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3.1 .Das Femmeldewesen in den 80er Jahren vor neuen Herausforderungen

Nach 30 Jahren kontinuierlichen Wachstums war die Bundespost Anfang der 80er Jahre zu einer Organisation von der Größe eines europäischen Konzerns aufgestiegen.68 69

Abb. 9: Erträge und Investitionen der Bundespost69

Die Phasen der Kapitalknappheit waren vorüber. Die Investitionen der Anfangsphase warfen Gewinne ab. Statt des Nachfrageüberhangs (Slogan

"Fasse dich kurz") wurde versucht, Nachfrage anzuregen ("Ruf doch mal an"). Teilweise wurde eine Vollversorgung mit Femsprechanschlüssen für Ende der 80er Jahre erwartet. Man sprach von einer Investitionslücke und meinte damit das Problem, in welche neuen Techniken und Dienstleistungen die Gewinne reinvestiert werden sollten, um neben dem Femsprechdienst weitere Massendienste aufzubauen.

Die deutsche Femmeldetechnische Industrie war ebenfalls stark gewachsen.

Neben dem sicheren Heimatmarkt hatte sie eine erhebliche Ausweitung der Exporte erzielt.

1983 verkündete der Zentralverband der Elektrotechnischen Industrie (ZVEI) in einer Broschüre über die Kommunikationstechnik in der Bundes­

republik stolz, daß die Bundesrepublik Deutschland mit einer Exportquote von 30 % weltweit der größte Exporteur kommunikationstechnischer Er­

zeugnisse sei.70

68 vgl. Abb. 9 und 10.

69 W erle, 1990: 218.

70 ZVEI, 1983: 58.

Personal insgesamt 1 davon Telekommunikation

1 in Tsd.; T a ilza itkrä fts auf volle Kräfte um ga ra ch ne t

Q ualle: O atsn aus G e sch ä ftsb e rich t u. Stadst. Jahrb. d ar 0 8 P . Jfd. Jahrgänge

Abb. 10: Personalentwicklung bei der Bundespost71

Im Vergleich zu den Wachstumsraten anderer Branchen schnitt die elektrotechnische Industrie insgesamt und speziell der Bereich der luK- Techniken außerordentlich gut ab. Zwar sind die Abgrenzungen nicht ein­

heitlich.72 Die folgenden Abbildungen zeigen den Trend jedoch sehr deutlich.

Abb. 11 gibt die Zahlen der damaligen Enquete-Kommission Neue Informations- und Kommunikationstechniken des Deutschen Bundestages wieder. Abb. 12 gibt vergleichbare Daten über einen größeren Zeitraum wieder. Weil die Preisentwicklung in den einzelnen Teilbereichen sehr unterschiedlich ist, enthält diese Abbildung neben den nominalen Werten auch einen preisbereinigten Produktionsindex.73

Die deutsche Femmeldeindustrie erreichte auch zusammen mit der Bun­

despost einen großen Einfluß auf die internationale Standardisierung auf europäischer Ebene (CCITT), indem z.B. der gemeinsam mit deutschen Herstellern entwickelte Teletex-Dienst als Weiterentwicklung des alten Telex- Dienstes zum internationalen Standard gemacht wurde.

Der EWS-Schock hatte an der engen Kooperation zwischen Industrie und Bundespost nicht viel geändert. Die Bundespost verzichtete im Hinblick auf ein neues volldigitales Vermittlungssystem auf detaillierte Vorgaben und das Prinzip der Einheitstechnik und setzte stattdessen auf einen Entwick­

lungswettbewerb, bei dem weltmarktfähige Produkte entstehen sollten.74 Die Systeme sollten nur untereinander kompatibel sein. Die drei anbietenden Firmen SEL, TeKaDe und Siemens erhielten 1982 Aufträge für die

71 ebenda

72 vgl. Schnöring, 1988.

73 vgl. ausführlicher: Schnöring, 1988: 15.

74 Werle, 1990: 262 f.

Errichtung von Präsentationsvermittlungsanlagen75. Dazu erhielten sie auch Mittel aus dem gemeinsam vom Bundesforschungs- und Bundespostministerium aufgelegten Förderprogramm Kommunikations­

technik.76 77

Nur Siemens und SEL schafften die technologischen und finanziellen Hürden für ein solches computergesteuertes Vermittlungssystem, dessen Entwicklungskosten damals auf 1 Mrd. DM geschätzt wurden.77 Zwar wiesen das System EWSD von Siemens und das System 12 von SEL einige Strukturunterschiede auf: im Testbetrieb war aber die Kompatibilität bewiesen worden. So erhielten beide Firmen Aufträge für den Serienbetrieb.

