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Archiv "Europäische Gesundheitspolitik: Brüsseler Ambitionen" (14.10.2005)

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Ä

rzte stellten im Januar 2000 bei Martha Hinrichs* ein schweres Nierenleiden fest. Doch trotz ei- ner speziellen Diät und der Gabe von Medikamenten ging es der 56-Jährigen aus dem niederrheinischen Kleve von Woche zu Woche schlechter. Zwei Jahre nach der Diagnose wurde Hinrichs dia- lysepflichtig. Weitere 15 Monate später erklärten ihr die Ärzte, dass nur eine Transplantation ihr Leben retten könne.

In der Nacht vom 12. auf den 13. Au- gust 2005 dann die ersehnte Nachricht:

Eine Spenderniere steht zur Verfügung.

Nun ging alles ganz schnell. Per Taxi ließ sich Hinrichs in die nur 26 Kilo- meter von ihrem Heimatort entfernt liegende Radboud-Klinik Nimwegen bringen und erhielt dort einige Stunden später das lebensrettende Organ.

Der Grund dafür, dass die schwer kranke Frau die Operation im benach- barten Holland und nicht in Deutsch- land hat vornehmen lassen: Die nächst- gelegene deutsche Klinik, die eine sol- che Transplantation hätte durchführen können, ist das Universitätsklinikum

Düsseldorf – eine gute Autostunde von Kleve entfernt. Dieses Risiko wollte Hinrichs nicht eingehen.

„Für mich ist das alles wie eine zwei- te Geburt“, erklärt die inzwischen 61 Jahre alte Frau, die allmählich wieder in ihr altes Leben ohne Dialyse und die dauernde Angst vor einem endgültigen Nierenversagen zurückfindet. Sie ist zu- dem fest davon überzeugt, dass der glückliche Ausgang ihrer Leidensge- schichte ohne die optimale Zusammen- arbeit zwischen den medizinischen Ein- richtungen in Kleve und dem niederlän- dischen Nimwegen nicht möglich gewe- sen wäre.

Zweifelsohne hat die Versorgung der Patientin auch deshalb so reibungslos funktioniert, weil die grenzüberschrei- tende Kooperation zwischen den Kom- munen, den gesetzlichen Krankenkas- sen, Ärzten und medizinischen Einrich- tungen in den beiden Ländern längst Routine ist. Spezielle Abkommen im Rahmen so genannter Euregios machen dies möglich.

Bei der Europäischen Kommission in Brüssel fallen solche Kooperationen auf fruchtbaren Boden. Deshalb bezu-

schusst die Europäische Union (EU) Projekte, die die Zusammenarbeit im Gesundheitswesen an den Grenzen der europäischen Mitgliedstaaten fördern, großzügig aus ihrem Strukturfonds für regionale Entwicklung.

Mit ungebremstem Ehrgeiz setzen die Verantwortlichen in Brüssel zudem alles daran, dass nicht nur Bewohner aus den Grenzgebieten, sondern Versi- cherte und Patienten europaweit von der Möglichkeit Gebrauch machen können, sich im europäischen Ausland medizinisch versorgen zu lassen. Insbe- sondere in den letzten zwei Jahren sind gesundheitspolitische Maßnahmen auf europäischer Ebene wie Pilze aus dem Boden geschossen.

So soll unter anderem die auf Bestre- ben der EU-Kommission Anfang 2004 eingeführte Europäische Krankenver- sichertenkarte die Mobilität der Versi- cherten vorantreiben. Ebenfalls im ver- gangenen Jahr startete die Kommission eine Initiative zur Einrichtung eines EU-Gesundheitsportals, über das inter- essierte Bürger Daten und Informatio- nen zum Gesundheitswesen in ganz Eu- ropa abfragen und austauschen kön- nen. Es soll noch bis Ende 2005 den Be- trieb aufnehmen. Darüber hinaus hat die Kommission eine „Exekutivagen- tur“ mit Sitz in Luxemburg eingerich- tet, die die Behörde dabei unterstützen soll, ihr Aktionsprogramm zur Öffentli- chen Gesundheit umzusetzen. Eine Antitabakkampagne sowie eine euro- paweit agierende Plattform zum Thema Ernährung, körperliche Bewegung und Gesundheit runden die Palette ab.

