Forschungsgruppe "Große technische Systeme"
des Forschungsschwerpunkts Technik - Arbeit - Umwelt am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung
FS II 91-501 Geflügelte Saurier
Systeme zweiter Ordnung: ein Verflechtungs- phänomen großer technischer Systeme
Ingo Braun
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gGmbH (WZB) Reichpietschufer 50, DW-1000 Berlin 30
Tel.: 030/25 491
Zusammenfassung
Der Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, in welche Richtung die Entwicklung "großer tech
nischer Systeme" in Zukunft gehen könnte. Der Autor versucht zunächst plausibel zu machen, da_ß auf absehbare Zeit die klassischen Infrastruktursysteme des Straßenverkehrs, der Stromversorgung, der Telekommunikation usw. trotz der vor allem ökologisch motivier
ten Dezentralisierungsbemühungen weiter ausgebaut werden. A u f Basis dieser Annahme wird die These aufgestellt, daß für den weiteren Ausbau und das weitere Wachstum der klassischen Infrastruktursysteme Verflechtungsphänomene zwischen den vorhandenen In
frastrukturen eine zunehmend wichtige Rolle spielen. Solche "Vernetzungen der Infra- struktumetze" werden am Beispiel der Organtransplantation und der Sondermüllentsor
gung beschrieben und mit dem Konzept der großen technischen Systeme "erster Ordnung"
(die klassischen Infrastruktursysteme) und "zweiter Ordnung" (zweckspezifische Verflech
tungen der klassischen Infrastruktursysteme) zu erfassen versucht.
Summary
The article deals with the question of which direction the future development of "large tech
nical systems" might take. First, the author tries to explain that in the foreseeable future the traditional infrastructural systems (roads, electricity, telecommunication, ect.) will be fur
ther expanded in spite of (mostly ecology-related) efforts in decentralization. On the basis of this assumption, the author then puts forth the hypothesis that in the course of a further expansion of traditional infrastructural systems interconnections among existing infrastruc
tures will become increasingly important. Using the examples of organ transplant and toxic waste management, the author describes and explains phenomena of "networks of infra
structural networks" on the basis of the concept of "primaiy" large technical systems (tradi
tional infrastructural systems) and "secondary" large technical systems (interconnections of traditional systems).
Inhalt
Seite
Einleitung...1
1. Abbau, Neubau oder Ausbau?... 3
2. Vernetzungstendenzen in ausgewählten Problemfeldern...11
2.1 Organtransplantationssysteme...14
- Aufgaben und Probleme des Transplantationswesens... 14
- Gerätetechnische Strukturen. . ... 17
- Netztechnische Strukturen . . . ... 23
- Entwicklungstendenzen...28
2.2 Sondermüllentsorgungssysteme... 31
- Aufgaben und Probleme der Sondermüllentsorgung ...32
- Anlagentechnische Strukturen ... 36
- Netztechnische Strukturen... 40
- Entwicklungsstendenzen... 47
3. Große technische Systeme erster und zweiter Ordnung. ...52
- Verschränkung und Verknüpfung großer technischer Systeme . . . . 54
- Systeme zweiter Ordnung... 58
- Sozialwissenschaftliche Anknüpfungspunkte...62
4. Ausblick: Flexibilität durch vernetzte Netze?... 64
Abbildungsnachweise... 69
Literatur... 69
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"Die Entdeckung der Dinosaurier im 19. Jahrhundert stellte wesent
liche Argumente dafür bereit, daß Größe und Schlauheit negativ kor
relieren. Mit ihren erbsengroßen Gehirnen und gigantischen Körpern wurden Dinosaurier zu einem Symbol schwerfälliger Dummheit.
Doch die beste Illustration der Fähigkeiten der Dinosaurier liegt in der Tatsache, die am häufigsten gegen sie angeführt wird - in ihrem Aussterben. Bemerkenswert ist an den Sauriem nicht, daß sie aus- starben, sondern, daß sie die Erde so lange beherrschten. Dinosau
rier lebten 100 Millionen Jahre, während die Säugetiere sich als kleines Getier in den Zwischenräumen ihrer Welt aufhielten. Meinen Sie, jemanden finden zu können, der eine hohe Wette darauf ab
schließt, daß es den Homo sapiens länger geben wird als den Bron
tosaurus? [ ] Dinosaurier waren schnell, aktiv und warmblütig. Dar
über hinaus seien sie noch nicht den Weg allen Fleisches gegangen, denn ein Zweig ihres Stammbaums überlebte auf den Zweigen, näm
lich die Vögel. In beinahe endlosen Diskussionen bemerkte ich, daß die Beziehung von (diesen) zwei Thesen weithin mißverstanden w or
den ist, während der richtige Grund die Dinosaurier als Vorläufer der Vögel, mit der Warmblütigkeit der Dinosaurier nahtlos verbindet."1
Einleitung
In den politischen Auseinandersetzungen, die in den 70er und 80er Jahren um Atomkraftwerke, Großflughäfen und Rüstungstechnologien geführt wur
den, dienten die Dinosaurier als Sinnbild für eine überdimensionierte, jedem menschlichen Maß entrückte Technik, die in einer evolutionären Sackgasse unweigerlich ihr zerstörerisches Ende finden werde. Die mittlerweile ange
laufenen Bemühungen zur Rettung der Saurierehre, bei der Paläontologen und Evolutionsbiologen auf massive Hilfe von Hollywoods Trickfilmtechni
kern hoffen können, wird nicht nur das öffentliche Image der Saurier ver
bessern.
Auch die saurologische Metaphorik großer technischer Systeme - so man sie beibehalten will - könnte davon profitieren, denn ein evolutionäres Ende dieser Systeme ist noch lange nicht in Sicht. Die ökonomischen, politi
schen und vor allem auch die ökologischen Probleme, die der Betrieb großer technischer Systeme bereitet, scheinen eher ihren Ausbau zu beflügeln als ihren Rückbau zu erzwingen. Die aktuellen Bemühungen um die Moderni
sierung und den Ausbau der klassischen Infrastruktursysteme machen zu
1 Unter Auslassungen aus: Stephan Jay Gould: Der Daumen des Panda. Betrachtungen zur Naturgeschichte, Stuttgart, 1990: 27 Iff.
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dem eine evolutionäre Flexibilität dieser Systeme sichtbar, die Abstriche an den gängigen Klischees eben auch der großen Technik verlangt.
Setzt man für die Dinosaurier große technische Systeme klassischen Typs ein (GTS erster Ordnung), für die Säuger kleine technische Systeme, die sich in den Zwischenräumen der großen aufhalten, und für die Vogelsaurier GTS zweiter Ordnung, die als vorerst letzte evolutionäre Errungenschaft im luftigen Geäst des GTS-Stammbaums sitzen, umreißt der kleine Ausflug in die Saurologie recht akkurat das Erkenntnisinteresse und den Blickwinkel dieses Beitrags.
Das Erkenntnisinteresse der folgenden Betrachtung richtet sich dem
nach auf die Zukunft großer technischer Systeme und auf aktuelle Entwick
lungstendenzen in der infrastrukturellen Landschaft der Industriegesell
schaften. Dieses Interesse ist mit der spezifischen Vermutung verbunden, daß Verflechtungsphänomene zwischen den großen technischen Systemen klassischen Typs, also etwa den Systemen des Schienenverkehrs, der Strom
versorgung oder des Fernsprechverkehrs, für deren weiteres Wachstum und funktionelle Differenzierung eine wichtige Rolle spielen werden. In dem Bei
trag werden also nicht die Gründe für die Expansion der Systeme klassi
schen Typs im Vordergrund stehen, sondern die Frage, in welcher Form sich ihr weiteres Wachstum vollziehen könnte.
Die näheren Anlässe für diese Vermutung über die GTS-Zukunft und der Perspektivenwechsel, den ihr Einlösen mit Blick auf die bislang vorlie
gende GTS-Forschung in den Sozialwissenschaften erfordert, bilden den Ge
genstand des ersten Teils. Was unter Verflechtung im Feld großer techni
scher Systeme zu verstehen ist, soll im zweiten Teil für zwei recht unge
wöhnliche Verflechtungsfälle, oder, um im Bild zu bleiben, anhand zweier vergleichsweise exotischer GTS-Vögel verdeutlicht werden, und zwar an tech
nischen Vernetzungen im Bereich der Organtransplantation und der Sonder
müllentsorgung. Im dritten Teil wird das an den beiden Beispielen illustrierte Phänomen zunächst in das durchaus breite Spektrum möglicher Spielarten von GTS-Verflechtungen eingeordnet, um dann einen Versuch zu unter
nehmen, es mit der Begrifflichkeit der Systeme erster und zweiter Ordnung konzeptionell zu verdichten. Dem vierten und abschließenden Teil soll die Frage Vorbehalten sein, welche Rückwirkungen der Aufbau und Betrieb von Systemen zweiter Ordnung auf das Wachstum und die funktionelle Differen
zierung der Systeme erster Ordnung haben könnten.
