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Archiv "Gemeinsame Selbstverwaltung: Sündenbock der Politik" (02.04.2004)

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der wachsende Bedarf an notwendigen medizinischen und pflegerischen Lei- stungen nicht kompensiert werden. Vor dem Hintergrund der erodierenden Einnahmen der gesetzlichen Kranken- kassen müssen deshalb zusätzliche Finanzierungsmöglichkeiten eröffnet werden“, heißt es in der Resolution der Gesundheitsberufe.

Wie diese Finanzierungsmöglichkei- ten aussehen könnten, diskutierten die zum Bündnistag geladenen Vertreter der Bundestagsfraktionen. Dabei kün- digte die stellvertretende SPD-Frakti- onsvorsitzende Gudrun Schaich-Walch an, dass ihre Partei sich nun offiziell mit der Bürgerversicherung befassen wolle, auf die sich der Bochumer Parteitag be- reits im vorigen November eingeschwo- ren hatte. Eine Expertenrunde nehme in Kürze die Arbeit auf. Vorüberlegun- gen für einen Systemwechsel (wenn auch in konträrer Richtung) stellt man auch bei der FDP an. Deren gesund- heitspolitischer Sprecher, Dieter Tho- mae, kündigte ein Diskussionspapier an, in dem der Umstieg auf ein reines Prämienmodell skizziert werde. Vorlie- gen soll das Konzept beim Bundespar- teitag der Liberalen im Mai. Im Gegen- satz zu Bündnis 90/Die Grünen, die un- verändert hinter ihrer Forderung nach einer Bürgerversicherung stehen, lässt die Union eine klare Linie vermissen.

Während die CDU für ein Kopfpau- schalensystem in Anlehnung an die Vorschläge der Herzog-Kommission plädiert, prognostizierte der CSU-So- zialexperte Wolfgang Zöller, dass es we- der zur Bürgerversicherung noch zum Kopfpauschalensystem kommen wer- de. Die CSU unterbreite demnächst ei- gene Vorschläge, kündigte Zöller vor den Mitgliedern des Bündnisses an.

Diese äußerten sich nur verhalten zu den Reformüberlegungen der Politik.

Bundesärztekammer-Präsident Hoppe warnte allerdings davor, dass ein steuer- finanzierter Sozialausgleich die Gefahr einer „Gesundheitsversorgung nach Kassenlage“ berge. Steuerfinanzierte Systeme im Ausland hätten oft gezeigt, dass der Staat Gelder zuteile und nicht die Ansprüche der Patienten Priorität hätten. Die gute Gesundheitsversor- gung hierzulande müsse erhalten blei- ben – auch um den Gesundheitsstandort Deutschland zu sichern. Samir Rabbata

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A894 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 142. April 2004

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ordergründig herrscht Waffenstill- stand. Doch der „harte gesund- heitspolitische Winter“ steckt so- wohl der Politik als auch der gemeinsa- men Selbstverwaltung noch in den Kno- chen. Zwar lieferten sich die Vertreter des Bundesgesundheitsministeriums, der Kassenärztlichen Bundesvereini- gung (KBV), der Krankenkassen sowie der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses bei der KBV-Veran- staltung „Letzte Chance für die Selbst- verwaltung oder lebenslänglich auf Be- währung?“ am 25. März in Berlin keine scharfen Wortgefechte. Dennoch wollte eine konstruktive und Gewinn bringen- de Diskussion nicht so recht aufkom- men. Zu tief sitzen offenbar noch die Geschehnisse der vergangenen Wochen.

Angefangen hatte der Streit mit In- Kraft-Treten der Gesundheitsreform zum 1. Januar. Als aufgrund ungeklärter Details, wie die Definition von chro- nisch Kranken, die Fahrtkostenregelung oder die Ausnahmen bei der Praxisge- bühr, das Chaos ausbrach, hatte Bun- desgesundheitsministerin Ulla Schmidt schnell einen Schuldigen zur Hand: die gemeinsame Selbstverwaltung. Ihr schob sie die Verantwortung für den

verpatzten Start der Reform zu und for- derte gleichzeitig den Bundesausschuss medienwirkam zu Korrekturen auf.