Die Erklärung dafür, warum die Be- amten in Brüssel so um das gesundheit-

Europäische Gesundheitspolitik

Brüsseler Ambitionen

Die Europäische Kommission hat ihren Einfluss auf die Gesundheitspolitik der Mitgliedsländer in den vergangenen zwei Jahrzehnten stetig erweitert.

Seit 1993 hat das Europaparlament ein Mit- bestimmungsrecht bei Gesetzesinitiativen, die das Gesundheitswesen betreffen.

*Name von der Redaktion geändert

Foto:dpa

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liche Wohlergehen der EU-Bevölke- rung bemüht sind, ist ganz einfach: Die Kommission hat erkannt, dass eine flächendeckende hochwertige medizi- nische Versorgung und ein umfassender Gesundheitsschutz der inzwischen knapp 460 Millionen EU-Bürger ein wesentlicher Aspekt für die wirtschaft- liche Entwicklung Europas sind.

Diese Erkenntnis ist nicht neu. Be- reits im Vertrag von Maastricht wurde festgeschrieben, dass – ganz gleich, um welches Politikfeld es sich handelt – grundsätzlich der Gesundheitsschutz als Querschnittsziel zu berücksichtigen

ist. Das war im Jahr 1993. Gleichzeitig erhielt das Europäische Parlament das Recht, Vorschläge der Kommission zu Gesetzgebungsverfahren im Gesund- heitswesen zu prüfen und gegebenen- falls zu ändern. Seither beschäftigen sich zahlreiche parlamentarische Aus- schüsse, allen voran die Ausschüsse für Umwelt, Lebensmittelsicherheit und Volksgesundheit sowie für Binnen- markt und Verbraucherschutz, mit ge- sundheitspolitischen Fragestellungen.

Dennoch dümpelte die europäische Gesundheitspolitik bis Ende der 90er- Jahre mehr oder weniger träge vor sich

hin. Abgesehen von einem EU-weiten Aktionsprogramm zur Krebsbekämp- fung, passierte nicht viel. Auch auf den Ratssitzungen der für Gesundheit und Soziales zuständigen Minister der EU- Länder spielte das Thema Gesundheit nur eine marginale Rolle.

Erst die zunehmende Ausbreitung von HIV und Aids in Europa sowie die BSE-Krise sorgten für eine neue Dyna- mik. Die Folge: 1999 richtete die Eu- ropäische Kommission die Generaldi- rektion für Gesundheit und Verbrau- cherschutz, GD Sanco (Santé et Con- sommation), ein. Zentrale Aufgabe der

Frankreich und die Niederlande haben die Euro- pa-Verfassung nicht ratifiziert. Deren Zukunft liegt seitdem im Dunkeln. Doch die Europäische Union (EU) ist damit keineswegs verfassungslos.

Abgelehnt wurde von den beiden Ländern der von einem Verfassungskonvent (geleitet von dem früheren französischen Präsidenten Valery Giscard d’Estaing) im Juli 2003 vorgelegte Text.

Allerdings gilt das bereits bestehende umfang- reiche europäische Vertragswerk – von den Rö- mischen Verträgen und ihren Ergänzungen bis zu „Maastricht“ – weiter und gibt der EU einen verfassungsähnlichen Rahmen.

Unverändert gültig sind zum Beispiel die Be- stimmungen über die gegenseitige Anerken- nung von Befähigungsnachweisen (Diplomen), über den freien Dienstleistungsverkehr und die freie Berufsausübung innerhalb der EU. Diese Thematik beschäftigt die Ärzteschaft schon seit Jahrzehnten und hat zu deren Zusammen- schluss im Ständigen Ausschuss der Ärzte- schaften der EU geführt. Mit der Aufnahme der neuen Mitglieder hat sie noch einmal an Bri- sanz gewonnen.