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1. Abbau, Neubau oder Ausbau?
Im Prinzip gibt es zwei Möglichkeiten, über die weitere Entwicklung im Feld großer technischer Systeme zu spekulieren. Entweder man vertritt die These, die Zeit der technischen Dinosaurier sei vorbei, "großtechnische" Ein
richtungen und weiträumig technisch vernetzte Systeme seien an ihre Ent
wicklungsgrenzen gelangt oder gar langfristig zum Aussterben verdammt, da sie gegenüber maßstäblich kleineren Technikgebilden ökologisch, ökono
misch, politisch, kulturell und letztlich eben auch technisch, das heißt unter schlichten Machbarkeitsgesichtspunkten immer mehr ins Hintertreffen ge
raten.
Oder man vertritt die Auffassung, die Entwicklung großer technischer Systeme "schreite voran". Danach werden bestehende GTS ausgebaut, und neue GTS kommen hinzu, da sie nicht nur unverzichtbar für die meisten maßstäblich kleineren Technikgebilde sind, sondern allein schon ihre Ver
nachlässigung einen Rattenschwanz unerwünschter politischer, ökonomi
scher und insbesondere ökologischer Folgen nach sich zieht.
Daß langfristig mit einem Rückbau von GTS zu rechnen sei und große, technisch vernetzte und unüberschaubare Infrastruktursysteme kleinen vor
geblich überschaubareren technischen Lösungen tendenziell Platz machen würden, ist aus vielen Gründen unwahrscheinlich. Bereits in ihrer noch un
schuldigen Papierform ist an vielen Modellen für "dezentrale" Versorgungssy
steme zu erkennen, daß auch sie auf übergreifende Infrastrukturnetze ange
wiesen bleiben, und sei es nur im Sinne raffinierterer und flexibler ausge
legter "Backup"- und "Monitoring'-Systeme überörtlichen Zuschnitts.
So wird eine "ökologische" Energiewirtschaft, die auf Basis eines farbi
gen Patchworks dezentraler Energietechnik (Sonnen-, Wasser-, Wind-, Erd
wärme-, Blockheizkraftwerke) errichtet werden soll, in überregionale Strom- und Energieverbundnetze sowie in globusumspannende Systeme der satelli
tengestützten Wetterbeobachtung eingebunden sein müssen, um Versor
gungsengpässe antizipieren und überbrücken zu können (Weinberg/Wil
liams 1990). Wohnviertelbezogene Brauchwassernetze und Kläreinrichtun
gen, mit denen einige Kommunen gegenwärtig ökologisch aufgeschlossene Bauherren experimentieren lassen, werden kommunale Wasserentsorgungs
systeme und regionale Trinkwasserversorgungsnetze allenfalls ergänzen, kei
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neswegs jedoch überflüssig machen. Auch die bereits vorzeigbaren Erfolge einiger Städte, den PKW-Verkehr aus den Citybereichen zu verbannen, sind wesentlich durch Verlagerung des Verkehrsaufkommens auf entsprechend vergrößerte Systeme vor allem des Schienennahverkehrs (Straßenbahn, S- Bahn), nicht etwa durch Maßnahmen der Verkehrsvermeidung erzielt wor
den.
Bei alledem sollte man nicht vergessen, daß Sozial- und Umweltverträg
lichkeitstestate, die vor allem die Solar- und Wasserstofftechnik zu "human
ökologischen" Hoffnungsträgern werden ließen, diese nicht automatisch vor großtechnischen Anwendungen bewahren - wie etwa der in jüngster Zeit pro
pagierte Vorschlag illustriert, halb Quebec unter Wasser zu setzen, um die hierdurch verfügbare Wasserkraft zu verströmen, mit dem so gewonnen Strom Wasserstoff elektrolytisch herzustellen, ihn anschließend zu verflüssi
gen, auf riesige Containerschiffe zu verladen, um den halben Globus nach Europa zu verschiffen, ihn hier wieder zu verströmen und den so gewonnenen Strom in das deutsche Stromverbundnetz einzuspeisen (siehe Abb. I).2
Selbst die konsequente Umsetzung von Vermeidungsstrategien und Einsparungsmaßnahmen (Energie- und Wassereinsparung, Abwasser- und Verkehrsvermeidung, Kommunikationsvermeidung?) wird netztechnische Infrastrukturen nicht erübrigen. Dies zeigt etwa das durchaus erfolgreiche Maßnahmenbündel zur Energieeinsparung, das im Gefolge der sogenannten Ölkrisen der 70er Jahre in der Bundesrepublik in Angriff genommen wurde.
Denn es hat zwar in den 80er Jahren den relativen Energieeinsatz bei den Kraftwerks- und Endgerätebetreibern (gewerbliche und private Verbraucher) gesenkt und sogar den Energieeinsatz insgesamt verringert (siehe Abb. 2)3, dennoch ist die Nutzung der Energieversorgungssysteme erheblich aus geweitet worden: Im Vergleich zu den 70er Jahren wird heute pro Person mehr Auto gefahren, weiter geflogen, ein umfangreicherer Park elektrischer Haushaltsgeräte betrieben, ein größerer Wohnraum besser ausgeleuchtet und länger angenehm temperiert (vgl. Statistisches Bundesamt 1989: 128f., 318f.). Die Energieversorgungsnetze sind also trotz ansehnlicher Einspa-
2 Zu diesen und anderen Vorstellungen einer Wasserstoffwirtschaft siehe Büttner 1991.
3 Der Primärenergieverbrauch der Bundesrepublik sank von 1979 bis 1983 und erreichte erst Ende der 80er Jahre wieder das Niveau von 1979 (Statistisches Bundesamt 1989: 327).
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Wassersleklrolyse m Kanada
Stromerzeugung mil Wasserkraft
f f Ö &
NH, MCH LH 2
Chemische Bindung des Wasserstoffs in Kanada
Transport über den A tlan tik
Freisetzung des Wasserstoffs in Europa
GH, G H j GHj/L Hj ch, tiObori
w
Ü G ? Nutzung des Wasser
stoffs als Energiequelle
L e g e nd e : T = Toluol
M C H = Methylcyclohexan
E = Energie
GH2/LH2 = Gasförmiger/flüssiger Wasserstoff
NH3 = Ammoniak
Abbildung 1: B lockschem a des Projekts "Euro-Quebec Hydro-Hydrogen"
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rungserfolge unverzichtbarer geworden, oder, was den Sachverhalt wohl tref
fender beschreibt, sie konnten durch Einsparungserfolge unverzichtbarer werden.4
Zudem sind von Einsparungsimperativen und Recyclingprojekten großen Maßstabs immer schon wichtige Impulse für den Auf- und Ausbau der großen Infrastrukturnetze ausgegangen. Man denke an die hierzulande in den 60er Jahren anlaufende Umstellung von Einzelofenheizungen auf Zentralheizungs- und Fernwärmesysteme oder an industrielle Abgase (von Kokereien) und Abwärme (von Stahlwerken), die man Anfang des Jahrhun
derts für die Energieversorgung der Haushalte zu nutzen begann (vgl. Rad
kau 1989: 285ff).
Vieles läßt sich also für den Fortbestand und die Fortentwicklung der
"Gattung" großer technischer Systeme ins Feld führen. Damit ist jedoch nicht unbedingt gesagt, daß für die weitere Entwicklung mit einer ungebro
chenen Expansion alter GTS oder mit dem baldigen Aufbau neuer GTS, zu
mindest nicht in den infrastrukturell relativ gut versorgten Industrieländern, zu rechnen wäre.
Grundlegende Veränderungen in der Infrastrukturlandschaft der Indu
strienationen, wie sie etwa die Solarwirtschaft, das Wasserstoffverbundsys
tem oder der berüchtigte geschlossene Brennstoffkreislauf der Atomwirt
schaft darstellen würden, dürften wohl noch lange auf sich warten lassen.
