DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
N
orbert Blüms „Jahrhun- dertwerk" entwickelt sich allem Anschein nach zu ei- ner Fortsetzungsgeschich- te von wechselnden Drehbuchauto- ren. Kaum hat die erste Nachbesse- rung des Gesundheits-Reformgeset- zes (GRG) durch Bundesgesund- heitsministerin Gerda Hasselfeldt den Bundestag passiert, liegen schon neue, noch schärfere Vorschläge zur Kostendämpfung im Gesundheitswe- sen auf dem Tisch. Elf Punkte sollen das Gerüst einer zweiten GRG-No- velle bilden, eine Novelle, die es wie- der einmal vor allem für die Kassen- ärzteschaft in sich hätte. Zum Bei- spiel wäre die seit langem angestrebte reine Einzelleistungsvergütung damit endgültig pass6.Wer die Äußerungen der Bun- desgesundheitsministerin in den zu- rückliegenden Wochen und Mona- ten aufmerksam verfolgt hat, durfte schon mit einer nochmals verschärf- ten Gangart gegenüber den „Lei- stungserbringern" rechnen. Auch neue, nicht besonders schlüssige Vorgaben für die gemeinsame Selbstverwaltung von Arzten und Krankenkassen waren nach den bis- herigen Erfahrungen mit dem Ge- setzeswerk nicht von vornherein aus- zuschließen. Und doch präsentieren sich die noch als intern geltenden Eckpunkte für ein „Zweites Gesetz zur Änderung des SGB V" schlim- mer als erwartet.
Die „Lösungsvorschläge" der in- terfraktionellen Arbeitsgruppe der Regierungskoalition setzen bei den Festbeträgen für Arzneimittel an.
Offenbar hat sich nun auch die Ko- alition von der Illusion verabschie- det, daß nach den bisherigen Festbe- trags-Kriterien ein Marktanteil von um die 80 Prozent zu erfassen sein könnte. Die Bildung von Festbe- tragsgruppen für Arzneimittel mit vergleichbaren Wirkstoffen und Wir- kungen ist nach der Blümschen Strickart nicht zu schaffen. Hier strebt die Arbeitsgruppe eine Ver- einfachung der Gruppenbildung an, indem auf „Gemeinsamkeiten bei
den hauptsächlichen Indikationen oder Wirkungsweisen" abgehoben werden soll. Auch Festbeträge für therapeutische Solisten sollen künf- tig möglich sein: Festbetrag wäre in diesen Fällen der (Hersteller?-)Ab- gabepreis zu einem bestimmten Stichtag. Wo da die Einsparungen liegen sollen, bleibt wohl das Ge- heimnis der Politik, da ja zwangsläu- fig die Zuzahlung wegfallen müßte.
Zweiter Punkt: Festbeträge für Hilfsmittel. Nur 40 Prozent des fest- betragsfähigen Marktes seien bislang erfaßt (ausschließlich Seh- und Hör- hilfen), moniert die Arbeitsgruppe.
Um das Verfahren zu beschleunigen, erwägen die Koalitionspolitiker eine Fristfestsetzung für Festbeträge:
Was nicht bis zum 30. Juni 1992 ge- regelt ist, sollte dann entweder von den Spitzenverbänden der Kranken- kassen oder dem Ministerium selbst festgesetzt werden.
Punkt drei: Krankenversicher- tenkarte. An dieser Stelle greift die Arbeitsgruppe zum erstenmal (aber nicht zum letzten Mal) die Kassen- ärzte massiv an. Der Modellversuch zur Einführung der Karte sei am Wi- derstand der Ärzte in den Versuchs- regionen gescheitert, heißt es. Weil aber die „Karte eine Schlüsselfunkti- on bei der Umsetzung der Transpa- renzregelungen im Gesundheits-Re- formgesetz hat", dränge die Zeit.
Und schneller ginge es nach Auffas- sung der Politiker, wenn die Spitzen- verbände der Krankenkassen allein für die Gestaltung und Einführung der Karte zuständig wären. Die Kas- senärztliche Bundesvereinigung solle nur noch ein Anhörungsrecht haben, schlägt die Arbeitsgruppe vor. Unge-
achtet aller Schwierigkeiten in der Sache, lautet hier das Motto: Augen zu und durch — notfalls auch um den Preis, daß die gemeinsame Selbstver- waltung schmerzhafte Risse davon- trägt.