In der jetzt auf Eis liegenden Europa-Verfas- sung waren diese Bestimmungen gleichfalls enthalten, bereits geltendes Recht wurde prak- tisch übertragen und bekräftigt. Gleichfalls be- stätigt wird im Verfassungstext auch der Vor- rang des nationalen Rechts bei der Organisati- on des Gesundheitswesens. Auch das ist nicht neu, bekäme mit einer Europa-Verfassung al- lerdings förmlichen Verfassungsrang.Artikel III- 278, Absatz 7 deklariert etwa, dass „die Ver- antwortung der Mitgliedstaaten für die Festle- gung der Gesundheitspolitik sowie die Organi-

sation des Gesundheitswesens und die medizi- nische Versorgung gewahrt“ wird.

Der Verfassungstext schreibt hiermit lediglich den Status quo fest.Anders ist es mit den Grund- rechten. Auch hier übernimmt die Verfassung zwar bereits vorliegende Formulierungen, näm- lich des Grundrechte-Konvents (unter Leitung des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Roman Herzog), verabschiedet auf dem Gipfel der Regierungschefs in Nizza im Jahr 2001. Doch handelt es sich bei der „Charta der Grundrechte der Union“ bisher nur um eine Proklamation, nicht aber um förmliches Europarecht.

Zu den Grundrechten zählen zum Beispiel das Verbot der Todesstrafe oder das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit. Artikel II-63 geht hier sogar ziemlich ins Detail: Im Rahmen der Medizin und Biologie muss zur Wahrung der Unversehrtheit insbesondere be- achtet werden

>die freiwillige Einwilligung des Betroffe- nen nach vorheriger Aufklärung,

>das Verbot eugenischer Praktiken, insbe- sondere derjenigen, welche die Selektion von Menschen zum Ziel haben,

>das Verbot, den menschlichen Körper und Teile davon als solche zur Erzielung von Gewin- nen zu nutzen,

>das Verbot des reproduktiven Klonens von Menschen.

Einstweilen bleiben solche Feststellungen deklaratorisch. Ob sie unmittelbar geltendes Europarecht werden, auf das sich jedermann in der EU berufen kann, hängt vom Schicksal der Verfassung ab. Und das ist offen. EU-Präsident Jose Manuel Barroso hält es für ausgeschlos-

sen, dass die Verfassung in den nächsten zwei, drei Jahren in Kraft treten kann (Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 26. Sep- tember 2005). Frankreich und die Niederlande würden auf absehbare Zeit keinen zweiten An- lauf unternehmen. Barroso regt gleichwohl ei- ne öffentliche Debatte etwa über die Zukunft des Sozialstaates an. Aus einer solchen Anre- gung folgt, dass der Verfassungstext noch ein- mal aufgeschnürt werden müsste und mühsam verhandelte Passagen, wie die zitierten über Eugenik oder Klonen, wieder auf den Verhand- lungstisch kämen.

Andererseits – die Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten und ei- ne Mehrheit der EU-Bürger hat der Europäischen Verfassung bereits zugestimmt. Nach den negativen Volksabstimmungen in Frankreich und den Nieder- landen haben Lettland, Luxem- burg und Malta die Verfassung gebilligt. Fallen die Ratifizie- rungen unter den Tisch, weil zwei Mitgliedsländer gegen den Verfassungsvertrag votiert haben? An eine solche verfah-

rene Lage haben die EU-Politiker offenbar (und unerklärlicherweise) nicht gedacht.