Auf kurze Sicht werden für die vorhandenen GTS noch nicht einmal schein
bar greifbare technologische Entwicklungssprünge (z.B. eine durchgängige Glasfaserverkabelung für die Kommunikationsnetze; vgl. Kubicek 1991), die Behebung drängender Engpässe (etwa für den alpenüberquerenden Güter
ferntransport per Bahn)5 oder gar nur notwendige Runderneuerungen (z.B.
die Abdichtung der chronisch lecken Kanalisationsnetze) realisiert werden können.
4 Auch wenn sich die vielbeschworene Entkopplung des Energieverbrauchs vom W irt
schaftswachstum letztlich nur als ein zeitlich begrenztes Phänomen heraussteilen sollte, zeigt sie dennoch, daj3 es (zumindest zur Erklärung dieses Phänomens) Sinn macht, zwi
schen ingenieur- und sozialwissenschaftlichen Größenmaßen von Technik (Watt versus Nutzen) zu unterscheiden.
5 Vor dem Hintergrund des mit der EG-Integration absehbar wachsenden Güterfernver
kehrs wird es der Eisenbahn noch nicht einmal gelingen, ihren Anteil am Verkehrsaufkom
men zu halten. Der Spielraum für eine Verlagerung größerer Teile des Gütertransports von der Straße auf die Schiene, die mittlerweile nicht mehr nur von Ökologen gefordert wird, dürfte daher eher geringer werden (vgl. Weber 1991).
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1828,5
---l_--- J
1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990
Abbildung 2: Primärenergieverbrauch und Bruttoinlandsprodukt in der Bundes republik zwischen 1960 und 1990
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Schließlich sind dem Aufbau neuer, aber eben auch der weiteren Ex
pansion alter GTS spezifische Schranken gesetzt, denn in den Ballungsräu
men der hochindustrialisierten Länder wird einfach der Raum für die Entfal
tung großer technischer Systeme knapp. Der Luftraum, der die Leitungs
netze der Luftverkehrs- und Funkkommunikationssysteme beherbergt, scheint gegenwärtig an seinen Kapazitätsgrenzen anzugelangen. Für die technischen Einrichtungen des Funkwesens kommen die Einschränkungen der wachsenden elektromagnetischen Verschmutzung hinzu. Auf dem Bo
den, ohnehin von Siedlungsbauten und den bereits bestehenden Infrastruk
turnetzen stark beansprucht, wird es immer schwieriger, Platz für neue Ver
kehrswege, Kanäle und Überlandleitungen sowie Standorte für Flughäfen, Kraftwerke und Kläranlagen zu finden. Selbst im Untergrund können sich GTS nicht mehr frei entfalten. Der städtische Untergrund ist mittlerweile von einem Gestrüpp verschiedenster Kabel, Rohrleitungen und U-Bahnschächte durchdrungen, der die Verlegung zusätzlicher Leitungsnetze erheblich er
schwert. In Deutschland sind z.B. Fernwärmenetze nur noch an den Stadt
rändern unter vertretbarem Aufwand zu errichten.
Wenn der Abbau alter wie der baldige Aufbau neuer GTS unwahr
scheinlich ist und sich die vorhandenen Infrastrukturnetze im Zuge ihres Ausbaus (Umbaus, Anbaus) ohnehin untereinander mehr und mehr ins Ge
hege kommen, dann spricht einiges für die Annahme, daß sich zukünftige Veränderungen zunächst eher in Form von Verflechtungen zwischen großen technischen Systemen niederschlagen werden und Verflechtungsphänomene insbesondere für das weitere Wachstum der klassischen GTS eine größere Bedeutung gewinnen könnten.
Auf der Suche nach Forschungskonzepten, die eine solche These unter
suchbar oder gar nur genauer formulierbar machen, wird man sich nur we
nig auf die bislang vorliegende sozialwissenschaftliche Forschung zu großen technischen Systemen stützen können. Denn in ihr tauchen Verflechtungs
phänomene nur sporadisch auf. Unter systematischen Gesichtspunkten werden sie so gut wie nicht berücksichtigt. Ein wichtiger Grund hierfür dürf
te sein, daß sich die GTS-Forschung bislang an einer - wie die Forschung zu kleinen technischen Systemen und wie die Wissenschaftsforschung gezeigt haben - unfruchtbaren Gegenübersetzung von zwei Forschungsperspektiven orientierte, und zwar entweder an "externalistischen" oder an "internalisti- schen" Erklärungsstrategien.
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Bei den internalistischen Erklärungsstrategien werden Wachstums
und Differenzierungsmechanismen in den Systemen selbst vermutet und in ihren Innenwelten nach autokatalytischen oder autodifferentiellen Struktur
elementen gesucht.6 Organisatorische Trägheitsmomente, betriebswirt
schaftliche Auslastungszwänge oder technologische Frontbegradigungs
mechanismen gelten hier als entscheidende Faktoren für die Besonderheiten und das Wachstum großer technischer Systeme. Typisch für diese For
schungsrichtung ist die Frage nach der Rolle von Ingenieuren im Auf- und Ausbau großer technischer Systeme.7
Externalistische Erklärungsstrategien richten sich auf die Schnittstel
len, die große technische Systeme zu ihren gesellschaftlichen Umwelten auf
weisen. In dieser Perspektive werden Abhängigkeiten und Perturbationsme- chanismen zwischen einerseits der Entwicklung großer technischer Systeme und andererseits der Entwicklung "kleiner" technischer Systeme (Industrie-, Verbrauchertechnik) oder "nicht-technischer" Systeme zu identifizieren ver
sucht. Als Struktur- und wachstumsprägende Faktoren gelten dabei be
stimmte Konstellationen wirtschaftlicher, politischer, wissenschaftlicher und kultureller Entwicklungslinien. Typisch für die Forschungsrichtung ist die Frage nach den politischen Steuerungsmöglichkeiten großer technischer Sy
steme.8
Die möglicherweise ebenfalls autokatalytisch oder perturbativ wirken
den Beziehungen, die zwischen verschiedenen GTS bestehen, bleiben bei beiden Perspektiven ausgeblendet: Aus internalistischer Sicht bilden sie ein außerhalb der Systeme angesiedeltes Phänomen, aus externalistischer Sicht einen schnittstellenirrelevanten Aspekt der Systeme selbst. Unter analyti
schen Gesichtspunkten ist es in beiden Fällen lediglich wichtig, die Grenze zwischen großen technischen Systemen und deren Umwelten genauer zu markieren. Ansonsten kann man es sich leisten, so zu tun, als ob es sich bei großen technischen Systemen um vereinsamte Monaden handele - einen Lu
xus, der die Beschäftigung mit Verflechtungsphänomenen natürlich nicht mehr erlaubt und dem im übrigen auch zu verdanken ist, daß die sozialwis
senschaftliche Technikforschung, die sich zunächst um Industrie- und Ver-
6 In Anlehnung an die mittlerweile gängige Sprachregelung meines Fachs, denn ohne das Auto scheint auch in der Soziologie nichts mehr zu laufen.
7 Man denke hier an die Arbeiten von Th. Hughes (Hughes 1987).
8 Eine externalistischer Erklärungsstrategie verfolgt zum Beispiel R. Mayntz (Mayntz 1988).
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brauchertechnik kümmerte, große technische Systeme so spät entdeckt hat.9
Um diese Lücke zu füllen, bedarf es also eines Weder-Noch-Erklärungs- ansatzes, der auf die "Koevolution" verschiedener GTS zielt und mit dessen Hilfe Rückkopplungsmechanismen oder Aufschauklungsprozesse im Feld in
tersystemischer Wechselwirkungen von GTS identifiziert werden können. In Vermeidung der von den internalistischen Ansätzen bereits vereinnahmten Evolutionsmetaphorik könnte man ihn als eine "konnektionistische" For
schungsperspektive bezeichnen, bei der die Frage im Mittelpunkt steht, in
wieweit GTS-Verflechtungen die Stabilität und das weitere Wachstum des Verflochtenen beeinflussen können.
Was hat man sich nun unter der Verflechtung von großen technischen Systemen näher vorzustellen? In erster Annäherung denke man hier etwa - an die kommunalen Zweckverbände, unter deren Dach in der Regel der
Betrieb der Nahverkehrssysteme, der städtischen Strom-, Gas- und Was
serversorgungssysteme organisatorisch zusammengefaßt ist,
- an die Konkurrenzbeziehungen, die zwischen überregionalen Strom-, Gas- und Fernwärmeversorgungssystemen bestehen,
- an die Airportanschlüsse der Bundesbahn, über die Flug- und Schienen
verkehrssysteme miteinander verbunden werden,
- an die Flugverkehrssysteme, deren Betrieb und Nutzung in hohem Maße von modernen Daten- und Fernsprechnetzen abhängig ist,
- oder an die sogenannten "rollenden Lagerhallen" und die Just-in-time"- Systeme in der Industrie, über die der Gütertransport und die Datenfern
kommunikation technisch miteinander verkoppelt werden.