In Aussicht stand langfristig der Ersatz der gesamten 6000 Vermittlungs­

stellen, mit einem Investitionsvolumen von 78 Mrd. DM nur für die Vermittlungstechnik.78 Relativ schnell kamen, teilweise mit Unterstützung des Postministers und des Ministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit Exp ortaufträge.

So erfolgreich die Modernisierung des Fernsprechnetzes aus der Sicht der Bundespost und der Hersteller verlaufen ist, so schwierig verliefen die Bemühungen um den Ausbau der Datenfernübertragung: Seit Anfang der 70er Jahre wurde eine ganze Reihe unterschiedlicher Datenübertragungs­

möglichkeiten auf vorhandenen und neuen Netzen geschaffen. Bei den dafür erforderlichen Vermittlungssystemen wurden erstmalig auch ausländische Hersteller bevorzugt.79 Die Anschlußzahlen bewegten sich jedoch Anfang der 80er Jahre immer noch im Bereich der Promille der Fernsprechanschlüsse.

Nachdem in Großbritannien ein Informationsabrufdienst eingeführt wurde, begann auch die Bundespost mit der Konzipierung eines ähnlichen Dienstes, der Bildschirmtext genannt wurde. Den Auftrag für den zentralen Rechner erhielt IBM. Weil die Bundesländer ihre Kulturhoheit berührt sa­

hen, schlossen sie einen Staatsvertrag. Dabei kam es zu Kompetenzstreitig­

keiten zwischen Bundespost und Ländern.

Parteipolitischem und öffentlichem Druck sah sich die Bundespost aber vor allem in bezug auf das Kabelfemsehen ausgesetzt. Während in den 70er Jahren bereits Kabelnetze in sogenannten Abschattungsgebieten errichtet worden waren, weil dort der Fernsehempfang per Antenne nicht möglich war, drängte die CDU aus medienpolitischen Gründen auf die Ausweitung dieser Verkabelung. Die mehrfachen Versuche der CDU/CSU, privates Fernsehen in der Bundesrepublik einzuführen, waren vom Bundesverfassungsgericht stets mit dem Hinweis auf die knappen

Fre-75 ebenda: 263.

76 Klum pp/Rose, 1991: 106.

77 Mettler-Meibom, 1986: 308; in einer internen Übersicht gab die Firma SEL 1986 die eigenen Entwicklungsaufwendungen für das digitale Verm ittlungssystem System 12 seit 1977 m it 700 Mio. DM an. Die dam aligen jährlichen Entwicklungsaufwendungen betrugen 21 % vom Umsatz.

78 vgl. Schön, 1986 b.

79 vgl. W erle, 1990, sowie unten Abschnitt 3.

quenzen bei terrestrischer Verteilung abgewiesen worden. Kabelfemsehnetze boten technisch die Möglichkeit, bis zu 30 Programme zu verteilen und damit die technischen Restriktionen für das Privatfemsehen aufzuheben. Da die SPD medienpolitisch am Monopol des öffentlich-rechtlichen Rundfunks festhalten, aber auch nicht in der Öffentlichkeit als Verhinderer von Innovationen dastehen wollte, stellte sie die Kupferkoaxialkabeltechnik als veraltet dar und setzte sich für eine Erprobung der noch in stürmischer Entwicklung befindlichen Glasfasertechnik ein, die auch eine über das Fernsehen hinausgehende industriepolitische Bedeutung erlangen sollte.

') Inlandsverfügbarkeit = Produktion + Import - Export :) Exportquote = Export/Produktion

’) Importquote = Import/Inlandsverfügbarkeit

*) Aus Gründen der Vergleichbarkeit wurde der gesamtwirtschaftliche Produktionswert eingesetzt, obwohl darin in einem hohen Maße Doppelzählungen enthalten sind, die durch die mehrmalige Verrechnung von Vorleistungen entstehen. Diese Vorleistungen sind jedoch auch in den Produktionszahlen der Branchen enthalten. Zum Vergleich: BSP 1980: 1491,9 Mrd.

