• Keine Ergebnisse gefunden

Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, die durch allerlei tech­

nische Vernetzungen geprägten Einrichtungen des Transplantationswesens und der Sondermüllentsorgung einem besonderen Typus großer technischer Systeme zuzuordnen. Es wird dabei zunächst davon ausgegangen, daß die beiden Einrichtungen in die Rubrik der "großen technischen Systeme" ge­

hören, sie also strukturelle Ähnlichkeiten mit den klassischen Infrastruktur­

systemen des Straßenverkehrs, des Telefonverkehrs, der Stromversorgung usw. aufweisen.

Organtransplantations- und Sondermüllentsorgungssysteme sind

"groß", weil mit ihrer Hilfe im Vergleich zu einzelnen Maschinen oder gar umfassenderen Produktionsanlagen ("kleine technische Systeme") eine große Menge sozialer Operationen weiträumig abgewickelt werden, weil an ihrem Betrieb immer relativ viele unterschiedliche Organisationen und Akteure beteiligt sind, und - in Konsequenz dieser beiden Eigenschaften - weil ihre routinemäßige Nutzung einen vergleichsweise umfangreichen Pool techni­

scher und anderer sozialer Normen mit zum Teil sogar internationalem Gel­

tungshorizont voraussetzt.41

Sie sind "technisch", weil die ihnen zugewiesenen Operationen und so­

zialen Normen vorwiegend über gegenständliche (im Unterschied zu körperli­

chen) Mechanismen realisiert werden, weil auch ihre jeweils lokalen Ein­

richtungen miteinander durchgängig technisch vernetzt sind, und - in Kon­

sequenz dieser beider Eigenschaften - weil viele Organisationen und Akteure, die sie betreiben oder nutzen, über weite räumliche und zeitliche Strecken eben "nur" technisch aufeinander bezogen werden.42

41 Technische Normen werden hier also als ein Typ sozialer Normen aufgefaßt (vgl. «Joerges 1989).

42 In den Sozialwissenschaften wird in der Regel davon ausgegangen, daß die verschie­

denen Bezüge, die durch eine Technik zwischen dem Handeln ihrer jeweiligen Hersteller, Betreiber, Nutzer und Entsorger hergestellt werden, in irgendeiner Weise nicht-technischen Regulativen entsprechen oder durch solche abgestützt werden. Im Verhältnis von Hersteller und Verwender einer Produktionsmaschine sind das vor allem ökonomische Regulative, im Verhältnis von Betreibern und Nutznießern von Verbrauchertechnik familiäre, im Verhältnis verschiedener Beschäftigter eines Betriebs, die an durchaus weit auseinanderliegenden Stel­

len einer großer Produktionanlage arbeiten, sind es vor allem arbeitsorganisatorische Regu­

lative. Dies trifft jedoch nur für kleine technische Systeme zu. Denn ein wesentliches Charakteristikum großer technischer Systeme besteht darin, daß solche Regulative für viele

53

-Sie sind schließlich "Systeme" in dem einfachen Sinne, daß man - wie in den Abschnitten 2.1 und 2.2 ausgeführt - ihre zentralen, wenn man so will, identitätsstiftenden "Operationen" (Aufgaben der Systeme) sowie ihre wich­

tigsten "Elemente" (ihre technischen Strukturen) bestimmen und sie hier­

durch gegenüber anderen regelhaft verknüpften Gebilden der sozialen Wirk­

lichkeit plausibel abgrenzen kann.43

Die operativen Leistungen der Transplantations- und Sondermüllent­

sorgungssysteme, ihre durchgängige technische Vernetzung und ihr überre­

gionaler Operationshorizont sind jedoch ganz offensichtlich in einem hohen Maße von Vorleistungen jener Infrastruktursysteme abhängig, mit denen sie so vieles gemeinsam haben. Man könnte sagen, ihre Netzstrukturen und damit auch ihre Größe sind zu einem guten Teil von anderen großen techni­

schen Systemen "ausgeborgt".