Unterdessen setzen bei Politikern und Wis- senschaftlern erste Überlegungen ein, wie die Verfassung nach einer gewissen Denkpause doch noch gerettet werden könnte. So regt der Bonner Politikwissenschaftler und Direktor am Zentrum für Europäische Integrationsforschung Ludger Kühnhardt, an „ob am Ende der derzei- tigen Ratifikationskrise der Europäischen Ver- fassung ein abschließendes, zeitgleiches und gemeinsames Referendum in allen EU-Mit- gliedstaaten stehen sollte“. Frankreich und den Niederlanden würde damit eine goldene Brücke gebaut. Norbert Jachertz

Europäische Verfassung

Einstweilen geht´s auch ohne

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Foto:Europäischer Konvent

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Behörde ist es, die Rechtsvorschriften der EU über die Lebensmittelsicherheit sowie zum Schutz der Verbraucher und der menschlichen Gesundheit auf dem neuesten Stand zu halten und die Ein- haltung der Gesetze in den Mitglied- staaten zu überwachen.

Noch gilt das Prinzip der Subsidiarität

Die Behörde untersteht dem jeweiligen Kommissar für Gesundheit und Ver- braucherschutz – seit November 2004 ist dies der Zypriot Markos Kyprianou – und erarbeitet für diesen Vorschläge für Richtlinien, Verordnungen, Aktions- programme zur öffentlichen Gesund- heit oder ersinnt Initiativen zum Bei- spiel zur Bekämpfung von Überge- wicht, Tabakkonsum und alkoholbe- dingten Gesundheitsschäden.

Streng genommen besitzt die EU da- bei nur für den eng umrissenen Bereich der gesundheitlichen Prävention eine klar definierte Kompetenz. Denn die Fi- nanzierung und Organisation der natio- nalen Gesundheitssysteme liegt nach wie vor in den Händen der einzelnen Mitgliedstaaten – nicht immer zur Freu- de der Verantwortlichen in den eu- ropäischen Institutionen. „Wir können für den Schutz der Tiere auf europäi- scher Ebene mehr tun als für den Ge- sundheitsschutz der Menschen“, brach- te der Vorgänger Kyprianous, der Ire David Byrne, sein Missfallen einst auf den Punkt.

Im Amsterdamer EG-Vertrag vom November 1997 wurde zwar mit Artikel 152 die gesetzliche Grundlage für ver- stärkte Aktivitäten auf europäischer Ebene im Gesundheitsschutz und in der Förderung der öffentlichen Gesundheit geschaffen. Im Grunde legitimiert der Passus die Brüsseler Beamten jedoch nur dazu, koordinierende Maßnahmen im Bereich des Veterinärwesens und zur Sicherheit von Blut und Blutpro- dukten zu treffen.

Letztlich weitet auch die Europäi- sche Verfassung diese Kompetenzen nicht wesentlich aus. Das Vertragswerk schreibt in erster Linie fest, dass die EU künftig zusätzlich einschreiten darf, um schwerwiegenden grenzüberschreiten- den Gesundheitsgefahren zu begegnen,

zum Beispiel durch Infektionserkran- kungen wie die Lungenkrankheit SARS oder die Vogelgrippe sowie durch bio- terroristische Aktivitäten.

Gleichwohl tut die Kommission dies bereits heute und hat zudem ihren Ein- fluss auf die Gesundheitspolitik der Mitgliedsländer in den vergangenen zwei Jahrzehnten stetig ausgebaut. Das liegt auch daran, dass die diversen Poli- tikfelder der EU eng miteinander ver- flochten sind, was wiederum dazu führt, dass sich zahlreiche Vorhaben unter- schiedlicher Kommissionsdienststellen auf die nationalen Gesundheitspoliti- ken auswirken. Beispiele hierfür sind die Arbeitszeitrichtlinie der Generaldi- rektionen Beschäftigung, die von der GD Forschung aufgestellten For-

schungsrahmenprogramme, die Chemi- kalienverordnung REACH der GD Umwelt oder Aktivitäten im Bereich E-Health der Abteilung für Informa- tionsgesellschaft.