Eine genauere Abgrenzung verschiedener Verflechtungsarten soll im dritten Teil dieses Beitrags unternommen werden. Für das Verständnis des weiteren ist es zunächst nur wichtig, technische und nicht-technische Ver
flechtungsphänomene auseinanderzuhalten. Demnach hat man es bei den beiden erstgenannten Beispielen mit nicht-technischen (organisatorischen und ökonomischen) und bei den drei letztgenannten Beispielen mit techni
schen Verflechtungen (im weiteren: "Vernetzungen") verschiedener GTS zu
9 Zu den Schnittstellen zwischen der techniksoziologischen Untersuchung von "kleinen technischen Systemen" und "großen technischen Systemen” siehe Braun 1989.
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tun. Bei den im nächsten Teil exemplarisch beschriebenen Verflechtungs
phänomenen und dem Konzept der "Systeme zweiter Ordnung", mit dem sie dann im dritten Teil begrifflich gefaßt werden sollen, geht es primär um tech
nische Verflechtungen. Ökonomische oder organisatorische Verknüpfungen interessieren dabei nur insoweit, als sie sich auch technisch niederschlagen, das heißt im Sinne einer gegenständlichen Verkopplung gegenständlich ver
netzter Infrastruktursysteme ('Vernetzung der Netze") wirksam werden.
2. Vernetzungstendenzen in ausgewählten Problemfeldern
Im folgenden sollen derartige Vernetzungen im Problembereich der Organ
transplantation und der Sondermüllentsorgung beschrieben werden. Beide Problembereiche sind von großer Aktualität und unter vielerlei Aspekten, ohne daß man Bezüge zu den sozialwissenschaftlichen oder gar technikso
ziologischen Diskursen hersteilen müßte, interessante Gegenwartserschei
nungen. 10 Mit Blick auf die in ihnen wirksamen Vernetzungstendenzen wei
sen beide Bereiche viele Ähnlichkeiten mit den erwähnten 'just-in-time"- Systemen im Speditionswesen auf. Organtransplantationen und Sondermül
lentsorgung fallen allerdings in den Bereich staatlicher Vorsorgeleistungen und stehen damit dem näher, was im emphatischen Sinne unter "Infrastruk
turleistungen" verstanden wird (Ekardt 1991).
Damit ist bereits auch gesagt, daß im weiteren weniger die Unterschiede als die Gemeinsamkeiten zwischen den Systemen der Organtransplantation und der Sondermüllentsorgung betont werden sollen.11 Diese Gemeinsam
keiten beginnen bereits damit, daß beide Systeme Aufgaben des öffentlichen
111 Zweifelsohne handelt es sich bei der Müll-, der Transplantations- und der mit ihr eng verknüpften Todesproblematik um Modethemen. Hiervon zeugen die vielen Theaterstücke, die in den letzten Jahren zum Müll und zum Tod und vor allem zu den metaphorischen V er
bindungen beider Topoi, wie in dem Stück "Die Stadt, der Müll und der Tod" von R. Faßbin
der, produziert wurden. Auch die Sozialwissenschaften haben sich - durchaus unter Nut
zung der metaphorischen Querverbindungen - diesem Trend angeschlossen. Im 91er Jahr
gang der Zeitschrift "Universitas" beispielsweise war das erste Schwerpunktthema "Müll", das zweite "Tod".
11 Ein systematischer Vergleich der beiden Fällen, der die im weiteren angesprochen Ge
meinsamkeiten mit den vielen naheliegenden Unterschieden der Systeme in Beziehung setzt, ist also nicht beabsichtigt. Es geht hier lediglich um die plastische Darstellung eines bestimmten, für die GTS-Forschung interessanten Verflechtungsphänomens anhand zweier nicht-trivialer Beispiele.
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Gesundheitswesen erfüllen, denn auch der Aufbau von Sondermüllentsor
gungseinrichtungen war und ist primär gesundheitspolitisch motiviert. Dar
über hinaus sind beide Systeme in besonderem Maße wissenschafts- und le
gitimationsintensiv.12 So wie der in den 70er Jahren beginnende Aufbau der Transplantationssysteme eng mit einer starken Ausweitung der immunologi
schen Forschung verbunden war, hingen bislang Wahrnehmung und Hand
habung des Sondermüllproblems von der nahezu explosionsartigen Vermeh
rung der Forschung im Bereich der Spuren- und Umweltanalytik ab. Den hohen Akzeptanzanforderungen, die in der Transplantationsmedizin vor al
lem in bezug auf die Spendenpraxis und die Kriterien der Empfängerauswahl bestehen, entsprechen die hohen Akzeptanzanforderungen, die sich in der Sondermüllentsorgung für Deponiestandorte und Schadstoffgrenzwerte stel
len. Im Aufbau beider Systeme spielten - was zumindest für große tech
nische Systeme klassischen Typs unüblich ist - "Betroffene" eine wichtige Rolle, das heißt Patienten und deren Angehörige respektive Deponieanwoh
ner und Umweltschutzinitiativen.
Die Parallelen erstrecken sich sogar auf den Operationsmodus der Sy
steme, denn er wird in beiden Fällen von einem großen Ressourcenmangel in Kombination mit starken Zeitzwängen bestimmt. So wird der Transplanta
tionsbetrieb nachhaltig vom chronischen Mangel an Spenderorganen und den Zeitnöten geprägt, die aus den eng begrenzten Konservierungsmöglich
keiten der Organe resultieren. Die Gegenstücke hierzu sind in der Sonder
müllentsorgung der Mangel an Entsorgungskapazitäten (Standortknappheit) und der sprichwörtliche Zeitbombencharakter jeder Sondermülldeponie, der aus den eng begrenzten Konservierungsmöglichkeiten von Sondermüll resul
tiert. 13
Aus (leidvoller) Erfahrung wird man klug, heißt es. Deshalb sei vor dem detaillierten Einstieg in die Beispiele zweierlei nachdrücklich betont. Zum
12 Zu den wissenschaftlichen und alltagsweltlichen Voraussetzungen der Transplantations
systeme siehe näher Braun/Feuerstein/Grote-Janz 1990. Analysen der Legitimationsproble
m e in der Sondermüllentsorgung finden sich bei Wynne 1987.
13 Wie bei der Müllentsorgung gewinnt auch in der öffentlichen Debatte über die Transplan
tationsmedizin der Vermeidungsgedanke an Bedeutung. Gemeint sind präventivmedizini
sche Vorschläge, die statt eines forcierten Ausbaus der "end-of-pipe"-Einrichtung Trans
plantationsmedizin gesundheitspolitische Maßnahmen prälerieren, die an den therapie- oder verhaltensbedingten Ursachen der Krankheiten ansetzen, die zu Transplantationen führen. Allerdings sind - wie man weiß - Präventionsmaßnahmen in der Gesundheitsversor
gung noch schwerer durchzusetzen als Vermeidungsmaßnahmen in der Abfallentsorgung.
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einem wird in der metaphorischen Nähe von Spenderorgan und Sondermüll respektive Transplantation und Müllentsorgung, die auch Sozialwissen
schaftler gerne überstrapazieren, keine strukturelle Gemeinsamkeit, auch keine hilfreiche Interpretationsfolie beider Systeme gesehen.14 Die Metapho
rik versperrt vielmehr den Blick auf ihre techniksoziologisch interessanten Aspekte, insbesondere auf die oben angesprochenen Gemeinsamkeiten. In bezug auf den Ressourcenmangel etwa besteht die Parallele zwischen den Spenderorganen und den Entsorgungskapazitäten und eben gerade nicht zwischen den knappen Spenderorganen und dem reichlich vorhandenen Sondermüll.
Zum anderen könnte die Rede vom "System" der Sondermüllentsorgung suggerieren, in Deutschland oder anderswo wäre bereits eine halbwegs gere
gelte und umweltpolitisch angemessene Sondermüllentsorgung gewährlei
stet. Dies ist nicht der Fall. Zwar hat sich die Industrie immer schon ihrer gefährlichen Abfälle entledigt und konnte sich dabei auf teilweise internatio
nal operierende Logistiksysteme stützen, die im Sinne ökonomischer Regeln durchaus zufriedenstellend funktionierten. Ähnlich "gut" funktionierende Einrichtungen, die innerhalb oder in Ausweitung der bereits vorhandenen Entsorgungssysteme speziellen Kriterien des Umwelt- und Gesundheits
schutzes Geltung verschaffen, befinden sich jedoch noch im Aufbau.