Die Transplantationssysteme stützen sich dabei auf die bereits vorhan­

denen technischen Netze der Fernsprech- und Datenfernübertragung sowie des Straßen- und Flugverkehrs, die Sondermüllentsorgungssysteme auf die technischen Netze des Straßen-, Schienen- und Schiffsverkehrs, der Daten­

fernübertragung und der Umweltbeobachtung. Ihr jeweiliger Eigenanteil an der Vernetzung besteht in der zielgerichteten technischen Verflechtung von mehreren gegebenen Netzstrukturen unterschiedlichen Typs ("Vernetzung der Netze"). Damit ist immerhin schon gesagt, daß Organtransplantations- und Sondermüllentsorgungssysteme weder als zweckspezifische Anbauten eines gegebenen Netzes aufgefaßt und damit einem dominanten GTS zugeordnet, noch "restfrei" in eine Summe mehrerer solcher Anbauten aufgelöst werden können.

der an ihrem Aufbau und Betrieb beteiligten Akteure, Gruppen und Organisationen nicht angebbar sind (vgl. hierzu Joerges 1988: 25f).

43 Die soweit nur angedeuteten sozialwissenschaftlichen Begrifflichkeiten von "GröJ3e",

"Technik" und "System" sind natürlich mit einer Vielfalt klärungsbedürftiger Implikationen verbunden, insbesondere mit Blick auf ein halbwegs plausibles und handhabbares Konzept

"sozialer Größe". Von diesen begrifflichen Voraussetzungen seien lediglich drei hervorgeho­

ben, die zumindest für eine dezidiert techniksoziologische Beschäftigung mit derart großen Gebilden als elementar erachtet werden: 1. technische Systeme werden - entgegen der üb­

lichen Gegenüberstellung von "Technischem" und "Sozialem" - als eine Sorte sozialer Sy­

steme aufgegriffen; 2. ein sozialwissenschaftlicher Technikbegriff wird - entgegen der vor­

herrschenden Manier, Technik lediglich als Verfahren oder mentale Realität zu konzipieren - auf die Gegenständlichkeit von Technik Bezug nehmen müssen; 3. die Größe von Technik wie die von anderen sozialen Gebilden wird - entgegen dem üblichen Verfahren, sie über Potentialitäten oder Modalitäten zu bestimmen - letztlich immer an den faktisch über sie abgewickelten (sozialen) Operationen zu messen sein.

54

-Insoweit lassen sich also große technische Systeme erster Ordnung, die wie etwa das Eisenbahn- oder das Stromversorgungssystem auf einem relativ homogenen technischen Netz aufbauen, von großen technischen Sy­

stemen zweiter Ordnung unterscheiden, die wie die Sondermüllentsorgungs­

und Transplantationssysteme auf einem heterogenen technischen Netz auf­

bauen, das sich aus der Verflechtung homogener Netze ergibt. Die Unter­

scheidung zwischen Systemen erster und zweiter Ordnung zielt also auf empirisch abgrenzbare Typen großer technischer Systeme. "Ordnung" mar­

kiert in diesem Zusammenhang lediglich ein asymmetrisches Abhängigkeits- verhältnis, insofern Systeme erster Ordnung eine notwendige Voraussetzung der Systeme zweiter Ordnung darstellen (und nicht umgekehrt).

Im weiteren sollen zunächst die an den beiden Beispielen beschriebenen Verflechtungsphänomene in das durchaus breite Spektrum möglicher GTS- Verflechtungen eingeordnet werden. Anschließend wird es darum gehen, die Besonderheiten der Systeme zweiter Ordnung gegenüber den Systemen er­

ster Ordnung herauszuarbeiten und einige der vermutlich für sie charakteri­

stischen Eigenschaften zu benennen.