Überschneidungen und Kooperatio- nen zwischen der GD Sanco und ande- ren Dienststellen gibt es zudem mit der GD Unternehmen und Industrie, sofern beispielsweise der Arzneimittelmarkt betroffen ist, oder mit den für Binnen- markt und Wettbewerb zuständigen Behörden, die über die Freiheit von Personen, Waren und Dienstleistungen in der EU und die Einhaltung der Re- geln des Binnenmarktes wachen.

Die EU rechtfertigt ihre krakenhafte Einmischung in den Gesundheitsbe- reich damit, die Rolle des „Katalysators für den Wandel“ einnehmen zu müssen, um europaweit ein hohes Maß an Ge- sundheit zu erreichen. Dabei steht die Behörde unter großem Druck. Denn die Lissaboner Agenda aus dem Jahr 2000, die zum Ziel hat, die EU zu einer wirtschaftlich führenden Weltmacht zu machen, sieht in der Förderung der Ge- sundheit aller Europäer den Motor für die Wettbewerbsfähigkeit und nachhal- tige Entwicklung der europäischen Wirtschaft.

Unmissverständlich hat Ex-Kommis- sar Byrne daher im Sommer letzten Jah- Ex-Gesundheitskommissar David Byrne: „Wir

können für den Schutz der Tiere mehr tun als für den Gesundheitsschutz der Menschen.“

Die EU-Kommission als Schrittmacher in der Gesundheitspolitik: Seit November 2004 bekleidet der Zypriot Markos Kyprianou das Amt des Kommissars für Gesundheit und Verbraucherschutz.

Foto:European Community Foto:European Community

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res in seinem Entwurf für eine neue ge- sundheitspolitische Ausrichtung der EU klargestellt: „Europa benötigt eine Strategie, an der sich die gesundheitspo- litischen EU-Maßnahmen in den näch- sten Jahren orientieren können. Kurz- um, die EU wird in Zukunft eine Füh- rungsrolle dabei übernehmen, weit über die europäischen Grenzen hinaus für Gesundheit zu sorgen.“

Um seinen Willen zur Zusammenar- beit mit den Mitgliedstaaten und inter- essierten Kreisen zu demonstrieren, läutete er daraufhin einen Reflexions- prozess ein, der Sachverständige aus dem Gesundheitswesen, Interessen- gruppen und einzelne Bürger dazu auf- forderte, gemeinsam eine Vision für die europäische Gesundheitspolitik der Zukunft zu entwickeln.

Auch führte dieser Prozess dazu, dass die Kommission dem Leiter der GD Sanco, Dr. Robert Madelin, im Frühjahr 2004 eine hochrangige Expertengruppe

(High Level Group on Health Services and Medical Care) unterstellte. Der Zu- sammenschluss, dem sowohl Vertreter der Kommission als auch der Mitglied- staaten angehören, ist dazu aufgerufen, Ideen zu entwickeln, um insbesondere die Mobilität von Patienten und Ge- sundheitsdienstleistern voranzutreiben, Kooperationen im Gesundheitswesen zu fördern sowie den Informationsfluss im medizinischen Sektor zu verbessern.

Durch die Erweiterungsrunde der EU vom Sommer vergangenen Jahres ist das Ziel, ein wettbewerbsfähiges Eu- ropa auf der Basis möglichst gleicher- maßen effektiv funktionierender Sozial- versicherungssysteme zu schaffen, je- doch in fast unerreichbare Ferne gerückt. Denn die Kluft zwischen den Versorgungsniveaus der 15 alten EU- Länder und einem Großteil der zehn neuen Mitglieder aus Mittel- und Osteu- ropa ist enorm. So führen die Oststaaten die Raten bei Herzkreislauf- und Krebs-

erkrankungen, wie Lungenkrebs, an.

Gleichzeitig investieren die Neulinge erheblich weniger ins Gesundheitswe- sen: im Schnitt 4,5 Prozent ihres Brut- toinlandsproduktes, verglichen mit 8,5 Prozent bei den alten Ländern.