Mit dem einstweilen noch provisorischen Status der Sondermüllentsor
gungssysteme ist schließlich der zumindest unter techniksoziologischen Ge
sichtspunkten wichtigste Unterschied zwischen beiden Fällen angesprochen.
Während Transplantationssysteme in den Industrieländern schon zu den etablierten Gesundheitseinrichtungen zählen, die mittlerweile eine routine
mäßige Verpflanzung von Nieren, Herzen und Lebern ermöglichen, geht es bei den Sondermüllentsorgungssystemen zunächst darum, überhaupt so et
was wie einen Normallauf des Systems zu etablieren und hierfür die politi
schen, rechtlichen und nicht zuletzt auch die technischen Voraussetzungen zu schaffen. Bei der Charakterisierung des Sondermüllentsorgungssystems werden daher geplante Technik und sich abzeichnende technische Vernet
zungen stark im Vordergrund stehen.
14 Was etwa bei Reiner Hohlfeld der Fall ist, der durch schamloses "Ausschlachten" der Kannibalismussemantik die Transplantationsmedzin in die Nähe eines Körperrecyclingun- temehmens rückt (Hohlfeld 1991).
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2.1 Organtransplantationssysteme
Organtransplantationssysteme sind eine junge Erscheinung der modernen Gesundheitsversorgung. Das bundesdeutsche System der Organtransplanta
tion wurde in den 70er Jahren aufgebaut. Das Geburtsjahr des europäi
schen Transplantationssystems ist 1967, ein Jahr, in dem die Eurotrans- plant Foundation in der niederländischen Stadt Leiden gegründet wurde.
Ziel ihrer Mitglieder (Bundesrepublik Deutschland, Österreich, Belgien, Nie
derlande und Luxemburg) war und ist es, durch den Aufbau technisch-orga
nisatorischer Strukturen die Organverteilung und Empfängerauswahl zu optimieren (Grounewoud/Muderlak/Chen 1987).
Die Entwicklung und Ausdifferenzierung der bundesdeutschen Infra
struktur des Transplantationswesens hängen darüber hinaus sehr eng mit den in den 70er Jahren einsetzenden finanziellen, technischen und organi
satorisch-administrativen Leistungen des Kuratoriums für Heimdialyse zu
sammen (KfH 1988). Dazu gehören die Errichtung von Organisationszentra
len für Transplantationskrankenhäuser, sowie die Finanzierung von inzwi
schen mehr als 400 Stellen von Ärzten, Pflegekräften, medizinisch-techni
schen Assistenten, ärztlichen Transplantationskoordinatoren und Adminis
tratoren in den deutschen Transplantationskliniken (siehe Abb. 3).
Aufgaben und Probleme des Transplantationswesens
Die Aufgabe der Organtransplantationssysteme wird gemeinhin darin gese
hen, zum Zweck der Lebensverlängerung oder -Verbesserung Organe aus dem Körper eines (oder mehrerer) Menschen in den Körper eines anderen (oder mehrerer anderer) Menschen zu verpflanzen. Orientiert man sich an dem zeitlichen Ablauf, dem Transplantationen in der Regel unterliegen, kann man diese allgemeine Funktion wiederum in drei spezielle Funktionsbereiche unterteilen: die Organbeschaffung, die Organverpflanzung und die Organkon
trolle.
Zur Organbeschaffung lassen sich alle Aktivitäten in den Transplanta
tionssystemen zählen, die Organe für die Verpflanzung verfügbar machen:
angefangen von dem Einholen der Spendeneinwilligung bei den Verwandten
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Abbildung 3: Nierentransplantationszentren in der Bundesrepublik (Stand 1989)
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von verstorbenen Patienten, über die transplantationsgerechte Präparierung des Spenders und seine Meldung an die Transplantationseinrichtungen, bis hin zu langfristigen Maßnahmen zur Vergrößerung des Spendenaufkom
mens, etwa durch Einrichtung sogenannter Transplantationsbeauftragten
stellen in großen Krankenhäusern. Der Funktionsbereich Organverpflanzung umfaßt alle Aktivitäten, die unmittelbar mit der Übertragung von Organen zu tun haben: die Explantation, die Auswahl geeigneter Empfänger, der un
ter Umständen weiträumige Transport von Transplantaten, Präparaten, Apparaten, Ärzten und Patienten zwischen den transplantationsbeteiligten Einrichtungen, die medizinische Vorbereitung der Empfänger und schließ
lich die Implantation. Der Funktionsbereich Organkontrolle bezieht sich auf die dauerhafte Einbettung der Transplantate in die Körper der Transplan
tierten: angefangen von der kontinuierlich erforderlichen Immunsuppression und Immunmodulation, über postoperative Kontrolluntersuchungen und Re
habilitationsmaßnahmen, bis hin zu den medizin-statistischen Untersu
chungen, die zur Kontrolle des Erfolgs von Transplantationstherapien regel
mäßig durchgeführt werden.
Bei der Realisierung dieser verschiedenen Aufgaben sind zwei Probleme von zentraler Bedeutung: die große Zettknappheit und der chronische Trans
plantatmangel. Die große Zeitknappheit resultiert überwiegend aus den eng begrenzten Möglichkeiten, Organe außerhalb des Körpers implantationsfähig zu halten. Während Knochen praktisch unbeschränkt und die Augenhorn
haut immerhin noch bis zu fünf Tagen konserviert werden können, lassen sich Nieren beim gegenwärtigen Stand der Technik höchstens zwei Tage, die Haut zwölf Stunden, die Bauchspeicheldrüse sieben, die Leber sechs und das Herz nur vier Stunden implantationsfähig halten.15 Speziell bei Empfän
gern mit Herz- und Lebererkrankungen können Zeitzwänge auch aus ihrem Krankheitsverlauf resultieren, sei es, daß die Empfänger nur noch eine Le
benserwartung von ein paar Tagen haben oder daß der Krankheitsverlauf begrenzte Zeitfenster vorgibt, in denen eine Transplantation ohne allzu große Risiken durchgeführt werden kann.16
15 Durch eine neuentwickelte Konservierungsflüssigkeit sollen mittlerweile Nieren und Bauchspeicheldrüsen bis zu 72 Stunden und Lebern bis zu 24 Stunden implantationsfähig gehalten werden können (vgl. Ärztezeitung vom 2.5.1989).
16 Die Transplantationsfähigkeit ist daher auch eines der Kriterien für die Empfängeraus
wahl.
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77MA& V PWWM77CWS- z a n w y . :
Abbildung 4: Transplantationsablauf
Auf die Zeitknappheit ist es nun vorwiegend zurückzuführen, daj3 die Operationsweise der Transplantationssysteme die Züge eines Impulsbetrie
bes aufweist: Lange Phasen ruhiger, mit dem klinischen Normalbetrieb ver
träglicher Aktivitäten werden durch kurze Phasen hektischer Aktivitäten un
terbrochen, wenn ein Spender zur Verfügung steht (siehe Abb. 4). Insofern besteht eine der zentralen Aufgaben des Transplantationsbetriebs darin, für diese "Ernstfälle" umfangreiche technische und personelle Ressourcen in Be
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reitschaft zu halten. Zur Verdeutlichung: Am Transplantationszentrum Mün
chen umfaßt allein der "Rund-um-die-Uhr-Bereitschaftsdienst" zehn Studen
ten für den Telefondienst, sieben Gerichtsmediziner, sechs Radiologen, sechs medizinisch-technische Assistenten, die für die Gewebetypisierung zuständig sind, fünf Explantationschirurgen, vier Neurologen, und drei Immunologen:
insgesamt also 41 Personen (Land/Illner 1982: 372). Im Ernstfall, speziell bei Multiorganentnahmen, kommt es dann zu starken Aktivitätsverdichtun
gen: "Fünf verschiedene Chirurgenteams reisen zu dem kleinen Entnahme
krankenhaus an: ein Leberteam von vier, ein Herzteam von vier, ein Bauch
speichelteam von vier, ein Nierenteam von vier und ein Hornhautteam von drei Personen. Insgesamt sind also 19 verschiedene Personen an dem Opera
tionstheater beteiligt" (Eurotransplant Newsletter 66/1989: 5).