Verschränkung und Verknüpfung großer technischer Systeme

Läßt man - wie gehabt - alle Formen der nicht-technischen GTS-Verflech- tung außer acht, kann man die verschiedenen Möglichkeiten technischer Verflechtungen sinnvollerweise danach sortieren, ob sie nah oder weit ent­

fernt vom technischen Kern der jeweiligen Systeme ansetzen, also an wel­

chem funktionellen "Ort" der netztechnischen Strukturen die jeweilige Ver­

flechtung stattfindet. Im Prinzip sind dann zwei verschiedene Verflechtungs­

möglichkeiten denkbar, nämlich die "Verschränkung" der Betriebsstrukturen von (im einfachsten Fall zwei relativ plausibel abgrenzbaren) GTS oder die

"Verknüpfung" ihrer NutzungsStrukturen.

Bei der Verschränkung der Betriebsstrukturen handelt es sich bildlich gesprochen um die technische Verkopplung von einzelnen Knoten oder Kno­

tenverbindungen zweier Netze, wobei die verkoppelnde Einrichtung von ei­

nem der beiden verkoppelten Systeme betrieben wird (siehe Abb. 23). Ein Beispiel hierfür wären etwa die Kopplungen, die zwischen dem elektrischen

55

-Eisenbahn- und dem Stromversorgungssystem bestehen. Für den Betrieb des Eisenbahnnetzes wird das Stromversorgungssystem per eigens hierfür errichteten Umspannwerken (Sonderknoten) genutzt und umgekehrt für den Betrieb des Stromversorgungsnetzes das Eisenbahnsystem für die Anliefe­

rung von Brennstoffen per gesondertem Bahnanschluß (Sonderverbindung) zu den Kraftwerken. Punktuelle Verschränkungen dieser Art wird man zwi­

schen allen möglichen GTS finden können. Die Nutzungsstrukturen der je ­ weils beteiligten Systeme beeinflussen sie jedoch in der Regel wenig.44

S y s te m I S y s te m

Abbildung 23: Verschränkung der Betriebsstrukturen

44 Solche Verschränkungen von Betriebsstrukturen sind ein beliebtes Tummelfeld für inge­

nieurwissenschaftliche Modellrechnungen, insbesondere im Bereich der Energieversorgung.

Mit dem MARNES-Modell wird z.B. versucht, alle gegenwärtig in der Bundesrepublik ein­

setzbaren Energieversorgungseinrichtungen unter ökonmischen und ökologischen Optimie­

rungsgesichtspunkten zu kombinieren; vgl. Walbeck et al. 1988.

56

-Bei der Verknüpfung von Nutzungsstrukturen handelt es sich bildlich gesprochen um die technische Verkopplung der jeweiligen "losen Netzenden", also der jeweiligen Netzperipherien der Systeme, wobei die verkoppelnden Einrichtungen nicht zu den durch sie verkoppelten GTS gehören (siehe Abb.

25). Punktuelle Verknüpfungen dieser Art finden sich massenweise in den Produktionsbetrieben und in den Privathaushalten. Über den Einsatz von Waschmaschinen wird zum Beispiel die Nutzung von Stromversorgungs-, Wasserversorgungs- und Abwasserentsorgungsnetzen technisch miteinander verknüpft. Jeder Fernseher verbindet in diesem Sinne die Rundfunksysteme und die Stromversorgungssysteme. Solche Verknüpfungen stellen zwar eine Erweiterung der Bandbreite möglicher Nutzungsformen der jeweils beteilig­

ten Systeme dar, größere Rückwirkungen auf ihren technischen Kern und ihre Betriebsstrukturen resultieren hieraus jedoch in der Regel nicht.

S y s te m I

Abbildung 24: Verknüpfung der Nutzungsstrukturen

57

-In seltenen Extremfällen, von denen meistens nur zwei GTS mit weitge­

hend ähnlichem Leistungsprofil betroffen sind, kann die Verschränkung der Betriebsstrukturen zur ’Verschmelzung" von GTS führen, die dann auch eine durchgängige Verknüpfung ihrer "losen Enden" und Veränderungen ih­

rer NutzungsStrukturen nach sich zieht (oder umgekehrt). Man denke hier an die von der TELEKOM angestrebte Verschmelzung der Fernsprech- und Datenfernübertragungssysteme über ein einheitliches Glasfaserleitungsnetz und die neuen Nutzungsmöglichkeiten, die man sich davon verspricht.

