleistungen wie das Zusammenschalten von Konferenzen oder die Anrufweiterleitung, beim Telefax und Telex das Rundsenden oder bei der Datenübertragung die Protokollanpassung hinzu. Eine vierte Stufe kann schließlich im Zusammenhang mit neuen Mobilfunknetzen darin gesehen werden, daß diese Netze einen gewünschten Teilnehmer auch automatisch suchen, ohne daß der Anrufer sagen muß, wo sich der ge­

wünschte Partner zur Zeit aufhält, noch dieser einen Ortswechsel dem System ausdrücklich mitteilen muß, wie dies bei der Anrufweiterleitung in Phase 3 noch der Fall ist.

2.3 Die institutionelle Dimension des Femmeldewesens und seine Entwicklung

Als die Technik des Femsprechens erfunden wurde, gab es bereits relativ ausgebaute Telegraphennetze, die z.B. in Deutschland von der Reichspost, in den USA von dem Unternehmen Western Union betrieben wurden. In Deutschland war es anscheinend selbstverständlich, daß das Telefon als komplementäre Technik zur Telegraphie als staatliche Hoheitsaufgabe ange­

sehen und von der Reichspost im Monopol entwickelt wurde. In den USA

35 vgl. auch Abb. 6.

36 siehe unten Abschnitt 3.3.

(20)

sah Western Union im Telefon eine technisch weniger leistungsfähige Konkurrenz zum Telegraphen. Graham Bell hatte Schwierigkeiten, Kapitalgeber zu finden, und so entstanden viele kleinere regionale Telefongesellschaften mit unterschiedlichen Kapitalgebem.37

Aufwärtstransformation in drei Dimensionen

f k

*5 Farbige Video-

'S Übertragung

Bild-

3 femsprechen

Zahl der Z

Datenübertragung

erreichbaren s -o

—• o

cf g Teilnehmer

«2 =

g j Facsimile

c == £ Textübertragung

2 £S o Funktionalität/

J *

Femsprechen Automatisierungsgrad

des Netzes k Nur Übertragung plus plus automat. plus

(Handvermittlung) Vermittlung Leistungs- automatisches (Selbstwähl- merkmale wie Suchen des verkehr) Konferenzschaltung, gewünschten

Weiterschaltung, Teilnehmers Rundsenden, ohne explizite Protokollan- Standortangaben passung

Abb. 6: Aufwärtstransform ation des Fernsprechnetzes

In Deutschland wurden aus dem hoheitlichen Verständnis heraus die Rechte der Reichspost gegenüber den Kommunen, deren Grund und Boden für die Errichtung von Masten und das Verlegen von Kabeln benutzt werden mußte, bereits im letzten Jahrhundert gesetzlich geregelt.38 1924 wurden im Reichspostfinanzgesetz die organisatorischen und finanziellen Strukturen festgelegt, und 1928 wurde im Femmeldeanlagengesetz das Femmeldemonopol festgeschrieben.39

Trotz des Einflusses der Besatzungsmächte auf den Wiederaufbau in der Bundesrepublik, der z.B. im Bereich des Rundfunks zu völlig neuen insti­

37 vgl. Rogers, 1990.

38 Telegraphenwege-Gesetz von 1899.

39 vgl. W erle, 1990: 73 ff.

(21)

tutionellen Regelungen führte, wurden im Femmeldewesen die Strukturen der Vorkriegszeit unverändert erhalten.40

Bei der Formulierung des Grundgesetzes wurden die einschlägigen Be­

stimmungen der Weimarer Reichsverfassung übernommen. Mit Art. 73 Nr. 7 wurde dem Bund die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für das Post- und Femmeldewesen übertragen. Nach Art. 87 Abs. 1 ist die Bundespost wie der Auswärtige Dienst, die Bundesbahn u.a. als bundeseigene Verwaltung mit eigenem Verwaltungsunterbau zu führen. Nachdem zunächst erwogen wurde, das Post- und Femmeldewesen dem Verkehrsministerium zuzuordnen, setzte sich die inzwischen starke Hauptverwaltung des Post- und Femmeldewesens des Vereinigten Wirt­

schaftsgebietes in Übereinstimmung mit der Arbeitsgemeinschaft der Gewerkschaften des Post- und Femmeldewesens mit der Forderung nach Errichtung eines eigenen Ministeriums durch.41

Im selben Jahr bildete sich im Bundestag der Ausschuß für das Post- und Femmeldewesen, und ein Jahr später bildete der Bundesrat einen Post­

ausschuß. Die für das Fernmeldehoheitsrecht maßgeblichen Gesetze42 wurden nicht verändert. Erforderlich war jedoch eine Überarbeitung des Reichspostfinanzgesetzes. Das Postministerium legte 1951 einen Entwurf für das Postverwaltungsgesetz vor, das sich an dem Vorläufer und am bereits verabschiedeten Bundesbahngesetz orientierte. Zu den wichtigsten Bestim­

mungen des 1953 verabschiedeten Gesetzes gehören insbesondere folgende Punkte:43

- Die Bundespost wird als Sondervermögen des Bundes geführt. Ihr Haushalt unterliegt, von Kleinigkeiten wie den Gehältern des Ministers und der Staatssekretäre abgesehen, nicht der Budgetkontrolle des Par­

laments.