Vierter Punkt: Richtgrößen für Arznei- und Heilmittel. Obwohl die Kassenärztliche Bundesvereinigung mit den Ersatzkassen eine entspre- chende Vereinbarung abgeschlossen hat, behauptet die Arbeitsgruppe, solche Prüfvereinbarungen seien bis- her nicht zustande gekommen. Un- abhängig davon wollen die Politiker von einem Vorrang der Beratung vor dem Regreß nichts wissen. Zumin- dest pochen sie darauf, daß die Richtgrößenprüfung „Bestandteil der regulären Wirtschaftlichkeits- prüfung" sei und somit die Beratung der betroffenen Ärzte nur ein erster Schritt darstellen dürfe. Wenn bis Mitte nächsten Jahres derartige Ver- einbarungen immer noch ausstün- den, würde der Bundesgesundheits- minister dies per „Ersatzvornahme"
regeln.
Frontalangriff gegen Kassenärzte
Überhaupt habe die Selbstver- waltung im gesamten Bereich der Wirtschaftlichkeitsprüfungen zu we- nig getan: Sowohl bei der Prüfung nach Richtgrößen als auch bei den erweiterten Durchschnittsprüfungen und den Prüfungen nach Stichpro- ben. In all diesen Fällen solle künftig das Ministerium eingreifen und entsprechende Prüfvereinbarungen festlegen können. >
A TUELLE POLITIK
Gesundheits-Reformgesetz
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Neuer Arger durch olitische Planspiele
I Eckpunkte lassen Schlimmes erahnen
Die Koalition bereitet eine zweite Novelle mit massiven Eingriffen in die Selbstverwaltung vor
Dt. Ärztebl. 88, Heft 46, 14. November 1991 (21) A-3985
öffent- liche Apothe- ken 1990
Einwoh- ner je Apotheke
1989*) Bundesländer
Baden- Württemberg Bayern Berlin (West)
2 768 3 486 3 279 3 448 596 3 576 Bremen
Hamburg Hessen
Nordrhein
Saarland
Insgesamt
194 485 1 629
2 617
368
18 029
3 529 3 346 3 475
3 500
2 910
3 500 Niedersachsen 2 000 3 694
Westfalen-Lippe 2 244 3 590 Rheinland-Pfalz 1 125 3 335
Schleswig-Hol-
stein 724 3 624
Apothekendichte in den alten Bundesländern
Angaben jeweils Jahresende .) vorläufig
Hohe Apothekendichte
Einen Frontalangriff gegen die Kassenärzteschaft startet die Ar- beitsgruppe schließlich unter dem Stichwort „Ärztliche Vergütung/
Grundsatz der Beitragssatzstabili- tät". Zwar hätten die Kassenärzte in den vergangenen Jahren durch die Honorardeckelung diesem Grund- satz Rechnung getragen, doch die jetzt angestrebten Vergütungsverträ- ge würden die finanzielle Stabilisie- rung der Kassen gefährden. Fazit der Arbeitsgruppe: Eine reine Einzellei- stungsvergütung dürfe es nicht ge- ben, statt dessen müsse eine gesetzli- che Regelung her, wonach die Höhe der kassenärztlichen Gesamtvergü- tung in den Honorarverträgen zu be- grenzen sei. In anderen Worten: ein Honorardeckel per Gesetz. Damit wäre allein die ambulante ärztliche Versorgung für Beitragssatzstabilität verantwortlich und herangezogen, der stationäre Sektor bliebe prak- tisch — wie bisher schon — außen vor.
Tatsächlich befaßt sich die Ar- beitsgruppe eher beiläufig mit dem Krankenhaus. Die Wirtschaftlich- keitsprüfungen für Krankenhäuser seien vom Gesundheits-Reformge- setz zwar gefordert, aber bislang noch nicht angewandt worden.
Wahrscheinlich deshalb, wie die Ar- beitsgruppe mutmaßt, weil man sich über den Träger der dabei entste- henden Kosten nicht einigen konnte.