Zwar profitieren Staaten wie Polen, Tschechien oder Ungarn durchaus vom Beitritt. Der Zustrom an Patienten, die in Ländern wie Polen oder Ungarn ärzt- liche, zahnärztliche und vor allem Reha- bilitationsleistungen nachfragen, wächst stetig. Die Kehrseite der Medaille aber ist, dass diese Länder Gefahr laufen, langfristig hoch qualifiziertes ärztliches und pflegerisches Personal an die alten Staaten zu verlieren. Aus Tschechien beispielsweise ziehe es rund 500 Ärzte jährlich ins europäische Ausland, erklärt der Präsident der Tschechischen Ärzte- kammer, Dr. David Rath. Die meisten erhoffen sich dort eine bessere Zukunft und höhere Gehälter.

Angesichts einer solchen Dynamik drängt die Zeit, Lösungen zu finden.Al- lerdings existiert bislang kein schlüssi- ges Rezept, um zu verhindern, dass es zu einem weiteren Versorgungsgefälle kommt, zumal der EU für eine Harmo- nisierung der Systeme jegliche Rechts- grundlage fehlt.

Auch ihre selbsternannte Rolle als oberste Hüter der Gesundheit der EU- Bevölkerung können die Kommissions- beamten lediglich aus einem Sammelsu- rium von Paragraphen im EG-Vertrag ableiten. Nichtsdestoweniger steigt die Zahl an Aktivitäten, die die EU aus die- ser eher vagen Kompetenz ableitet, fort- laufend an. Initiativen zur Bekämpfung des Tabakkonsums und des Alkohol- missbrauchs oder der „Volkskrankheit“

Adipositas sind nur einige Beispiele.

Darüber hinaus versucht die Kom- mission, den Druck auf die Mitglied- staaten in der Gesundheitspolitik zu er- höhen, indem sie sich der Methode der Offenen Koordinierung (OMK) be- dient. Die OMK dient dazu, die Moder- nisierung der Sozialversicherungssyste- me der Mitgliedstaaten im Wege des ge- genseitigen Erfahrungsaustauschs und des Best-Practice-Vergleichs voranzu- treiben.

Die Begeisterung über die Anwen- dung der Methode hält sich indes in Grenzen. So hat Bundesgesundheitsmi- nisterin Ulla Schmidt stets nur sehr ge- DÄ: Herr Professor Hop-

pe, wie schätzen Sie die Stra- tegie der EU-Kommission in der europäischen Gesund- heitspolitik ein?

Hoppe:Bislang war die Politik der EU-Kommission auf Koordination, Kooperati- on und Investition im Bereich der Gesundheitssysteme aus- gerichtet. Dabei sollte es auch bleiben. Wir legen Wert auf Subsidiarität im Gesund- heitswesen. Die Zuständig- keit der Mitgliedstaaten für die Organisation der Gesund- heitssysteme darf auch künf- tig nicht infrage gestellt werden. Unser Gesundheits- wesen ist ein komplexes Sy- stem, solidarisch finanziert, selbst verwaltet und über Jahrzehnte gewachsen. Ei- nem solchen System darf man nicht einfach die ein- heitlichen Wettbewerbsre- geln des europäischen Bin- nenmarktes überstülpen. Das sollte die EU-Kommission bei zukünftigen Richtlinien im- mer im Auge behalten.

DÄ:Glauben Sie, dass es unter einer großen Koalition neue Akzente im Hinblick auf die Koordinierung der euro- päischen Sozialversicherungs- systeme geben wird?

Hoppe: Ich weiß nicht, welche Impulse eine große Koalition setzen wird. Aber ich kann mir auch nicht vor- stellen, dass man an der Grundausrichtung etwas än- dern wird. Bisherige Bundes- regierungen haben stets be- tont, dass es eine Harmoni- sierung der Gesundheitssy- steme nicht geben darf, wohl aber eine Koordinierung der Sozialversicherungssysteme.