- Die Deutsche Bundespost wird vom Bundesminister für das Post- und Femmeldewesen unter Mitwirkung eines Verwaltungsrates geleitet.

- Im Postverwaltungsrat sind Vertreter des Bundestages und des Bundes­

rates, des Personals, der Gesamtwirtschaft und Sachverständige für das Nachrichten- und Finanzwesen vertreten. Er beschließt u.a. über Be­

nutzungsverordnungen und Gebühren, neue technische Anlagen und Aufgaben. Diese Beschlüsse kann der .Bundespostminister der Bundes­

regierung vorlegen, die dann das Letztentscheidungsrecht hat.

- Der Haushalt ist im Einvernehmen mit dem Bundesfinanzminister auf­

zustellen.

- Als Ausgleich für die Befreiung von der Umsatz- und Körperschaftssteuer sind nach einem abgestuften Verfahren etwa 6 % der Betriebseinnahmen an den Bund abzuliefem.

Entgegen ursprünglichen Forderungen nach stärkerer parlamentarischer Kontrolle und größeren Rechten für den Verwaltungsrat ließen die Be-

40 vgl. zum folgenden ausführlich Werle, 1990: 69 ff.

41 W erle, 1990: 72.

42 Telegraphenwege-G esetz von 1899 und Fernm eldeanlagengesetz von 1928.

43 W erle, 1990: 75 ff. und 365 ff.

(22)

Stimmungen dem Minister einen äußerst großen Handlungsspielraum. Der Verzicht auf die vor dem Kriege bestehenden Entscheidungskompetenzen des Postverwaltungsrates wurde damit begründet, daß der Minister nur dem Parlament verantwortlich sein sollte. Ohne Budgetrecht war der Einfluß des Parlaments jedoch minimal. Trotz der erkannten infrastrukturellen Bedeu­

tung des Femmeldewesens verzichteten die Bundesländer mit der Zustim­

mung zum Postverwaltungsgesetz im Bundesrat ebenfalls auf konkrete Ein­

flußmöglichkeiten.44 Konflikte zwischen dem Postminister und . dem Postverwaltungsrat mußten von der Bundesregierung entschieden werden, was - etwa bei Tariferhöhungen - dazu führte, daß fachfremde Aspekte den Ausschlag gaben.45

In der Zeit bis 1980 wurden mehrfach Vorstöße aus der Politik und der Industrie unternommen, die Organisationsstruktur und Zuständigkeiten der Bundespost zu verändern.

- Als die Bundespost von 1961 bis 1965 Verluste von knapp 1,1 Mrd. DM machte, setzte die Bundesregierung eine Expertenkommission ein, die Vorschläge zur Verbesserung der Kapitalstruktur erarbeiten sollte.46 Sie schlug die Reduzierung politischer Einflüsse durch Umwandlung der Bundespost in eine Anstalt des öffentlichen Rechts vor.

- 1969 nahm die sozialliberale Koalition einen erneuten Anlauf und setzte eine Kommission ein, die ein Gesetz über die Unternehmens-Verfassung der Deutschen Bundespost ausarbeiten sollte. Der vorgelegte Gesetzentwurf scheiterte u.a. an der Frage des Ausmaßes der Mitbe­

stimmung der Gewerkschaften in dem zu bildenden Aufsichtsrat.47

Zumeist ging es darum, die lange Zeit bestehende Kapitalknappheit zu überwinden, zum Teil aber auch darum, privatwirtschaftlichen Investoren Zugang zur Telekommunikation zu verschaffen. Die Vorschläge der Kom­

missionen liefen auf eine Trennung der hoheitlichen von den unternehme­

rischen Aufgaben hinaus. Nicht zuletzt, weil dabei auch die Existenz eines eigenen Ministeriums infragegestellt und die Zuordnung zum Verkehrs­

ministerium als Möglichkeit angedeutet wurde, stießen diese Reform­

vorschläge auf erbitterten Widerstand im Postministerium. Mit verfas­

sungsrechtlichen Bedenken konnten die Postjuristen die Umsetzung der Re­

formvorschläge bis Ende der 80er Jahre immer wieder verhindern. Auch in Gerichtsverfahren gegen eine nach Auffassung der Kläger zu weite Auslegung des Femmeldemonopols konnten sich die Postjuristen erfolgreich durchsetzen. 1977 erreichten sie sogar in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, daß der Begriff der Fernmeldeanlage dynamisiert wurde und damit das Monopol auch auf zukünftige, noch nicht bekannte Techniken ausgedehnt wurde.48 Wie Werle betont, hatten die Postjuristen von Anfang an einen dominanten Einfluß auf das Post- und

44 Werle, 1990: 84 f.

45 vgl. W erle, 1990.