Die „Lösung" der Politiker: Schaf- fung einer gesetzlichen Regelung, wonach die „Kosten der Prüfung pflegesatzfähige Kosten sind". An- ders als bei den Kassenärzten, sollen hier im Endeffekt also die Kassen die Zeche zahlen.
Von der Möglichkeit der Kran- kenkassen, die Versorgungsverträge mit unwirtschaftlichen Krankenhäu- sern zu kündigen, ist nach Angaben der Arbeitsgruppe bisher in sieben Fällen Gebrauch gemacht worden.
Zwei betroffene Häuser sollten oh- nehin aus dem Krankenhaus-Be- darfsplan ausscheiden, bei allen wei- teren Kündigungsfällen hätten die für die endgültige Entscheidung zu- ständigen Länder nichts von sich hö- ren lassen. In Zukunft soll eine Kün- digung durch die Kassen wirksam werden, wenn das Land nicht binnen sechs Monaten widerspricht, schlägt die Arbeitsgruppe vor. Josef Maus
Die Privatisierung der rund 2000 ehemals staatlichen Apotheken in den östlichen Bundesländern geht schnell voran. Bereits 80 Prozent der dortigen Apotheken seien inzwi- schen in privaten Händen, hieß es auf dem diesjährigen Deutschen Apothekertag in Berlin. Mit den rund 18 000 westdeutschen Apothe- ken gebe es jetzt in der gesamten Bundesrepublik 20 000 öffentliche Apotheken. In den alten Bundeslän- dern sei die Apothekendichte — bei regionalen Unterschieden — mittler- weile auf durchschnittlich 3500 Ein- wohner pro Apotheke gewachsen.
Vor dem Hintergrund dieser aus Sicht der Bundesvereinigung Deut- scher Apothekerverbände (ABDA) erfreulichen Entwicklung bekräftigte der Apothekertag die Forderung, das Verbot von Fremd- und Mehrbe- sitz von Apotheken auch nach der Einführung des europäischen Bin-
nenmarktes beizubehalten. Nur so könne die Kompetenz und Unabhän- gigkeit des Berufsstandes als freier Heilberuf gewährleistet bleiben.
Im Vorfeld der Berliner Tagung nahm die ABDA auch Stellung zu den gestiegenen Ausgaben der ge- setzlichen Krankenversicherung für Arzneimittel. Der größte Teil des Anstiegs sei durch die Verordnung neuer, innovativer Arzneimittel be- dingt. Daneben läge eine weitere Ur- sache in der höheren Zahl von Mit- gliedern der gesetzlichen Kranken- kassen.
Verzicht auf die
„Negativliste"
Kritik übten die Apotheker an der Negativliste über unwirtschaftli- che Arzneimittel, die von Bundesge- sundheitsministerin Gerda Hassel- feldt (CSU) am 1. Oktober dieses Jahres im Bundesanzeiger veröffent- licht worden war. Die Hauptver- sammlung appellierte an Gerda Has- selfeldt, auf die Anwendung der Li- ste zu verzichten, die allein schon durch die laufende Aktualisierung hohe Kosten verursache. Auf Ableh- nung der Apotheker stoßen auch die Beschlüsse der Bundesregierung zur Selbstbeteiligung der Patienten an Arzneimitteln, die keinem Festbe- trag unterliegen.
Betroffen davon seien vor allem Patienten, die auf neue und innovati- ve Arzneimittel angewiesen seien und dafür eine hohe Selbstbeteili- gung tragen müßten. Anstelle der Marktspaltung in zuzahlungspflichti- ge und zuzahlungsfreie Medikamen- te fordern die Apotheker eine ein- heitliche Selbstbeteiligung für alle Arzneimittel. In diesem Zusammen- hang begrüßte die Hauptversamm- lung eine Initiative des ABDA-Vor- standes, der eine Ad-hoc-Kommissi- on einsetzen will, um konsensfähige Vorschläge zu erarbeiten. Am Ende soll ein Konzept stehen, daß Gleich- behandlung, Wettbewerbsneutrali- tät, soziale Verträglichkeit und Prak- tikabilität gewährleistet. JM A-3986 (22) Dt. Arztebl. 88, Heft 46, 14. November 1991