Die Operationsweise der Transplantationssysteme wird darüber hinaus vom Organmangel geprägt, genauer gesagt, von der chronischen und bislang wachsenden Lücke zwischen Transplantatangebot und -nachfrage. So stan
den im Jahr 1974 1.583 potentielle Empfänger auf den bundesdeutschen Transplantatwartelisten: 606 Patienten wurden im gleichen Jahr transplan
tiert. Im Jahr 1988 wurden bereits 2.736 Patienten auf der Warteliste regi
striert gegenüber 1.086 durchgeführten Transplantationen (ET 1989: 23).
Die Zahl der durchgeführten Transplantationen ist damit zwar gestiegen, die Chancen aber, ein Transplantat zu bekommen, haben sich verringert (siehe Abb. 5).
Das Transplantatangebot ist dabei vorwiegend von der medizinischen Todesdefinition, der Zahl der dieser Definition entsprechenden Todesfälle, dem Engagement der Ärzte und der Spendenbereitschaft der Bevölkerung abhängig. Die Länge der von den Transplantationseinrichtungen geführten Wartelisten ist wesentlich von der Machbarkeit, den Erfolgsaussichten, den medizinischen Indikationsregeln für Transplantationstherapien und dem Folgebedarf bereits durchgeführter Transplantationen (sogenannte Retrans- plantationen) abhängig - aber auch von der Qualität möglicher Ersatzthera
pien, also den Überlebenschancen ohne Transplantat.
Durch die Organknappheit erhalten vor allem Gerechtigkeitsanforderun
gen einen außergewöhnlich großen Stellenwert im Transplantationsbetrieb:
Welche Patienten dürfen auf ein Transplantat hoffen? Wer von den Patien
ten, die auf ein Transplantat hoffen dürfen, erhält ein aktuell verfügbar ge-
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Number of renal patients (x1000)
Year
I I Transplants I I Total waiting
Abbildung 5: Zahl der Transplantierten und der Patienten auf der Nierenwarteliste zwischen 1968 und 1989
wordenes Spenderorgan? Wie wird das limitierte Transplantataufkommen zwischen einzelnen Transplantationszentren, Regionen und Nationen aufge
teilt? Eine zentrale Aufgabe der Transplantationssysteme besteht entspre
chend in der Produktion von Verteilungsgerechtigkeit, das heißt in der de
taillierten Rechtfertigung, breiten Durchsetzung, kontinuierlichen Verbesse
rung und flächendeckenden Überwachung von Regeln für alle Transplanta
tionsbeteiligten, die eine für die Betroffenen wie für Außenstehende nachvoll
ziehbare Empfängerauswahl gewährleisten, die Bevorzugung einzelner Transplantationszentren und dauerhafte Ungleichgewichte im interregiona
len oder internationalen Organaustausch vermeiden helfen.
Betrachtet man nun die technischen Einrichtungen des Transplanta
tionsbetriebs näher, ergibt sich zunächst mit Blick auf transplantationsrele
vante Maschinen und Geräte (einschließlich pharmazeutischer "Geräte") in etwa folgendes Bild.
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Gerätetechnische Strukturen
Zu der einschlägigen Technik, die bei der Explantation eingesetzt wird, wären zunächst die Geräte der Todesdiagnostik zu zählen etwa Elektroenzephalo- und Karotesangiographen (siehe Abb. 6). Den medizinischen Laien wird es überraschen, daß schon bei der Explantation und nicht erst bei der Implan
tation ein umfangreicher intensivmedizinischer Maschinenpark unter ande
rem für die künstliche Beatmung, die automatische Kreislaufüberwachung und -beeinflussung zum Einsatz kommt. Denn häufig wird er für die Konser
vierung der Spenderorgane umfunktioniert, das heißt dafür genutzt, den Stoffwechsel und den Kreislauf der hirntoten Spender solange aufrechtzuer
halten, bis die zur Transplantation vorgesehenen Organe entnommen wer
den (können). Bei der Explantation selbst stützen sich die Transplantations
mediziner auf die Techniken vor allem der Gefäßchirurgie, wobei für die häufig transplantierten Organe spezifische Entnahmeverfahren und entspre
chende Hilfsmittel entwickelt wurden.
t - DIAGNOSE DES HIRNTODES ‘ _
Abbildung 6: Verfahren der Todesdiagnostik
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Bei den meisten Geräten, die dem Organtransfer dienen, stehen eben
falls die Schonung der Transplantate und ihre zeitlich begrenzte Implantati
onsfähigkeit im Mittelpunkt. Die Spenderorgane werden bereits im Spender
körper mit einer europaweit standardisierten Nährflüssigkeit versorgt ("in- situ-Perfusion" mittels eines "Folio-Katheders" und der "Eurocollinslösung"), dem Spenderkörper entnommen, in einen Plastikbeutel verpackt (siehe Abb.
7) und in technisch vergleichsweise einfachen Kühlcontainern transportiert.
Abbildung 7: In-situ-Perfusionskatheder (links), versandfertige Niere (rechts)
Geräteintensiv ist jedoch vor allem die dem Transfer der Spenderorgane vorgeschaltete Gewebetypisierung. Zur Durchführung und Auswertung der zeit- und kostenaufwendigen Tests werden zunehmend Laborautomaten ein
gesetzt, die insbesondere auch die kontinuierliche Aktualisierung des unter Umständen veränderten Immunprofils der Empfänger erleichtern. Zur org
antransferrelevanten Gerätetechnik lassen sich schließlich einige der Geräte des mechanischen Organersatzes zählen, vor allem Kunstherzen, Kunstnie-
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ren und Lungenmaschinen (siehe Abb. 8). Organischer und mechanischer Organersatz konkurrieren nämlich weit weniger miteinander, als sie sich funktionell ergänzen. So kann mit Hilfe mechanischer Ersatzorgane in gewis
sen Grenzen die Zeit überbrückt werden, in der ein erkranktes Organ schon nicht mehr funktioniert und noch kein organischer Ersatz zur Verfügung steht.
Abbildung 8: Schematische Darstellung einer Kunstniere
Bei der Implantation kommen wieder der intensivmedizinische Maschi
nenpark sowie die Techniken und Methoden der Gefäßchirurgie ins Spiel.
Die technischen Geräte und Verfahren, die nach der Implantation verwendet werden, dienen vorwiegend zur Sicherung des Transplantationserfolgs, das heißt sie sollen die Abstoßung des Transplantats durch den Körper des Em
pfängers vermeiden helfen.17 Wichtig ist dabei wieder die Labortechnik, die bei der Analyse von Gewebe- und Blutproben im Rahmen der regelmäßig durchgeführten Kontrolluntersuchungen zum Einsatz kommt. Zur Manipu
lation der Körperabwehr werden dann ausschließlich chemische "Geräte"
eingesetzt. Dazu gehören gentechnisch erzeugte monoklonare Antikörper zur Bekämpfung akuter Abstoßungsgefahren, vor allem aber die Medikamente
17 Zur postoperativen Immunsuppression siehe Pichlmayr 1986.
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Cyclosporin und das neuentwickelte FK 506, die vor allem die schleichende Transplantatzerstörung durch das Immunssystem des Empfängers verrin
gern sollen (zum FK 506 vgl. Fletscher 1990: 5). Dem Cyclosporin kommt - neben den angesprochenen Gewebekompatibilisierungstechniken - eine Schlüsselrolle in der Entwicklung der Transplantationsmedizin zu. Denn mit der seit Anfang der 80er Jahre flächendeckend verfügbaren Substanz über
stehen über 90 Prozent der transplantierten Nieren das erste Jahr im neuen Körper, bei konventioneller Therapie waren es nur etwa 55 Prozent. Nach vier Jahren sind noch knapp 80 Prozent der transplantierten Organe funk
tionsfähig, verglichen mit weniger als 50 Prozent bei einer Immunsuppres
sion ohne Cyclosporin (Pichlmayr 1986: 159). Herz- und Lebertransplanta
tionen wurden durch die Cyclosporin-Therapie überhaupt erst im größeren Umfang und mit Aussicht auf anhaltenden Erfolg durchführbar.