Abb. 11: Ist-Situation der Hersteller 198080

80 Quelle: D eutscher Bundestag, 1983: 36.

Produktion n M io. DM Produktionsindex f ü r d ie r e a le Exporte in M io. 0M 1

{nom inal) Produktion

Sektor 1970 1986 1970 1975 1980 1985 1986 1970 1986 Wachstumsrate p.a

Fernm eldetechnik 4 766 13 543 100 127 162 196 184 1 108 4 509 9 X

D rah tn a ch ric h te n te ch n ik 2 770 8 423 100 130 175 213 184 686 2 047 7 5

Fun knachrichtentechn ik 895 3 464 too 117 149 204 234 299 1 932 . . . 12 %

Kabel + Leitungen 1 101 1 656 100 127 129 126 128 123 530 9 X

D V -In d u s trie 2 701 16 894 ' 100 137 345 882 858 982 11 947 16 X

U n te rh a ltu n g s e le k tro n ik 5 664 10 021 100 143 173 182 204 1 868 7 793 9 X

Büromaschtnen 2 011 1 672 100 76 86 82 72 t 336 1 492 1 X

Bauelemente 2 904 7 676 100 115 155 240 256 1 099 6 700 I t X

Iu K -In d u s tr ie 18 046 49 806 100 124 174 252 259 6 393 32 441 10 X

E le k tro te c h n ik - - 100 113 131 161 170 12 569 58 480 10 X

V e ra rb eitende s Gewerbe - - too 104 123 127 131 - -

-Abb. 12: Entwicklung der Produktion nominal und real 1970-198681

Erstmals in der Nachkriegsgeschichte befand sich die Bundespost Anfang der 80er Jahre somit einer breiteren politischen und öffentlichen Debatte über ihre Investitionspolitik, ihre Ausbaustrategien und zukünftigen Dienstleistungen ausgesetzt. Die durch Mikroelektronik und Digitalisierung eröffnete Vielzahl technischer Optionen bei gleichzeitig langen und sehr teu­

ren technischen Entwicklungsvorläufen führte auch zu Planungsunsicher­

heit in der femmeldetechnischen Industrie.

1981/82 wurde auf Antrag der SPD-Bundestagsfraktion die Enquete- Kommission Neue Informations- und Kommunikationstechniken eingerich­

tet, die sich sowohl mit der Entwicklung der Datenverarbeitung als auch des Femmeldewesens, das im Hinblick auf die Ausweitung der Netze und Dienste inzwischen Telekommunikation genannt wurde, befassen sollte.

Zum Vorsitzenden wurde der medienpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bun- destagsfraktion und Batteriehersteller Christian Schwarz-Schilling gewählt.

Bei allen Konflikten über die medienpolitischen Fragen des Kabelfemsehens gab es zwischen den damaligen Bundestagsfraktionen Einvernehmen über die wirtschafts- und industriepolitischen Ziele. Die Deutsche Bundespost sollte die Infrastruktur für die sich abzeichnende Informationsgesellschaft errichten. Die technischen Planungen waren schon angelaufen, als mit dem Regierungswechsel 1982 Schwarz-Schilling Bundesminister für das Post- und Femmeldewesen wurde. *

81 Quelle: Schnöring, 1988: 15 f.

3.2.Das globale Ziel: Errichtung der Infrastruktur fü r die Informationsgesellschaft

Wie Sachs betont, zeichnen sich große technische Systeme nicht nur durch einen Sachaspekt, sondern zusätzlich durch einen damit in Wechsel­

beziehung stehenden Sinnaspekt aus. Zurückblickend schließen sie neue mentale Räume auf, in denen "Bedürfnisse, Selbstdefinitionen und Ideale gedeihen", die die Infrastruktur voraussetzen und dadurch deren Weiterent­

wicklung fördern. Im Entwicklungsprozeß selbst haben große technische Sy­

steme "mythenbildende Kraft".82 Man kann auch von Leitbildern sprechen.83 In den ersten 100 Jahren des Femmeldewesens bestand die sinnstiftende Mission in der Vollversorgung mit Femsprechanschlüssen und der Errichtung eines weltweit ausgelegten und sicheren Fernsprechnetzes ("größte Maschine der Welt").84 85

Abb. 13: Anteil der Beschäftigten in vier W irtschaftssektoren in den U SA85 82 Sachs, 1992: 5.

