MEDIZIN KONGRESSBERICHT
Aufgaben und Zukunft
von Anwendungsbeobachtungen
E
in Symposium der Arbeitsge- meinschaft für Neuropsycho- pharmakologie und Pharma- kopsychiatrie (AGNP) in Zu- sammenarbeit mit der Psychiatri- schen Klinik und Poliklinik der FU Berlin fand am 28. und 29. September 1994 zum Thema „Anwendungsbeob- achtungen in der Psychopharmako- therapie" statt.Von der AGNP wurden in die- sem Jahr Empfehlungen zur Durch- führung von Anwendungsbeobach- tungen (AWB) erarbeitet (1), die sich keineswegs nur auf das Gebiet der Psychiatrie und Neurologie beschrän- ken.
Auf deren Hintergrund sollten einschlägige Studien aus den letzten Jahren in der Fachöffentlichkeit vor- gestellt und diskutiert werden. Dies erschien wünschenswert, da derzeit über Auftrag, Form und Rahmenbe- dingungen von AWB kein allgemein akzeptierter Konsens vorliegt.
Deshalb endete die Tagung in ei- ner Podiumsdiskussion mit Vertre- tern der Deutschen Ärzteschaft, des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinalprodukte, der Kassenärztli- chen Bundesvereinigung, des „Ar- beitskreises Medizinischer Ethik- kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland", der Pharmazeutischen Industrie und der Hochschulen.
Während des Kongresses wurde ein Konsens dahingehend deutlich, daß wissenschaftliche Untersuchun- gen der Anwendung von Arzneimit- teln unter Routinebedingungen medi- zinisch und gesundheitspolitisch von großer Bedeutung sind.
Die Art der Anwendung von Arzneimitteln in Klinik und Praxis (Indikationsstellung, Dosierung, Risi- koüberwachung und vieles andere) trägt wesentlich zum tatsächlichen Nutzen-Risikoverhältnis einer Thera- pie bei.
Kenntnisse über die Anwen- dungsrisiken oder -besonderheiten
bestimmter Arzneimittel sind daher wichtig unter Gesichtspunkten der Arzneimittelsicherheit, der ärztlichen Fortbildung oder der Produkthaftung des Herstellers.
Die Untersuchung von Arznei- mitteln unter Routineanwendungsbe- dingungen stellt die sogenannte „Pha- se I bis V" des Arzneimittel-Evaluati- ons-Prozesses dar.
Es gibt in diesem Bereich sehr unterschiedliche Forschungsmetho- den (Einzelbeobachtungen, Daten- bankauswertungen, epidemiologische Erhebungen, experimentelle Studien und anderes), wovon die AWB eine Sonderform ist, die besonders in Deutschland verbreitet ist.
Struktur der Anwendungs- beobachtungen (AWB)
Es handelt sich dabei um typi- scherweise, aber nicht notwendiger- weise vom Arzneimittelhersteller durchgeführte verordnungsepidemio- logische Untersuchungen.
Es werden prospektive und pati- entenbezogene Daten zur Art des Pa- tienten und der Erkrankung, zu Be- gleiterkrankungen und -therapien und zur Behandlungsdurchführung und dem Verlauf unter naturalisti- schen Bedingungen erhoben.
Die Beiträge beim Kongreß der AGNP zeigten, daß eine Anwen- dungsbeobachtung, wenn sie verwert- bare Informationen erbringen soll, wissenschaftliche Mindestanforde- rungen erfüllen muß.
Die Ergebnisse von AWB sind nicht geeignet, Ansprüche auf Indika- tionserweiterungen bei der zuständi- gen Behörde zu rechtfertigen.
Ärzte, die sich an AWB beteili- gen, sollten sich weder zur Mehrver- ordnung des untersuchten Präparates noch zur Anwendung bei bislang nicht zugelassenen Indikationen drängen lassen.
AWB sind in der Vergangenheit gelegentlich mit unzureichender Me- thodik durchgeführt worden, wobei weniger ein Erkenntnisgewinn als vielmehr Marketinginteressen im Vordergrund stehen.
Es bestand unter den Kongreß- teilnehmern Einvernehmen, daß die Sammlung von Daten über viele Pati- enten und die von den teilnehmenden Ärzten durchgeführte Behandlung ohne wissenschaftlich und juristisch korrektes Vorgehen erhebliche Pro- bleme aufwerfen kann.
Auch wenn arzneimittelrechtlich die Einschaltung einer Ethikkommis- sion nicht vorgesehen ist, so erscheint es dennoch zum Beispiel aus Daten- schutzgründen sinnvoll, entsprechen- den Rat einzuholen.
Speziell von den Teilnehmern der Podiumsdiskussion wurde ein- heitlich zum Ausdruck gebracht, daß der Erforschung der Therapie unter Routinebedingungen und speziell der qualitativen Verbesserung von An- wendungsbeobachtungen in Zukunft größere Bedeutung und Aufmerk- samkeit zukommen muß.
Literatur:
1. Linden M, Baier D, Beitinger H, Kohnen R, Osterheider M, Philipp M, Reimetz PE, Schaaf B, Weber HH: Leitlinien zur Durch- führung von Anwendungsbeobachtungen in der Psychopharmakotherapie. Der Ner- venarzt 1994: 65; 638-644
Prof. Dr. med.
Michael Linden Prof. Dr. med.
Bruno Müller-Oerlinghausen Psychiatrische Klinik
und Poliklinik der FU Eschenallee 3
14050 Berlin A-1450 (54) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 20, 19. Mai 1995