Die am Beispiel der Transplantations- und Sondermüllentsorgungssy­

steme beschriebenen Verflechtungsphänomene weisen nun sowohl Ver- schränkungs- als auch Verknüpfungscharakteristika auf (siehe Abb. 25).

Genauer gesagt, handelt es sich bei ihnen um die punktuelle Verschränkung der Betriebsstrukturen mehrerer GTS ju r eine spezifische Verknüpfung ihrer Nutzungsstrukturen. Man könnte sie daher auch als eine punktuelle Ver­

schmelzung mehrerer, recht unterschiedlicher GTS bezeichnen, die die Sy­

stemidentität des Verschmolzenen unberührt läßt.

Abbildung 25: GTS zweiter Ordnung

58

-Einen Eingriff in die Betriebsstrukturen der jeweils genutzten GTS stel­

len im Fall der Transplantationssysteme unter anderem die Vorzugsbehand­

lung dar, der dem Ärzte- und Patiententransport im Flugbetrieb zugute kommt, der Rückgriff auf die Learjets, die dabei mitunter zum Einsatz kom­

men, und die Standleitungen von TELEKOM für das PIONEER-System. Im Fall der Sondermüllentsorgung wären dies die Vorzugsbehandlung, die ge­

fährlichen Sondermülltransporten im Straßenverkehr zuteil wird, die Spezi­

alwaggons für den Bahntransport und der Zugang zu den Umweltbeobach­

tungssystemen. In beiden Fällen geht es darum, jeweils bestimmte Nut­

zungsmöglichkeiten der einzelnen Systeme für die außerhalb dieser Systeme betriebenen Transplantationszentren oder Sondermüllentsorgungsanlagen zusammenzuführen und institutionell auf Dauer zu stellen.

Systeme zweiter Ordnung

Anknüpfend an diese grobe "verflechtungsphänomenologische" Einordnung der Transplantations- und Sondermüllentsorgungssysteme bietet es sich an, die Begrifflichkeit der Systeme zweiter Ordnung speziell für zweckspezifische Kombinationen von Vers ehr änkungs- und Verknüpfungsphänomenen zu re­

servieren und in folgende Richtung zu präzisieren. "GTS erster Ordnung"

bezeichnet demnach die klassischen, anhand ihrer homogenen Netzstruktu­

ren relativ einfach abgrenzbaren Infrastruktursysteme (Straßenverkehrs-, Eisenbahn-, Stromversorgungs-, Wasserversorgungs-, Fernsprechsysteme usw.). "GTS zweiter Ordnung" bezeichnet demgegenüber heterogen vernetzte Systeme, die zwei oder mehrere Systeme erster Ordnung in Anspruch neh­

men, ihre unterschiedlichen Leistungen im Hinblick auf eine bestimmte Funktion zusammenführen und mit Hilfe entsprechend ausgelegter "Schnitt­

stellen" Teile der Systeme erster Ordnung funktional kombinieren.

Systeme erster und zweiter Ordnung gleichen sich danach in bezug auf den Umfang der über sie abgewickelten Operationen und in bezug auf die räumliche Erstreckung ihres (häufig internationalen) Operationshorizontes (scale). Sie unterscheiden sich insofern, als Systeme zweiter Ordnung im Vergleich zu den zweckoffenen Systemen erster Ordnung nur für spezifische

59

-Zwecke ausgegelegt sind und nur über eine relativ geringe netztechnische

"Eigensubstanz" verfügen (scope).45

Da durch die Verflechtung der Systeme erster Ordnung nicht nur ihre Leistungen, sondern zumindest teilweise eben auch die Probleme ihres jewei­

ligen Betriebs "kombiniert" werden, kann man darüber hinaus erwarten, daß die Systeme zweiter Ordnung störanfälliger sind, relativ große Normierungs­

anforderungen stellen und sich schneller als die Systeme erster Ordnung ver­

ändern.