83 Dierkes/Hofffnann/Marz, 1992.

84 Vgl. auch Rogers, 1990, der das Leitbild des "universal service" beschreibt.

85 Quelle: Müllert, 1982.

Anfang der 80er Jahre wurde diese Mission neu formuliert und erweitert.

Die zukünftige Femmeldepolitik wurde eingebunden in die wirtschaftliche Strukturpolitik der Modernisierung der Volkswirtschaft und die Bewältigung des sich abzeichnenden Strukturwandels.

Während schon seit den 70er Jahren von einem Wandel hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft gesprochen wurde, wurde Anfang der 80er Jahre im Zusammenhang mit Studien der OECD der Begriff der Informationsge­

sellschaft geprägt. Die traditionelle Einteilung in die drei Sektoren nach Fourastie wurde erweitert um einen sogenannten Informationssektor, für den die größten Wachstumsraten ermittelt wurden.86 87

Abb. 14: Entwicklung der Beschäftigung in Deutschland in den vier Sektoren, 1882-198287

Als zweiter Bezugspunkt diente die Konjunkturtheorie der langen Wellen, nach der die Konjunkturzyklen mit der Nutzung technischer Basisinno­

vationen Zusammenhängen. Daraus wurde die Hoffnung abgeleitet, durch

86 vgl. Abb. 13 und 14.

87 Quelle: Dostal, 1984.

Nutzung von Basisinnovationen der 60er und 70er Jahre die tiefe Rezession zu überwinden.88

In der Verbindung beider Bezugspunkte wurde der Begriff Informations­

gesellschaft engstens mit der Informationstechnik verbunden: Die zukünftige Informationsgesellschaft soll vor allem von der Produktion und Distribution von Informationen leben, für die neue Informationstechniken einzusetzen sind. Die Entwicklungen der Mikroelektronik sowie der Glasfaser- und Satellitentechnik regten zu einer Fülle von Szenarien für diese Informationsgesellschaft an, in denen technologische Prognosen und Science Fiction oft nicht zu trennen waren.89 90

Abb. 15: Zusam m enhang zwischen W irtschaftskonjunktur und Erfindungen in den Industrieländern90

In der Bundesrepublik bestand zwischen den großen Parteien Einigkeit, daß der Strukturwandel hin zur Informationsgesellschaft staatlich zu fördern sei, um im internationalen Wettbewerb mit den USA und Japan Schritt zu halten, und daß dabei der Femmeldeinfrastruktur eine zentrale Bedeutung zukomme. So wie die Entwicklung der Industriegesellschaft durch den

88 vgl. Abb. 15.

89 Sackman/Norman, 1970; Johnson, 1971; Martin, 1978; Tofiler, 1980; zur Kritik: Kubicek, 1985; Traber, 1986; Slack/Fejes, 1987.

90 Quelle: Siem ens AG.

Ausbau einer Infrastruktur für die Produktion und Distribution von physi­

schen Gütern (Stromnetz und Verkehrsinfrastruktur) gefördert wurde, so müßte nun für die angestrebte Informationsgesellschaft eine leistungsfähige Infrastruktur für die Produktion und Distribution von Informationen in Form von Sprache, Daten, Texten und Bildern geschaffen werden. Es be­

stand auch Übereinstimmung, daß nur die Deutsche Bundespost die erfor­

derlichen Investitionen aufbringen könnte. Neben der binnenwirtschaftli­

chen Funktion sollte dieses Ausbauprogramm auch die Exportchancen der deutschen femmeldetechnischen Industrie stärken und der deutschen Da­

tenverarbeitungsindustrie im Kampf gegen IBM auf dem heimischen Markt für Datenverarbeitungssysteme helfen.91

3.3 Das Integrierte Universalnetz als technologisches Leitbild

Bereits bei den Überlegungen zur Digitalisierung des Fernsprechnetzes war in den von den Postverwaltungen und Herstellern besetzten internationalen Standardisierungsgremien Mitte der 70er Jahre die Idee entwickelt worden, in einem digitalen Netz alle bisherigen Femmeldedienste zu integrieren. Die speziellen Datennetze arbeiteten, weil Daten in Computern in digitaler Form anfallen, mit digitaler Übertragungstechnik. Um das analoge Fernsprechnetz für die Datenübertragung nutzen zu können, mußten Modems als Digital- Analog-Wandler eingesetzt werden. In einem digitalen Fernsprechnetz könnte diese Umwandlung entfallen. Auch schien es möglich, wie auf den bereits digitalisierten Fernleitungen auf den Teilnehmeranschlußleitungen mehreren Kanäle gleichzeitig zu schalten und damit mehrere Dienste parallel nutzbar zu machen.