Dabei hat die Politik bei der Verab- schiedung der Gesundheitsreform sehr wohl gewusst, dass das Gesetz soziale Härten mit sich bringt. Wohl von der Empörung der Patienten (und Wähler) überrascht, beauftragte Schmidt die Selbstverwaltung, für mehr Sozialver- träglichkeit zu sorgen. Geht dies nicht schnell genug, wird ihre Existenzbe- rechtigung infrage gestellt. Inzwischen zeigt sich das Bundesgesundheitsmini- sterium (BMGS) versöhnlicher: „Es wird auf ein Mischsystem hinauslau- fen“, sagte Dr. Klaus Theo Schröder, Staatsekretär im BMGS, in Berlin. „Es werden immer Rahmenbedingungen nötig sein, die sowohl durch den Staat als auch durch die gemeinsame Selbst- verwaltung sicherzustellen sind.“

Mitte Januar hatte dies noch ganz an- ders geklungen. Damals drohte die Mi- nisterin in einem Spiegel-Interview:

„Das ist jetzt die letzte Chance für die Selbstverwaltung.“ Der Bundesaus- schuss nutzte diese und klärte die noch offenen Fragen. Seitdem herrscht vor- läufig Ruhe. Doch ob die von Dauer sein wird, ist fraglich. Spätestens wenn klar wird, dass die von den Reformkoalitionären er- hofften Einsparziele mit dem GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) nicht erreicht wer- den können, droht weiteres Ungemach.

„Der neu gegründete Ge- meinsame Bundesausschuss wird künftig verstärkt im Licht der Öffentlichkeit ste- hen, weil er vom Gesetzgeber ,politisiert‘ wurde“, erklärte der Vorsitzende des Bundes- ausschusses, Dr. jur. Rainer

Foto:Georg Lopata

Gemeinsame Selbstverwaltung

Sündenbock der Politik

Das Fachwissen liegt bei der gemeinsamen Selbstverwaltung, doch ihre Existenz wird nicht zum letzten Mal infrage gestellt worden sein.

Vorerst befriedet: Dr. med. Richter-Reichhelm und BMGS- Staatssekreträr Dr. Schröder

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Hess. Das Gremium werde die medizi- nisch-ärztliche Versorgung, soweit die Gesetzliche Krankenversicherung invol- viert ist, sehr viel mehr beeinflussen als seine Vorgänger. Zwar hatten auch die bisherigen Bundesausschüsse zuneh- mend ins Leistungsrecht eingreifen müs- sen, wie etwa bei Entscheidungen zu Akupunktur oder Viagra. Nun hat der Gesetzgeber aber den Ausschuss mit ei- ner generellen Kompetenz zum Aus- schluss oder zu Einschränkungen von Leistungen ausgestattet. Diese musste der Ausschuss in den Wochen und Mo- naten nach dem Start der Gesundheits- reform unter Beweis stellen. „Was wir zu entscheiden hatten, war reines Lei- stungsrecht“, betonte Hess mit Blick auf die Regelungen zur Fahrtkostenerstat- tung, Chronikerdefinition und zur Er- stattungsfähigkeit von OTC-Präparaten.

Damit habe das Gremium die „Schul- aufgaben der Politik“ erledigt und kön- ne sich nun den zentralen Aufgaben, wie der Sicherstellung einer sektorübergrei- fenden Versorgungsqualität, widmen, meinte Hess. Sein Fazit: „Die Selbstver- waltung ist so stark wie nie zuvor.“

Dass die laut gewordene Drohung, die Selbstverwaltung kurzerhand abzu- schaffen, derzeit nicht umsetzbar ist, dürfte auch Ministerin Schmidt klar sein. Dagegen spricht schon, dass die Union ein solches Unterfangen blockiert hätte. Nach Einschätzung des Hauptgeschäftsführers der KBV, Dr.

med. Andreas Köhler, könnten aller- dings die Äußerungen auch dahinge- hend interpretiert werden, dass inner- halb der Selbstverwaltung ein Partner darauf vorbereitet werden soll, den an- deren zu ersetzen. „Dabei fühle ich mich als der, der ersetzt werden soll.“

Gelassener konnten insofern die Krankenkassen reagieren. Sie standen zudem bisher etwas abseits der Haupt- schusslinie. „Wir sind die, die gerne tot- gesagt werden, dann aber besonders lange leben“, sagte Dr. Hans-Jürgen Ahrens. Der Vorsitzende des AOK- Bundesverbandes versteht die „End- zeitstimmung“ nicht. Eine politische Veränderung der Strukturen ist nach seiner Ansicht nicht nötig.

Auch wenn Schröder eine solche In- tention des Ministeriums jetzt abstreitet, ganz von der Hand zu weisen sind solche Überlegungen angesichts des ursprüng-

lichen Entwurfs zur Gesundheitsreform nicht. Denn dort sollte in der Tat die ärztliche Selbstverwaltung stark be- schnitten werden. Lebenslang sei ein

„Nachjustieren“ erforderlich, lebens- lang auf Bewährung sei die Selbstver- waltung jedoch nicht, betonte der Staatssekretär. Eine vage Aussage. „En- de des Jahres geht das Schwarze-Peter- Spiel von vorne los“, prophezeit bereits jetzt Dr. med. Leonhard Hansen, der

Zweite KBV-Vorsitzende. Dann näm- lich werde man beispielsweise bei den Arzneimitteln merken, dass die Ein- sparziele des GMG nicht erreicht wor- den sind.Auf der Suche nach einem Sün- denbock werde es dann wieder heißen:

„Die Selbstverwaltung ist schuld.“ Wen anders sollte die Politik auch verant- wortlich machen? Schließlich haben fast alle Fraktionen für das GMG votiert.