Systeme erster Ordnung sind weitgehend gegenüber Störungen in ande­

ren Systemen abgeschottet, mit denen sie verschränkt oder verknüpft sind.

Bricht das Telefonsystem zusammen, läßt sich dennoch Eisenbahn fahren, auch wenn es hierdurch schwieriger wird, die weiteren Vorhaben am Ziel der Reise zu planen. Wird die Eisenbahn bestreikt, läßt sich dennoch Auto fah­

ren, auch wenn man dann mit größeren Staus rechnen muß. Wie weit sich Störungen unter den Systemen erster Ordnung fortpflanzen ist von Fall zu Fall unterschiedlich und hängt von Art und Grad ihrer jeweiligen Verflech­

tung ab. So ist die Nutzung der Rundfunksysteme (wenn auch nicht ihr weit­

gehend durch Notstromaggregate abgesicherter Betrieb) sehr direkt von der Stromversorgung abhängig - der Fernsehempfang wird weitaus häufiger durch Stromausfall als durch Unbilden der Witterung gestört. Das Straßen­

verkehrs system wird von Störungen etwa des Schienen- oder Flugverkehrs allein schon insofern betroffen, weil es in Regel zu deren Überbrückung ge­

nutzt wird. Rundfunk- und Wasserversorgungssysteme können hingegen nahezu völlig unabhängig voneinander betrieben und genutzt werden.

Systeme zweiter Ordnung sind demgegenüber störanfällige Funktions­

gebilde, das heißt sie sind wesentlich stärker auf das zeitgleiche Funktionie­

ren der klassischen Infrastruktursysteme angewiesen. So können Organ­

transplantationen bereits daran scheitern, wenn nur eines der für sie maß­

gebenden Infrastruktursysteme ausfällt, also wenn in der Region des Ent­

nahmekrankenhauses das Telefonnetz kollabiert oder schlechtes Wetter den Flugverkehr lahmlegt oder der Computer respektive die Standleitung der Transplantationsvermittlungszentralen zusammenbricht oder schlicht und

45 Zum Verhältnis von Zweckoffenheit und -bindung großer technischer Systeme siehe den 4. Abschnitt.

60

-einfach ein Verkehrsstau die rechtzeitige Bergung eines Organspenders ver­

hindert.46

Da Systeme zweiter Ordnung heterogene Netzstrukturen zur Grundlage haben, muß für sie ein relativ großer Normierungsaufwand betrieben wer­

den. Er besteht jedoch weniger in der Generierung gänzlich neuer Standards als in der Kompatibilisierung und zweckspezifischen Ausrichtung bereits etablierter Normengefüge der jeweils miteinander verflochtenen Systeme. So existieren zum Beispiel nur wenige sicherheits- und verfahrenstechnische Normen, die speziell für die Sondermüllentsorgung geschaffen wurden und nur in diesem Bereich gelten. Sie sind jedoch - wie ein Blick etwa in die vielen einschlägigen Ausführungsbestimmungen des Abfallgesetzes zeigt - in einen umfangreichen Normenhintergrund eingepaßt, der unter anderem die verschiedenen sicherheitstechnischen Normen für den Straßen-, Schienen- und Schifftransport von gefährlichen Gütern, und verschiedene Sicherheits-, Schadstoff- und Meßvorschriften für den Betrieb gefährlicher Anlagen in der Energiewirtschaft, der Abfallwirtschaft und der chemischen Industrie um­

faßt.

Die geringe netztechnische Eigensubstanz der Systeme zweiter Ordnung bildet naheliegenderweise auch die Voraussetzung dafür, daß sie relativ schnell auf- und umgebaut werden können, also zeitflexibler sind als Systeme erster Ordnung. Das bundesdeutsche Transplantationssystem wurde in nur knapp einem Jahrzehnt errichtet, und auch wenn der Aufbau eines halbwegs funktionierenden Sondermüllentsorgungssystems durch den langen Planungsvorlauf für Entsorgungsanlagen einiges länger dauern wird, dürfte dies in keinem Verhältnis zu den Zeiträumen stehen, die der Aufbau etwa der Strom- oder Wasserversorgungssysteme in Anspruch nahm. Für den raschen Funktionswandel der Transplantationssysteme in der zweiten Hälfte der 80er Jahre wird man ebenfalls kaum eine Parallele im Bereich der klassischen Infrastruktursysteme finden können.