Ab 1977 befaßte sich eine Studiengruppe des CCITT mit Konzepten für ein solches integriertes digitales Netz, für das die Bezeichnung ISDN (Integrated Services Digital Network) gewählt wurde. Eine maßgebliche Rolle spielte dabei der Ingenieur Irmer vom FTZ, dem 1980/81 die Koordination aller ISDN-relevanten Arbeiten der verschiedenen Studiengruppen der CCITT übertragen wurde.92

Der Rückschlag, den die Bundespost und die Femmeldeindustrie mit dem Abbruch der EWSO-Vermittlungstechnik erlitten hatten, wurde nun zu einem Vorteil. Die Entwicklung der neuen digitalen Vermittlungssysteme wurde gleich auf die spätere Diensteintegration und die Übernahme des noch in der Entwicklung befindlichen ISDN-Standards ausgerichtet.

Unerwartet war den deutschen Fernmeldeingenieuren eine Vorreiterrolle in Westeuropa für die Schaffung eines technologisch zukunftsweisenden Netzkonzeptes zugefallen, die auch industriepolitisch genutzt werden sollte..

Bundespost und Hersteller wurden international zu den Hauptpromotoren der ISDN-Entwicklung.

91 D eutscher Bundestag, 1983; die in Kubicek, 1985 und 1988, behandelten Quellen; Mettler-Meibom, 1986; Gottschalk, 1991; Klum pp/Rose, 1991.

92 W erle, 1990; 277.

Der ISDN-Standard sieht vor, daß auf der Teilnehmeranschlußleitung zwei parallele Nutzkanäle mit einer Übertragungsrate von jeweils 64.000 bit/Sekunde und ein separater Steuerkanal geschaltet werden. Über den Steuerkanal können eine Reihe von Leistungsmerkmalen wie Rufumleitung, Gebührenanzeige u.a.m. realisiert werden. Den Netzabschluß bildet eine so­

genannte Kommunikationssteckdose, an die bis zu acht unterschiedliche Endgeräte angeschlossen werden können, von denen jeweils zwei gleichzeitig genutzt werden können.93

Nutzungsmöglichkeiten für I$ON-Teilnehmeranschlüsse

IS D N -M ehrfach­

en erart- Endgeräta ISD N -E inzel-

dlenet-Endqe rate

Text

Büdschirrrr-T »WfoA

Art* rtsp U fcc-S U bon

[ In t e g r i e r t e s Schmalbandlges [ D ig it a l e s H e t z

PW« oust —

»xMihfliüror

2 X M Ü t j j t D y

Theoretisch sind bis zu 8 Endtjeräts je IS D N -g esiM fochluß möglich

ISDN-Steck- dosen m it Netz-

•bschluß NT

IS O N -fth iq eO rte-verm ittlungsstelle (OVSt)

Abb. 16: Nutzungsm öglichkeiten von ISDN Hauptanschlüssen

Die Techniker sprachen von einer Evolution des ISDN aus dem digitali­

sierten Fernsprechnetz. Technologisch gab es für sie plötzlich keine Alterna­

tive mehr.94 Dabei handelt es sich technisch um einen grundlegenden Paradigmawechsel. Die femmeldetechnische Industrie reagierte bis 1978 abwehrend.95 So warnte 1977 das für Telekommunikation zuständige Vor­

standsmitglied der Siemens AG, Dieter von Sanden, noch vor einer Inte­

gration von Telefon- und Datennetzen:

93 vgl. Abb. 16.

94 Kubicek/Berger, 1990: 95 f.

95 Klumpp/Rose, 1991: 106.

"Zuverlässigkeitsforderungen stehen dem Zusammenfassen wesensfremder Funktionen entgegen: deshalb gibt es heute Daten-/Textnetze neben dem Telefonnetz...

Mit anderen Worten, im Zweifelsfalle nehme man lieber einfache, über­

sichtliche getrennte Funktionen oder Anlagen mit einem gewissen Mehr­

aufwand bei der Anschaffung ... als eine Mischanlage, die wegen ihrer Kompliziertheit erhöhte Betriebsaufwendungen bringt.