46 Werle, 1990: 137 ff.

47 W erle, 1990: 158.

48 Scherer, 1985: 84; W erle, 1990: 103 ff.

(23)

Femmelderecht, Die komplizierte Materie, aber wohl auch das geringe Interesse der Politik und der Wirtschaft am Femmeldewesen in der Nachkriegszeit führten dazu, daß sich die Postjuristen die Interpretations­

hoheit sicherten.49

Eine monopolartige Organisationsform hat sich, wie Schneider50 zeigt, trotz sehr unterschiedlicher Ausgangsformen weltweit durchgesetzt und bis weit in die 70er Jahre behauptet.51

Während die Telegraphie in fast allen Ländern von Beginn an im Monopol betrieben wurde, schufen nur Deutschland und Japan von Anfang an auch ein Femsprechmonopol. Österreich, Frankreich, Italien, die Niederlande, die Schweiz und Großbritannien begannen mit einem regulierten privaten Monopoluntemehmen. Nur Schweden und die USA begannen oder durchliefen eine Periode freien Wettbewerbs. In der Folgezeit ist eine Konver­

genz zu einem einheitlichen "organisatorischen Paradigma" festzustellen, das Schneider wie folgt beschreibt:

"Es verbindet eine starke öffentliche Kontrolle in Form einer öffentlichen Verwaltung (oder eines öffentlichen Unternehmens), eine quasi vertikale Integration von Netzbetrieb und Endgeräteproduktion durch eine hierar­

chische Koordinationsform und in den meisten Ländern eine vollständige horizontale Integration von Briefpost, Telegraphie und Fernsprechen. Das öffentliche Eigentum integrierte dabei mehrere Funktionen: die Planung, Kapitalbeschaffung, den Netzbetrieb, die Standardisierung, die Forschung und Entwicklung u.a.m. Nur die USA bilden einen Sonderfall: Die ur­

sprüngliche Wettbewerbsordnung wandelte sich schnell zu einem privaten Monopol, das dann zunehmend durch den Staat reguliert wurde ...”52

Zur Erklärung dieser internationalen Konvergenz führt Schneider insbe­

sondere an, daß das Telegraphenwesen als zuerst militärisch genutzte Technik entweder aus Sicherheitsgründen oder als Konkurrenz für die staat­

liche Briefpost und Bedrohung der daraus resultierenden staatlichen Mono­

polgewinne nicht privaten Unternehmen überlassen wurde. Der damals starke Staat beendete private Initiativen relativ bald. Beim Telefon unter­

scheidet Schneider zwischen Ortsnetzen und Femverkehrsnetzen. Fem- sprechortsnetze wurden zumeist und zunächst nicht als Konkurrenz zu Briefpost und Telegraphie gesehen. Viele Regierungen schätzten die Ge­

winnmöglichkeiten gering ein und vergaben Konzessionen. Die Konzessions­

nehmer begannen als Monopolisten oder kauften die lokalen Konkurrenten auf. Mit den Worten von Schneider: "The inherent nature of telephone net­

works - i.e. economics of scale combined with network externalities - then transformed initial competition sooner or later into a monopoly".53 Im Fernverkehr war demgegenüber die Konkurrenz zu Briefpost und Te-

49 W erle, 1990: 74 f. und 163 f.

50 1991.

51 Abb. 7.

52 Schneider, 1991: 25.

53 1991: 28.

(24)

Organizational Facets of Governance in Telecommunications Political Control Horizontal Integration Vertical Integration

Governmental PTT Complete

department integration

Public Telecom and post Manufacturer

corporation separated separated

Regulated Competition R&D, manufacturer, and

private firm between services terminal provision

separated

Unregulated Free competition: Liberalization

private firm complete horizontal integration

of ail levels

low

o T"? u-,O

O ooq

> c

high,

° 1 high1

i ’ ° n '2 0 " t a ' ' " N a t i o n ’

low high

D - W. Germany NL - Netherlands CH - Switzerland A - Austria GB - Great Britain F - France J - Japan S - Sweden I - Italy

USA - United States

low

Abb. 7: Die institutionelle Konvergenz im F em m eldew esen 54

54 Quelle: Schneider, 1991: 25, 27.

(25)

egraphie von Anfang an offensichtlich. Die Regierungen als Inhaber des Postmonopols erkannten die Einnahmechancen und erweiterten ihr Postmonopol um das Femmeldemonopol für Weitverkehrsnetze.