46 Analoge Störungen lassen sich für die Sondermüllentsorgungssysteme natürlich noch nicht angeben, gilt es doch zunächst, überhaupt einen Regelfall der Sondermüllentsorgung zu etablieren - anders ausgedrückt: zur Zeit sind die Sondermüllentsorgungssysteme per­

manent gestört. Doch mit der ökonomisch-rechtlichen Ausdifferenzierung und der techni­

schen "Härtung" sondermüllartspezifischer Transportpfade und Behandlungsanlagen und mit dem Aufbau eines leistungsfähigen SSMM wird der Ausfall einer der netztechnischen Komponenten zu vergleichbaren Sondermüllentsorgungsnöten für bestimmte Regionen oder Unternehmen führen, denn dann wird - wie zu hoffen ist - die gegenwärtig noch praktizierte

"Flexibilität" in der Sondennüllentsorgung der Vergangenheit angehören.

61

-Aus der Störanfälligkeit, den großen Normierungszwängen und dem schnellen Entwicklungsrhythmus läßt sich jedoch keineswegs folgern, daß Systeme zweiter Ordnung eine generell geringere Stabilität oder eine kürzere

"Lebenserwartung" als Systeme erster Ordnung aufweisen. Ein Gegenbei­

spiel für diese Vermutung und vielleicht sogar der Archetypus aller Systeme zweiter Ordnung bildet das Postwesen. Seit Jahrhunderten kombiniert das Postwesen Spitzenleistungen der zur jeweiligen Zeit verfügbaren Transport- und Verkehrssysteme, anfänglich über Postkutschen und berittene Postbo­

ten, später dann über Postautos, Postzüge, Postdampfer und Postflugzeuge usw. Als Wellenreiter der verkehrstechnischen Infrastrukturentwicklung überlebte sie so manches große technische System erster Ordnung. Diese Wellenreiterrolle hat sie sich bis heute erhalten. Man denke hier weniger an das wegen seiner Unbeweglichkeit häufig gescholtene staatliche Postwesen, als vielmehr an private Kurierdienste, die mit größtenteils eigenem Fuhrpark den Flugzeug-, Schiff-, Eisenbahn-, und Auto transport von Brief- und Paket­

sendungen verbinden und zur Umgehung innerstädtischer Staus sogar Motorrad- und Fahrradkuriere einsetzen.47

Soweit zunächst zur näheren Charakterisierung und begrifflichen Präzi­

sierung des Typs der Systeme zweiter Ordnung. Es sei hier darauf hingewie­

sen, daß "Systeme zweiter Ordnung" immer nur im Zusammenhang mit ei­

nem entsprechend "geeichten" Begriff der Systeme erster Ordnung Sinn macht, also auf einen geeignet gewählten Begriff von "großen technischen Systemen", "technischen Makrosystemen", "technischen Infrastrukturen"

und "Großtechnik" angewiesen ist.

So dürfte für die Untersuchung von Systemen zweiter Ordnung die Rede von dem "Verkehrssystem" oder dem "Energieversorgungsystem" zu hoch, zu unspezifisch angesetzt sein - der Spielraum für "Kombinate" wäre zu gering.

Die Rede vom Züricher Straßenbahnsystem oder vom Stromverteilungssy­

stem für Neukölln dürfte hingegen zu "tief', zu spezifisch angesetzt sein - der Spielraum für "Kombinate" wäre zu groß. Handhabbarkeit und Erkenntnis­

gewinne verspricht die Abgrenzung bei einer GTS-Begrifflichkeit, die auf ei­

ner mittleren Ebene angesiedelt ist und die es erlaubt, zum Beispiel

zwi-47 So sind es vor allem die höheren Kombinationsleistungen, durch die die im Logistikjar­

gon als "integrierte Operateure" bezeichneten Kurierdienste nicht nur der Bundespost, son­

dern auch dem traditionellen Speditionswesen zunehmend das Wasser abgraben (vgl. Kern 1991).