DÄ: Wird die Bundesärz- tekammer ihre Aktivitäten in Brüssel ausbauen, um die In- teressen der Ärzteschaft bei der EU zu vertreten?

Hoppe:Die Bundesärzte- kammer ist seit 1996 in Brüs- sel mit eigenem Büro ver- treten. Bei einer Reihe von wichtigen Gesetzesvorhaben, zum Beispiel der Richtlinie zur Anerkennung von Berufs- qualifikationen, der Arbeits- zeitrichtlinie, der Richtlinie zum Dienstleistungsbinnen- markt, konnten die Belange der Ärzte in den Entschei- dungsprozess eingebracht werden, sodass den Erforder- nissen einer kompetenten und sachgerechten Interes- senvertretung auf EU-Ebene in hohem Maße Rechnung getragen wurde. Da die Euro- pathemen auch auf Ebene der Landesärztekammern im- mer wichtiger werden, hat die Bundesärztekammer eine Ständige Konferenz „Europäi- sche Angelegenheiten" ein-

gerichtet. )

Jörg-Dietrich Hoppe ist seit 1999 Präsident der Bundesärztekammer.

Foto:Elke Hinkelbein

Nachgefragt

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ringe Ambitionen an einem regelmäßi- gen Austausch mit ihren europäischen Amtskolleginnen und -kollegen erken- nen lassen, wenngleich sie sich rühmt, mit dem GKV-Modernisierungsgesetz die rechtliche Grundlage dafür geschaf- fen zu haben, dass sich Versicherte seit Januar vergangenen Jahres grundsätz- lich auch im europäischen Ausland zu- lasten ihrer Krankenkasse behandeln lassen können.

Fortschreitende Dynamik im EU-Gesundheitsmarkt

Auch die gesundheitspolitische Spre- cherin der CDU/CSU-Fraktion, Annet- te Widmann-Mauz, kann sich angesichts der Tatsache, dass sich die sozialen Si- cherungssysteme der EU-Länder nur schwer miteinander vergleichen lassen, nicht so recht mit der OMK anfreun- den. Hinter dieser Zurückhaltung steckt natürlich auch die Angst, dass die EU-Kommission alles versucht, um das Subsidiaritätsprinzip schleichend aus- zuhöhlen. Bislang sieht es zudem ganz danach aus, dass auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) die fortschreiten- de Dynamik im europäischen Gesund- heits- und Arzneimittelmarkt eher för- dern denn bremsen will. Bei entspre- chenden Fragestellungen beriefen sich die Luxemburger Richter in der Ver- gangenheit jedenfalls grundsätzlich auf die Freiheit von Waren, Personen und Dienstleistungen im europäischen Bin- nenmarkt.

Wegweisend für diese Tendenz in der europäischen Rechtsprechung ist das so genannte Kohll-Decker-Urteil vom 28.

April 1998. Der EuGH hatte damals den Grundstein dafür gelegt, ambulante Heilbehandlung im EU-Ausland zula- sten der Krankenkassen vornehmen las- sen zu können, und dies auch in mehre- ren Folgeurteilen bestätigt. Zwar haben die Richter dabei stets die Zuständig- keit der Mitgliedstaaten für ihre Ge- sundheitssysteme betont. Dennoch ist der Einfluss der Rechtssetzung der obersten europäischen Richter auf die Gestaltung der nationalen Gesundheits- politik nicht zu unterschätzen. Schließ- lich haben Kohll-Decker und die Folge- urteile zu der Änderung im Sozialge- setzbuch V geführt. Petra Spielberg

W

enn er tatsächlich so oft existent wäre, wie er zitiert wird, bräuchten wir uns keine Sorgen um den Ärztemangel zu machen: der Halbgott in Weiß.Als Sinnbild des selbstverliebten, souverän über das Schicksal ge- bietenden Arztes hat er jedoch ausgedient. In der Ära der allseits verfügbaren In- formation, im Zeitalter des Internets und EbM praktizieren wir eine transparen- te, allseits durchsichtige Medizin auf Augenhöhe mit dem mündigen Patienten;

allzeit bereit, sämtliche Details unseres ärztlichen Tuns durchleuchten zu lassen.