Dr. med. Eva A. Richter-Kuhlmann, Samir Rabbata P O L I T I K

Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 142. April 2004 AA895

DÄ:In den letzten Wochen stand die gemeinsame Selbst- verwaltung stark unter Be- schuss. Einige Politiker und Ökonomen plädierten gar für deren Auflösung. Ist eine Selbstverwaltung unter den derzeitigen Bedingungen über- haupt noch zeitgemäß?

Richter-Reichhelm: Ich sehe keine Alternative zur ge- meinsamen Selbstverwaltung, welche die komplexen Aufga- ben besser, schneller oder mit höherer Akzeptanz erfüllen könnte. Sie ist leistungsfähig, das hat sie gerade jetzt auch in sehr schwierigen Zeiten und unter hohem Druck bewiesen.

Sie muss daher gefördert wer- den. Um es deutlich zu sagen:

Nicht die Selbstverwaltung ist überflüssig, sondern die Gän- gelung der Selbstverwaltung durch eine Regierung, die von ihrer eigenen Verantwortung ablenken will.

DÄ:Könnte eine Fremdver- waltung denn überhaupt eine Alternative sein?

Richter-Reichhelm:Nein, denn eine Fremdverwaltung kann die Aufgaben nicht so gut erfüllen wie die Selbstver- waltung. Niemand weiß über die Probleme und die Situati- on der Vertragsärzte und Psychotherapeuten so gut Be- scheid wie deren gewählte Ver- treter, die ja selbst Ärzte oder Psychotherapeuten sind. Das wird nach meiner Einschät- zung auch nach der Organisa- tionsreform mit hauptamtli- chen Vorständen so bleiben.

Die Akzeptanz einer Fremdver-

waltung durch Vertragsärzte und Psychotherapeuten wäre mit Sicherheit noch viel proble- matischer, als die Akzeptanz ei- ner Kassenärztlichen Vereini- gung heute bereits ist. Mein Fazit lautet: Das Ersetzen der Selbstverwaltung durch eine Fremdverwaltung würde keine Probleme lösen, sondern neue schaffen.

DÄ: Der gemeinsamen Selbstverwaltung wird und wurde oft vorgeworfen, nicht effizient zu arbeiten und Ent- scheidungen zu verschleppen.

Ist diese Kritik berechtigt?

Richter-Reichhelm: Die- ser Vorwurf ist falsch. Denn je- de staatliche Institution ist noch viel stärker dem öffentli- chen Druck und dem Druck der Wirtschaft ausgesetzt, als dies der Gemeinsame Bundesaus- schuss ist. Das bestätigen die Erfahrungen mit NICE aus Eng- land. Dort dauern die Entschei- dungen durch das staatliche Institut noch länger und wer- den entweder von Sparkom- missaren oder von Industrie und Patienten angegriffen. Si- cher gab es in der Vergangen- heit auch bei uns Probleme. Es braucht eben Zeit, um qualifi-

zierte Entscheidungen zu tref- fen, die rechtssicher sein müs- sen und die Belange der Pati- enten ebenso angemessen berücksichtigen wie die Finan- zierbarkeit. Dafür hat schon der Bundesausschuss alter Prä- gung fundierte wissenschaft- liche Grundlagen erarbeitet.

Mit dem neuen Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit als Stiftung hat der neue Ge- meinsame Bundesausschuss dazu noch bessere Vorausset- zungen als der alte. Die Ent- scheidungen werden transpa- rent, Begründungen auch für Patienten verständlich veröf- fentlicht.

DÄ:Das Prinzip der gemein- samen Selbstverwaltung ist ein- fach: Der Staat setzt die Rah- menbedingungen, hält sich aber aus der Regelung der Details heraus. Hat der Staat sich in letzter Zeit zu viel eingemischt?

Wie viel staatliche Einmischung halten Sie für legitim?

Richter-Reichhelm: Der- zeit müssen wir als Mitglieder der gemeinsamen Selbstver- waltung ständig erleben, dass sich die Regierung in die kon- krete Ausgestaltung von De- tails einmischt. Damit aber wird der Zweck der Selbstver- waltung unterminiert. Der Grund dafür ist, dass verant- wortliche Politiker Angst vor der eigenen Courage bekom- men haben, konkret vor den harten Rahmenvorgaben des von ihnen beschlossenen GKV- Modernisierungsgesetzes. Sie nutzen nun die gemeinsame Selbstverwaltung als Sünden- bock, um die Härten des Geset- zes für Patienten zu kaschieren.

Nachgefragt

Dr. med. Manfred Richter-Reich- helm, Vorsitzender der KBV

Foto:BILDSCHÖN

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