Soweit es ihre gerätetechnischen Voraussetzungen betrifft, entsprechen Transplantationssysteme sicherlich dem, was gemeinhin mit dem Schlagwort der 'Apparatemedizin" bezeichnet wird. Die Bedeutung von Technik in den Transplantationssystemen geht jedoch weit darüber hinaus. Typisch für Transplantationssysteme und bislang noch ungewöhnlich für das Gesund
heitswesen ist die weiträumige technische Vernetzung der verschiedenen am Transplantationsgeschehen beteiligten Einrichtungen und damit auch die Vernetzung der am jeweiligen Ort eingesetzten technischen Geräte und Ver
fahren.
Netztechnische Strukturen
Betrachtet man zunächst die netztechnischen Systeme zur Datenkommuni- kation, auf die sich der Transplantationsbetrieb stützt, ergibt sich im Ein
zugsbereich von Eurotransplant etwa folgendes Bild. Die kompatibilitätso
rientierte Empfängerauswahl wird seit Ende der 80er Jahre über das eigens hierfür entwickelte PIONEER-System abgewickelt (Broom 1988). Durch PIO
NEER sind insgesamt 38 Transplantatiönszentren und 41 Typisierungsla
bors in den fünf Eurotransplant-Mitgliedsländern mit einem Zentralrechner in Leiden "online" verknüpft (siehe Abb. 9). Seine Datenbank umfaßt über 100 000 immunologische Patientenprofile, die transplantationsrelevanten Daten der potentiellen Empfänger (Gesundheitszustand, Dringlichkeitsein
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stufung, behandelnde Klinik usw.) und Daten über den Erfolg der jeweiligen Transplantationstherapie. Das System erlaubt es, verfügbar gewordene und bereits typisierte Spenderorgane schnell zu registrieren und dann innerhalb weniger Minuten auf Basis der gespeicherten Patientendaten einen geeigne
ten Empfänger automatisch auszuwählen (siehe Abb. 10). Darüber hinaus können mit seiner Hilfe aktuelle Veränderungen des Gesundheitszustands der Patienten auf den Wartelisten berücksichtigt, jeweils für die beteiligten Transplantationszentren aktualisierte Versionen ihrer regionalen Wartelisten und regelmäßig Erfolgsstatistiken erstellt werden.
Abbildung 9: Die informationstechnische Struktur von PIONEER
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In Erweiterung des PIONEER-Systems ist für die deutschen Transplan
tationszentren das TIS (Transplantations-Informations-System) mit Sitz in Heidelberg eingerichtet worden (Eurotransplant Newsletter 55/1988: 11, K1H 1990: 17f). Es soll den deutschen Transplantationsmedizinern die Berück
sichtigung zusätzlicher Kompatibilitätsanforderungen, vergleichende Erfolgs
statistiken für bestimmte Transplantationszentren, Transplantations-, Kom- patibilisierungs- und Immunsuppressionsverfahren sowie generell einen schnelleren Datenaustausch und eine bessere Überwachung des Transplan
tationsgeschehen ermöglichen.
Orgaaentna.TiTe
Ergebnisse
v
zuständ.
TRANSPLAN- TAT10NS- ZENTRUM
TIME
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TRANSPLANT CENTRE
PSN ET
CENTRAL COMPUTER
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6
Abbildung 10: Kooperation zwischen Ex- und Implantationszentren, Typisierungslabor, Eurotransplant und Dialysezentrum
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Auf der untersten informationslogistischen Ebene, das heißt auf der Ebene der einzelnen, in der Regel großen Klinikkomplexen angegliederten Transplantationszentren sind die sogenannten TIMY- und TRAINS-Systeme angesiedelt (Markus et al. 1988, Segesser 1987). Es handelt sich dabei um rechnergestützte Informations-Management-Systeme, die die aufwendige Datenverwaltung in den Transplantationszentren erleichtern sollen und ins
besondere dazu dienen, die großen Koordinationsanforderungen in den hek
tischen Phasen des Transplantationsbetriebs zu bewältigen.
Netztechnische Systeme könnten in Zukunft auch im Spenderwesen größere Bedeutung erhalten, etwa im Rahmen zentraler Spenderdatenban
ken, die es bereits in einigen Ländern gibt und in der Bundesrepublik in den nächsten Jahren speziell für Knochmarkspender eingerichtet werden sol
len.18 Neben dem Zeitgewinn, den solche Systeme zur computergestützten Dokumentation des Spenderwillens im Hinblick auf das Einholen der Spen
deneinwilligung versprechen, böten sie auch die Möglichkeit, im Vergleich zum gegenwärtigen Spenderpaßwesen differenzierteren Formen der Spen
deneinwilligung und -ablehnung Geltung zu verschaffen.
Ob nun bei PIONEER, TIS, TIMY oder dem computerisierten Spenden
register, bei all diesen Systemen wird die Vernetzung selbst über vorhandene Infrastruktursysteme der Datenfernübertragung hergestellt. Der Transplan
tationsbetrieb ist also in hohem Maße von einem leistungsfähigen und zu
verlässigen Datenfernübertragungsnetz abhängig. Wie bei großen Konzernen werden dabei ‘ eigene Standleitungen, im internationalen Organaustausch mitunter auch Kommunikationssatelliten genutzt.
In ähnlich hohem Maße sind Transplantationssysteme auch auf engma
schige und zuverlässige Transportnetze, vor allem auf die InjrastruktursySte
rne des Straßen- und Flugverkehrs angewiesen. Müssen die Transplantate (bzw. der hirntote Spender), die Entnahmeteams, die Gewebeproben und die Empfänger nur kurze Distanzen überwinden, was etwa dann gegeben ist, wenn ein Spender im Einzugsbereich eines bestimmten Transplantations
zentrums verfügbar und dann auch ein Patient dieses Zentrums als Empfän
ger ausgewählt wird ("Hausverpflanzungen"), nutzt man meistens ganz nor
male Krankenwagen, gegebenfalls Taxis.
18 In Frankreich und Belgien wurden bereits computerisierte Spenderregister aufgebaut (vgl. Wolflast 1989: 45).
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Bei circa einem Drittel der Organentnahmen, insbesondere bei einer Multiorganentnahme, bei der die einzelnen Organe des Spenders zu ver
schiedenen regionalen Transplantationszentren transportiert werden und an der entsprechend mehrere von den jeweiligen Transplantationszentren ent
sandte Chirurgenteams beteiligt sind, werden zusätzlich auch die Infrastruk
turen des Flugverkehrs genutzt - ein netztechnischer Aspekt, der in der öf
fentlichen Berichterstattung gerne hervorgehoben wird. Und in der Tat gibt es wohl keinen anderen Bereich der Humanmedizin, in dem Flugzeuge und Hubschrauber so häufig eingesetzt werden und bei dem der medizinische Berufsalltag so stark vom Jetset-Dasein geprägt wird wie in der Transplan
tationsmedizin. Bei Transplantationszentren ist daher, wie bei Unfallklini
ken, der Hubschrauberlandeplatz obligatorisch. In den USA, in denen beim Organtransfer größere Distanzen überwunden werden müssen, verfügen einige Transplantationszentren sogar über eigene kleine Flughäfen.
Dabei werden, soweit es die Umstände zulassen, der normale Linien
flugverkehr und die in der Bundesrepublik vergleichsweise gut ausgebauten Flugrettungsdienste in Anspruch genommen. Teilweise kommen jedoch auch Hubschrauber und Düsenflugzeuge zum Einsatz, die die großen Transplan
tationszentren eigens angeschafft oder gemietet haben. Für den Transplanta
tionsbetrieb fungieren sie, bemüht man hier die Parallele zur transplantati
onsspezifischen Nutzung der Datenfernübertragungsnetze, quasi als "Stand
leitungen" im Flugverkehrssystem.
Neben den modernen Datenfernübertragungsnetzen und dem Flugver
kehr wird auch das gute alte Telefon intensiv im Transplantationbetrieb ge
nutzt, also die Infrastrukturnetze des Fernsprechverkehrs. Das Telefon ist vor allem bei der Koordination der verschiedenen größtenteils parallel ablau
fenden Explantations-, Organtransfer- und Implantationsaktivitäten, also in den hektischen Phasen des Transplantationsgeschehens, unverzichtbar. Wie stark dabei der Transplantationsbetrieb auf das Fernsprechwesen ange
wiesen ist, zeigt sich insbesondere bei einem Zusammenburch des Telefon
netzes. So kam beim softwarebedingten "Absturz" des AT&T-Fernsprechnet- zes in den USA Anfang 1990 oder beim hardwarebedingten Zusammenbruch des Pariser Telefonnetzes im gleichen Jahr auch der "Transplantationsbe
trieb" in den jeweiligen Regionen weitgehend zum Erliegen: nicht nur, weil die beteiligten medizinischen Einrichtungen nicht mehr koordiniert werden konnten, sondern auch aus dem schlichten Grund, daß die Suche nach den
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Angehörigen eines Verstorbenen und die Kontaktaufnahme zum Einholen der Einwilligung in die Organentnahme nicht mehr möglich war. Denn auch dies geschieht in der Regel per Telefon.