Ein Patient wünscht aus Sorge um eine koronare Herzerkrankung (KHK) ein Belastungs-EKG. So einfach geht das aber nicht, eine solche Frage muss epide- miologische und klinische Daten berücksichtigen. „Heißt das, dass ich die Bela- stung nicht machen brauche, wenn ich keine Beschwerden habe?“ So kann man das überhaupt nicht sagen. Fehlende Beschwerden sprechen nicht gegen eine schwere KHK, die mittels Belastungs-EKG entdeckt werden kann. Es geht schließlich um eine Erkrankung, die bekanntermaßen das Leben drastisch ver- kürzen kann, da sollte man sichergehen. „Du meine Güte! Dann mache ich doch besser jeden Monat ein Belastungs-EKG bei Ihnen!“ Um Gottes willen! Das wä- re nicht nur ein eklatanter Verstoß gegen das Notwendige und Zweckmäßige, lei- der ist diese Untersuchung auch nicht geeignet, einen definitiven Ausschluss die- ser Erkrankung zu führen. „Na gut, wenn die EKGs nicht so gut sind oder ihr

Budget ausbelasten, dann überweisen Sie mich doch zum Nuklearmediziner, die können doch auch die Durchblutung am Herzen messen!“ Damit ist aber auch kein definitiver Ausschluss einer KHK zu führen, die Signifikanz und Spezi- fität . . . „Sollte man nicht sicherheitshalber gleich einen Herzkatheter machen?“

Ich bin entrüstet. Bei einem asymptomatischen Patienten besteht kaum eine rechtfertigende Indikation, eine invasive Diagnostik zu veranlassen. „Verstan- den, dann kommt der Katheter also für mich gar nicht infrage?“ So habe ich das natürlich nicht gesagt. Im Fall einer prognostisch belasteten 3-Gefäß-Erkrankung oder Hauptstammstenose würde man auch bei fehlender korrelierender Sym- ptomatik . . ., mein Gegenüber zeigt Nerven. „Herr Doktor, Sie mit Ihrem Fach- wissen machen alles so kompliziert,ich weiß gar nicht mehr,was ich machen soll!“

Das ist aber ganz schlecht, weil er ein über 20-prozentiges Risiko hat, einen trans- muralen Myokardinfarkt zu erleiden, der mit dem Risiko tödlicher ventrikulärer Arrhythmien behaftet ist . . . „Aber wenn ich einen Infarkt kriege, wissen Sie we- nigstens, wo Sie mit mir dran sind!“ Keinesfalls, schließlich könnte ich immer noch keine definitive Aussage darüber treffen, inwieweit die medikamentöse In- tervention erhöhter LDL-Spiegel mit einem tatsächlichen prognostischen Ge- winn . . ., mein Gegenüber ist am Ende. „Ich kapituliere und höre auf zu rauchen;

und wir machen ein Belastungs-EKG“, und murmelt beim Hinausgehen: „Früher hat mir mein Doktor immer gesagt, wo es langgeht, aber heute muss man sich so komische Sachen anhören, die kein Mensch versteht . . . ich will meinen alten Doktor wiederhaben . . .“ DAS könnte ihm so passen. Wenn der mündige Patient mitreden will, muss er auch mitleiden. Nämlich mit mir. Schließlich muss ich so viele Fachzeitschriften lesen; wöchentlich mehrere Ki- lometer Texte durchforsten, die sich lesen wie Stacheldraht auf der Hornhaut . . ., und die Halbgötter in Weiß, die sich einfach nur mit den Patienten beschäftigten, die haben wir doch ausgemustert, nicht wahr? Dr. med. Thomas Böhmeke

Wissen

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