62

-sehen Systemen des Schienen- und Straßenverkehrs, der Gas- und Strom­

versorgung oder der Wasserver- und Abwasserentsorgung zu unterscheiden.

Sozialwissenschaftliche Anknüpfungspunkte

Die einschlägige sozialwissenschaftliche Technikforschung hat sich bislang nicht mit Verflechtungsphänomenen großer technischer Systeme beschäf­

tigt. Für die "Lupe" der vorwiegend auf Industrie- und Verbrauchertechnik fokussierten Technikforschung sind sie schlicht zu groß. Die "Teleskope" der wenigen speziell zu großen technischen Systemen vorliegenden Untersu­

chungen besitzen noch nicht die Auflösungskraft, um sie zu erfassen. Die Verflechtungsthematik weist jedoch einige Querverbindungen zu For­

schungsthemen aus dem Bereich der Industriesoziologie und Organisations­

forschung auf.

Unter der Überschrift "systemische Rationalisierung", "neue Produk­

tionskonzepte" und "Rationalisierung im Dienstleistungsbereich" hat sich in den letzten Jahren die industriesoziologische Forschung verstärkt zwischen- und überbetrieblichen Vernetzungstendenzen zugewendet und in diesem Rahmen die Einführung von Betriebs- und Unternehmensgrenzen über­

schreitenden und verschiedene Produktmärkte und Wirtschaftssektoren ver­

knüpfenden Logistiksystemen untersucht (Kern/Schumann 1985, Altmann et al. 1986). Insofern diese Forschungsrichtung primär organisatorische und ökonomische Aspekte überbetrieblicher Vernetzungen in den Vordergrund stellt, könnte sie vor allem zur näheren Analyse des nicht-technischen, in den beiden Fallbeispielen lediglich angedeuteten Entwicklungsvorlaufs der Systeme zweiter Ordnung beitragen.48

Auf jeden Fall zeigen die industriesoziologischen Untersuchungen, daß die am Beispiel der Organtransplantation und der Sondermüllentsorgung beschriebenen Systeme durchaus keine Einzelfälle darstellen und insbeson­

48 Zu den wenigen Studien, die den Technikaspekt stärker in den Vordergrund stellen und insbesondere die infrastrukturellen Voraussetzungen überbetrieblicher Vernetzungstenden­

zen berücksichtigen, gehören die Arbeiten von Biervert und Monse zu kommunikationstech­

nischen Vernetzungen in kundennahen Dienstleistungsbereichen und die Arbeiten von Kubicek zur Durchsetzung neuer Datenkommunikationssysteme (vgl. Biervert/Monse 1989 und Kubicek 1988).

63

-dere im privatwirtschaftlichen Bereich eine ganze Reihe ähnlicher Gebilde vermutet werden können. Man denke hier nicht nur an die zumeist regional ausgelegten 'just-in-time"-Systeme zwischen Hersteller und Zulieferer oder Vertreiber, sondern auch an die häufig weltumspannenden Logistiksysteme für verteilte Produktionsprozesse in großen Konzernen ("Weltauto") oder an die integrierten Leit-, Buchungs- und Zahlungssysteme des internationalen Reiseverkehrs ("Amadeus").49

Es ist schließlich bemerkenswert, daß in der Industriesoziologie - wie auch in der einschlägigen Technikforschung - durchweg kommunikations­

technische Systeme den Anlaß oder Ausgangspunkt für die Untersuchung überbetrieblicher Vernetzung bilden. Offenbar lösen sie die Werkzeugma­

schine ab, das Lieblingskind industriesoziologischer Forschung in den 60er und 70er Jahren. Zwar spielen Datentechnik und Kommunikationsnetze in

schine ab, das Lieblingskind industriesoziologischer Forschung in den 60er und 70er Jahren. Zwar spielen Datentechnik und Kommunikationsnetze in