Für den Transplantationsbetrieb werden schließlich auch viele der teil
weise neuen Kommunikationsmöglichkeiten intensiv genutzt, die die Kombi
nation von Funksystemen und Telefonnetz und die funktechnischen Weite
rungen der Telefonnetze bieten. Dies meint in erster Linie die Euro- und Not
fallpieper, mit denen das klinische Personal im Bereitschaftsdienst und potentielle Empfänger ausgestattet werden, aber auch die verschiedenen funktechnischen Einrichtungen der Transportsysteme (etwa die Funkleitsy
steme des Krankentransportwesens, der Rettungsdienste oder des Taxibe
triebs), auf die sich der Transplantationsbetrieb stützt. Es ist zu vermuten, daß in den Transplantationssystemen das mobile Telefon ("Mobilfunk") sehr bald eine große Rolle spielen wird.
Entwicklungstendenzen
Zum Schluß und schon mit Blick auf die folgende Beschreibung der Sonder
müllentsorgung seien noch drei allgemeinere Entwicklungsaspekte der Transplantationssysteme angesprochen. Anders als in der Sondermüllent
sorgung haben beim Aufbau der Transplantationssysteme und seiner um
fangreichen technischen Einrichtungen einschlägige Gesetze und behördli
che Vorschriften (zumindest in der Bundesrepublik) so gut wie keine Rolle gespielt. Im Transplantationsbetrieb sind juristische Instanzen im Grunde nur bei der Todesfeststellung involviert (siehe Abb. 11). Zwar wird schon seit über einem Jahrzehnt an einem Transplantationsgesetz gearbeitet, seine parlamentarische Verabschiedung wurde jedoch immer wieder verschoben und wird wohl auch in Zukunft weiter verschoben werden (Wolflast 1989).
Bislang haben es nämlich die Transplantationsmediziner geschickt verstan
den, regulierungsverdächtige Probleme der Transplantationsmedizin (Spen
denwesen, Empfängerauswahl, grenzüberschreitender Organaustausch, der große Kostenaufwand für die eingesetzte Technik) vom Gesetzgeber und seinen politisch-administrativen Einrichtung fernzuhalten und sie präventiv innerhalb der medizinischen Profession hinreichend zu regeln.
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BEHANDELNDER ARZT ODER TRANSPLANTATIONS- KOORDINATOR
Klinische Zeichen des ' Hirntodes
Genehmigung der Organentnahme nach abgeschlossener Hirntoddiagnostik
B e ra tu n g '
I i
Kontakt
Wird bei unklaren Todesursachen von der StA hinzugezogen
zuständig für die
Ermittlung * Bei unterschiedlicher Zuständigkeit
Abbildung 11: Behördliche Todesfeststellung bei Organentnahmen
Eine wichtige Voraussetzung hierfür schafft ein spezifischer Funktions
wandel, der die netztechnischen Strukturen der Transplantationssysteme zunehmend erfaßt. In der Bundesrepublik werden gegenwärtig die netztech
nischen Einrichtungen zur Empfängerauswahl, deren Aufbau in den 70er Jahren mit dem Verweis auf medizinische und logistische Notwendigkeiten einer weiträumigen Gewebekompatibilisierung begründet worden war, ver
stärkt zu Monitoringzwecken umgenutzt. Sie erfüllen demnach zunehmend Kontroll- und Legitimationsaufgaben, werden also zur Etablierung von Wirt
schaftlichkeitskriterien, zur Regulierung zwischenklinischer Konkurrenz und zur Überwachung der in den einzelnen Kliniken mitunter sehr unterschied
lichen Transplantations- und Organvergabepraktiken eingesetzt.19 Letzteres bezieht sich im übrigen auch auf den "Patiententourismus", der in den letzten Jahren (und nicht etwa der allseits kritisch beäugte Ex- und Import
19 Rudolf Pichlmayr, einer der renommiertesten bundesdeutschen Transplanteure formu
lierte es so: "Was ursprünglich dafür geplant war, die Verträglichkeit der Organe zu sichern, das möglichst gute Zusammenpassen von Spender und Empfänger, ist nun eine hervorra
gende Kontrolle für uns selbst" (Pichlmayr 1990b: 229). Interessant ist in diesem Zusam
menhang, daj3 in den Vereinigten Staaten erst nach 1987 einheitliche Verfahren und zentra
le Überwachungseinrichtungen der Organverteilung geschaffen wurden, also zu einer Zeit, in der hochwirksame Medikamente zur Immunsuppression bereits zur Verfügung standen (vgl. Dowie 1990: 147).
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von Spenderorganen) in der Bundesrepublik zu einem Problem geworden ist - einem Problem, das in ähnlicher Form auch für das System der Sonder
müllentsorgung besteht.20
EuroiransO’ant
N t Leiden ■ Bremen
intern
-O'ganisaiionszentraie
\ Neu-isenDurg / 06102,39999 -
9 Erlangen,Nunbeiq Kaise'slaulern
1 Heidfeiberg
1 Siuiig3ii
■ Freiburg
KIH-OrganisaiiOns- zentraie Neu-Isenburg
KIH-Transplanlanons- Qatenzenirum Heidelberg
■Oß
l
Abbildung 12: Grenzüberschreitender Nierenaustausch innerhalb von Eurotransplant
Den Hintergrund für diesen Funktionswandel bilden die raschen Fort
schritte in der Immunsuppression, die in vielen Fällen den Rückgriff auf überregionale oder international ausgelegte Empfänger- und Spenderpools
20 Zum Organhandel siehe Pater/Raman 1991.
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erübrigt (siehe Abb. 12). Extrapoliert man diesen Trend, könnte die weitere Entwicklung der Transplantationeinrichtungen auf ein Zwei-Ebenen-System hinauslaufen. Dabei würden Routinefälle und damit zahlenmäßig das Gros der Transplantionen über jeweils regionale Systeme abgewickelt. Hingegen blieben den nationalen und internationalen Systemen Problemfälle und selten durchgeführte oder experimentelle Transplantationen Vorbehalten, gleichzeitig kämen ihnen im wachsenden Maße Kontrollfunktionen zu. Auch hier besteht, wie sich nun zeigen wird, eine Reihe von Parallelen zur Sonder
müllentsorgung.
2.2 Sondermüllentsorgungssysteme
Auch bei den Sondermüllentsorgungssystemen handelt es sich um ein junge Erscheinung in den Industrieländern. Anders jedoch als die mittlerweile wohletablierten und bereits einem internen Funktionswandel unterworfenen Transplantationssysteme befinden sich die Sondermüllentsorgungssysteme noch in einem sehr frühen Entwicklungsstadium, wenn man so will, noch im
"Rohbau". Denn bis in die 80er Jahre hinein glich die Sondermüllentsorgung allenthalben einem abfallwirtschaftlichen Wildwest, in dem halbseidene Müllschieber mit ausgeprägten Sinn für grenzüberschreitende Geschäfte den Ton angaben.
Der Aufbau eines gesonderten Entsorgungssystems für problematische Abfälle wurde im wesentlichen durch die Umweltschutzbewegung und die in allen Industrieländern in den 70er Jahren einsetzende behördliche Regulie
rung des Sondermüllproblems vorangetrieben. Die Sondermüllregulierung in der Bundesrepublik basiert auf dem Abfallgesetz von 1972.21 Spezifische Anforderungen für die Sondermüllentsorgung enthielt erstmals die Gesetzes
novelle aus dem Jahr 1977, das man deshalb auch als das Geburtsjahr des bundesdeutschen Sondermüllentsorgungssystems betrachten kann (Kloepfer 1989: 682).22 Weitere Marksteine bildeten die parallel zur Abfallgesetzge
bung entstandenen Luftreinhaltungsgesetze, die einschlägigen Vorschriften
21 Siehe Bundesminister der Justiz 1990, Bundesminister des Innern 1990, sowie die Kom
mentare hierzu in Bender/Sparwasser 1988 und im Müllmagazin 2/1989.
22 Allerdings gehen in der Bundesrepublik die gesetzlichen Regelungen der Altölentsorgung bereits auf das Jahr 1968 zurück.