Aus dieser Philosophie der Desintegration, des Zusetzens von Redundanz heraus, ist auch des Trennen der Telefonie einerseits und Text- und Da­

tenübermittlung andererseits in verschiedene Vermittlungsnetze betriebs­

sinnvoll. Das deutsche Konzept des digitalen Datennetzes neben dem Te­

lefonnetz trägt diesem Rechnung..."96

Der Widerspruch zwischen den "wesensfremden Funktionen"97 und der

"Evolution" zur Integration98 kann hier nicht aufgelöst werden. Es mag sein, daß Siemens zunächst - nach den Schwierigkeiten mit elektronischen Systemen vor der Kompliziertheit integrierter Systeme zurückschreckte.

Bereits 1980, drei Jahre später, sprach sich auch von Sanden für eine Integration aus. International übereinstimmend gingen die Technikexperten davon aus, daß die zukünftige Entwicklung durch die Integration der bisher getrennten Bereiche der Datenverarbeitung, der Nachrichtentechnik und der Bürotechnik gekennzeichnet sei.99

Was Integration dabei konkret bedeutet, blieb und bleibt zumeist offen. Als sicher galt nur, daß in Femmeldenetzen Datenverarbeitungsanlagen als Ver­

mittlungsrechner eingesetzt werden und daß in der Datenverarbeitung Rechnemetze die Zukunft prägen werden.

Die Idee der Netzintegration wurde durch eine Reihe weiterer Argumente gestützt, so daß sie sich innerhalb weniger Jahre als Leitbild durchsetzte.100 - Die Bundespost wurde von Seiten der Datenverarbeitungsindustrie und

der großen Anwender wegen der hohen Gebühren für die Datenübertra­

gung kritisiert. Mehrfach wurden die Tarife gesenkt, um das Monopol zu retten. Die Datendienste brachten so nur eine Kostendeckung von 30 bis 40 %. Die Ursache dafür sahen die Postplaner darin, daß Spezialnetze wegen der eigenen Teilnehmeranschlußleitungen hohe Investitionskosten erzeugen. Etwa 2/3 der Investitionen für ein Netz lägen bei den Erdarbeiten zur Verlegung von Anschlußleitungen. Bei den Datennetzen betrug deren durchschnittliche Länge ca. 50 km, beim Telefonnetz etwa 2,3 km.101 Die Möglichkeit, das bereits flächendeckend verlegte Fernsprechnetz für die Datenübertragung zu nutzen, erschien somit als

96 von Sanden, 1977: 9.

97 von Sanden.

98 Irmer, 1982: 296 f.; Rosenbrock, 1984.

99 Abb. 17.

100 vgl. auch Klum pp/Rose, 1991: 104 ff.

101 Schön, 1986 b: 26.

Ausweg aus dem Teufelskreis hohe Kosten - hohe Gebühren - niedrige Anschlußzahlen.

Abb. 17: Technologische Integration102

F e rn s p re c h n e tz In te g rie rte s Text u n d D a te n e tz (IDN) (die Punkte e n tsprech en den Verm ittlungsstellen)

Quelle: 0 8 P

Abb. 18: Die unterschiedliche Dichte von Fernsprechnetz und D atennetzen103

- Ein von der deutschen Industrie geprägter neuer Netzstandard wurde darüber hinaus als eine Möglichkeit gesehen, der deutschen Datenver­

arbeitungsindustrie eine Chance, wenn nicht einen Vorsprung im

Wett-102 Brehpol, 1982: 121.

103 Kubicek/Berger, 1990: 21.

bewerb mit IBM auf dem sich abzeichnenden großen Markt der Büroau­

tomation oder Bürokommunikation zu verschaffen. Ganz in der Tradition der Infrastrukturpolitik wurde die Losung ausgegeben, wer den Netzstandard setzt, hat auch den Markt für die Endgeräte104 Und diesbe­

züglich herrschte die Vision vor, daß es in zwei bis drei Jahrzehnten so viele Datenstationen wie damals Telefone geben werde.