Als weitere Gründe für die Entstehung und Legitimation von öffentlichen Femmeldemonopolen oder staatlicher Kontrolle privater Monopole nennt Schneider die Vermeidung hoher Monopoltarife und diskriminierender Anschlußpraktiken.

Unzufriedenheit in der Bevölkerung veranlaßte Regierungen auf zentraler und regionaler Ebene zur staatlichen Regulierung. Diese Argumentation ist für die spätere Analyse sehr wichtig. Denn es wird zu prüfen sein, wieso alle diese Gründe in den 80er und 90er Jahren nicht mehr gelten und wie es zu einer völligen Umkehr der Regulierungspolitik kommen konnte.

2.4.Die Interaktionsdimension Dominante Handlungsorientierungen

Die technisch-stofflichen Grundlagen des Femmeldewesens und die rechtlich- institutionellen Bedingungen bilden die maßgeblichen Bestimmungsfaktoren für das Handeln der Akteure im Femmeldewesen. Als Aktionszentrum im Deutschland der Nachkriegszeit gilt dabei eindeutig das Bundespostministerium. Durch rechtliche Vorgaben und Traditionen ist es in ein komplexes politisch- ökonomisches Beziehungsgeflecht eingebunden, das es sich weitgehend selbst geschaffen hat. 55 Wie die detaillierte Analyse von Werle zeigt, ist dieses Ministerium jedoch in mehrere, nur lose gekoppelte Subsysteme differenziert. Das rechtliche Subsystem in Gestalt der Postjuristen war, wie schon erwähnt, darauf bedacht, die Handlungsautonomie der Bundespost gegen alle Versuche der Beschränkung zu erhalten bzw. auszubauen und zu diesem Zweck auch vor allem die eigene Institution zu erhalten. Immer kompli­

ziertere Benutzungsverordnungen, die weder von den Juristen der gewerblichen Teilnehmer und ihrer Verbände, geschweige denn von den privaten Teilnehmern selbst verstanden werden, wurden zu einem wichtigen Instrument in dieser Strategie.

Weitestgehend unabhängig davon hat sich ein technikbezogenes Interaktionssystem etabliert, zu dem die Ingenieure der Bundespost und des für Planungsaufgaben zuständigen Femmeldetechnischen Zentralamts sowie die Hersteller von Fernmeldeanlagen zu zählen sind. Die femmeldetechnische Industrie war aufgrund der Monopolstellung der Bundespost auf diese als Auftraggeber und Abnehmer angewiesen. Da die Post ihrerseits keine Anlagen produziert und auch keine eigene technische Forschung und Entwicklung betrieb, war sie umgekehrt auf das Know-How der Ingenieure der Hersteller angewiesen. Die Postingenieure favorisierten bei der Planung des Wiederaufbaus des Fernsprechnetzes eine Einheitstechnik. In der Regel war dies ein bestimmter Systemtyp. Die Patentinhaber wurden verpflichtet, *

Abb. 8 und die Übersicht im Anhang.

(26)

ihre Konstruktionslösung an die Mitbewerber weiterzugeben. Und dann wurden Lieferquoten festgelegt.

Abb. 8: Politisch-ökonom isches Beziehungsgeflecht in der Telekom m unikation56

Wie Werle für die ersten Nachkriegsjahre zeigt, wurde diese Kooperati­

onstradition bruchlos fortgesetzt. Obwohl es eine Reihe grundlegender Fragen zur Netzarchitektur, der Vermittlungstechnik und anderer Aspekte zu entscheiden gab und die einzelnen "Amtsbaufirmen" unterschiedliche Lösungen präsentierten, einigte man sich stets ohne größere Konflikte.

Werle spricht von einer bemerkenswerten Homogenität der Orientierungen in den technischen Arenen.56 57 Dazu gehören das unhinterfragte Femmeldemo­

nopol, die gemeinsame Orientierung am Ziel eines auf den Massenverkehr ausgelegten und funktionssicheren Netzes, eine in bezug auf technologische Innovationen eher vorsichtige Haltung bzw. ein Festhalten an beherrschten elektro-mechanischen Techniken. Werle spricht von einer paradigmatischen Bindung der Fernmeldeingenieure von Post und Herstellerindustrie (1990, S.

67). Allerdings wollte man auch mit der internationalen technischen Ent­

wicklung Schritt halten und experimentierte so immer wieder mit neuen Techniken.

Vor allem die frühen Entscheidungen wurden ohne Bemühung um wirt­

schaftliche Beurteilungen gefällt. Bedarfsabschätzung war für Jahrzehnte nicht erforderlich, weil die Nachfrage immer größer war als das finanziell mögliche Ausbau tempo: So betrug 1947 kriegsbedingt die Zahl der Sprech­

56 W erle, 1990: 143.

57 1990: 47.

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