- Ein drittes wichtiges Argument betraf die immer wieder aufflackemde Diskussion über das Femmeldemonopol.105 In den USA war das Monopol von AT&T aufgehoben worden. Der technologische Vorsprung bei den Datennetzen wurde auf den dort herrschenden Wettbewerb und die Existenz vieler privater Datennetze zurückgeführt. Die Bundespost wollte sich aber gerade diese zukunftsträchtigen Netze sichern.106 Separate Datennetze schienen technisch leicht privatisierbar. Ein integriertes Sprach- und Datennetz sollte demgegenüber das Netzmonopol für die Zukunft sichern. Mit diesem Argument gewann der inzwischen in den Ruhestand versetzte Postplaner Arnold die SPD und die Postgewerkschaft für die Integrationsidee, die darüber ihre Bedenken im Hinblick auf die

Rationalisierungsfolgen eines flächendeckenden

Datenübertragungsnetz.es in allen Anwenderbranchen zurückstellten.

Ähnlich hat auch die fernmeldetechnische Industrie schon früher ar­

gumentiert. 1980 betonte Siemens-Vorstand von Sanden, daß private Betreiber von Datennetzen - und dafür kam in erster Linie IBM in Frage - nicht nur die entsprechenden Netzinvestitionen auf sich ziehen würden, sondern über diese Netze schrittweise auch Sprache und Texte übertragen könnten und damit in den Kembereich der femmeldetechnischen Industrie vorstoßen würden.107

Bereits 1982, bevor die internationale Standardisierung abgeschlossen war und bevor neue Dienste definiert waren, gab die Bundespost gegenüber den Herstellern eine ISDN-Absichtserklärung ab, um ihnen Planungssicherheit zu vermitteln.

Die Integrationsidee war jedoch vorher schon weiter ausgedehnt worden. Als Fernziel wurde ein breitbandiges Vermittlungsnetz gesehen, das neben den bekannten schmalbandigen Diensten der Sprach-, Daten- und Textübertragung auch die Massenkommunikation, d.h. insbesondere die Vermittlung von Fernsehprogrammen einbeziehen sollte. Diese Vision wurde bereits im Bericht der KtK beschrieben,108 von Forschungs- und dem Postministerium gemeinsam aufgegriffen und führte zu den technischen Systemversuchen mit einem "Breitbandigen Integrierten Glasfaser- Femmeldeortsnetz (BIGFON)", in dem auf der Basis von Glasfaseranschluß­

leitungen auch Fernsehprogramme abrufbar gemacht wurden.109

Diese Versuche waren neben kleineren Projekten in Frankreich international die erste größere und systematische Erprobung der Glasfasertechnik und von unterschiedlichen Systemen der Breitbandvermittlungstechnik und

104 G ottschalk 1991: 167; Kubicek/Berger, 1990: 103 ff.

105 Grande, 1989: 198 ff.

106 Arnold, 1981, zit. nach Werle, 1990: 279.

107 vgl. W erle, 1990: 278.

108 KtK, 1976: 127 f.

109 Mettler-M eibom , 1986; W erle, 1990: 289; siehe Abb. 19.

sollten der deutschen Femmeldeindustrie weltweit einen Vorsprung verschaffen.

1984 veröffentlichte die Deutsche Bundespost dann ihre langfristigen Ausbaupläne in Form eines vierstufigen "Konzepts zur Weiterentwicklung

der Femmeldeinfrastruktur".110

(1) Digitalisierung des Fernsprechnetzes: Seit 1986 werden jährlich einige Dutzend der insgesamt 6000 elektromechanischen Femsprechvermitt­

lungsstellen durch Computersysteme (digitale Vermittlungstechnik) er­

setzt. Daneben wird die schon früher begonnene Digitalisierung der Übertragungstechnik zwischen den Vermittlungsstellen fortgesetzt.

---Abb. 19: Das Integrierte Universalnetz BIGFON111 no BPM, 1984 a.

i n Kubicek, 1988: 79.

(2) Einführung des ISDN-Standards: Darauf aufbauend soll die Telefon­

steckdose durch eine sogenannte Kommunikationssteckdose ersetzt werden. An diese können bis zu acht unterschiedliche elektronische Endgeräte (Telefon, Computer, Textautomat, Femkopiergerät u.a.m.) an­

geschlossen werden, wovon jeweils zwei gleichzeitig und unabhängig genutzt werden können.112 Damit werden die bisher nur im Integrierten Femschreib- und Datennetz (IDN) angebotenen Femmeldedienste der

geschlossen werden, wovon jeweils zwei gleichzeitig und unabhängig genutzt werden können.112 Damit werden die bisher nur im Integrierten Femschreib- und Datennetz (IDN) angebotenen Femmeldedienste der