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Archiv "Politik und Aids: Statt Lippenbekenntnissen werden Taten gefordert" (26.07.2002)

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ährend die Terroranschläge vom 11. September unter Poli- tikern eine Welle der Solida- rität ausgelöst haben und zur Folge hat- ten, dass für Sicherheitsmaßnahmen unverzüglich Milliarden Dollar bereit- gestellt wurden, bleiben adäquate Re- aktionen auf die dramatische Entwick- lung der Infektionskrankheit Aids nach wie vor aus. „Dadurch werden die be- troffenen Länder eine sozio-ökonomi- sche Destabilisierung unvorstellbaren Ausmaßes erfahren, die einen erhebli- chen Einfluss auf die Weltpolitik haben wird“, fasste UNAIDS-Präsident Dr.

Peter Piot die geballte Kritik der Dele- gierten der 14. Welt-Aids-Konferenz in Barcelona zusammen.

Grund zur Sorge bereiten die neue- sten epidemiologischen Zahlen: Ob- wohl weltweit bereits 40 Millionen Menschen mit dem HI-Virus infiziert sind – die Hälfte davon sind Frauen –, befindet sich die Aids-Epidemie erst in den Anfängen. „Bis zum Jahr 2020 wer- den 68 Millionen Menschen an Aids verstorben sein. Und das ist eine eher konservative Schätzung“, erklärte Dr.

Bernhard Schwartländer, Direktor der Aids-Abteilung der WHO. In sieben Ländern südlich der Sahara seien im Mittel bereits 20 Prozent der Bevöl- kerung HIV-infiziert. „In einigen Städ- ten liegt die Infektionsrate damit zwi- schen 30 und 50 Prozent. Wenn Sie mir diese Daten vor zehn Jahren präsen- tiert hätten, dann hätte ich Sie für verrückt gehalten“, betonte Schwart- länder.

Mit besonderer Sorge beobachtet die WHO die rasante Zunahme der Infekti- onszahlen in den bevölkerungsreichen

Staaten China, Indien und Indonesien, aber auch in Osteuropa. Dass Südame- rika dem Schicksal anderer Entwick- lungsländer bis heute entgangen ist, sei auf seine konsequente Gesundheitspo- litik zurückzuführen, hieß es in Barcelo- na. In Brasilien produzieren staatliche

Institute Generika, die kostenlos an die 115 000 behandlungsbedürftigen Pati- enten ausgegeben werden. Dies hat nicht nur dazu beigetragen, dass die Zahl der Aidstoten seit 1997 halbiert werden konnte; auch das brasilianische Gesundheitssystem wurde entlastet.

Global betrachtet ist das Engage- ment der Industrienationen zur welt- weiten Bekämpfung von Aids nach wie vor beschämend. Nach Berechnungen der UNGASS (UN-General Assembly Special Session on AIDS) sind zehn Milliarden Dollar notwendig, um die weltweit 5,7 Millionen behandlungsbe-

dürftigen HIV-Infizierten zu therapie- ren. Das Geld dafür soll in erster Linie von den G-7-Staaten kommen, die bei ihrem letzten Gipfel den „Weltfonds zur Bekämpfung von Aids, Malaria und Tuberkulose“ gegründet haben. Bisher ist es allerdings eher bei Lippenbe- kenntnissen geblieben: Es sind gerade mal 800 Millionen Dollar eingezahlt und zwei Milliarden fest zugesagt worden.

Deutschland beteiligte sich am globalen Fonds mit nur 26,5 Millionen Dollar.

Laut Garca Machel (Südafrika) ha- ben nur vier Staaten ihr Versprechen gehalten und 0,7 Prozent ihres Brutto- sozialproduktes gespendet – nämlich Schweden, Norwegen, Dänemark und Holland. „Die USA haben zwar zahlen- mäßig den größten Beitrag geleistet, doch ihre Pflicht noch lange nicht er- füllt“, meinte die Südafrikanerin. In Barcelona wurden die säumigen Zahler lautstark an ihre Versprechen erinnert.

So wurde der US-Gesundheitsminister Tommy Thompson bei seinem Vortrag 30 Minuten lang ausgebuht und der Stand der Europäischen Union von der Aktivisten-Gruppe „Act-up“ attackiert.

Die HIV-Infektion macht auch die mühsam erzielten Fortschritte der Ent- wicklungspolitik zunichte. Bis zum En- de dieses Jahrzehnts wird Aids die durchschnittliche Lebenserwartung in elf Staaten Afrikas unter 40 Jahre sen- ken; das entspricht dem Niveau des 19.

Jahrhunderts. Der volkswirtschaftliche Schaden ist derzeit kaum abzusehen.

Da die meisten Aidskranken zwischen 20 und 40 Jahre alt sind, gehen der Wirt- schaft in den betroffenen Ländern Ar- beitskräfte in ihrer produktivsten Le- bensphase verloren. So hat die Epide- mie bereits ganze Berufszweige aus- gelöscht.

Die Folgen sind in einigen Ländern Afrikas bereits spürbar: Obstplantagen veröden, Werkstätten stehen leer, und ganze Dörfer sind verlassen. Auch in den Städten kann das soziale System – wenn überhaupt – nur noch mit Mühe aufrechterhalten werden, da viele Leh- rer, Ärzte, Pflegepersonal, Soldaten und Polizisten bereits an den Folgen der In- fektionskrankheit verstorben sind. „In einigen afrikanischen Ländern wird die Arbeitskraft durch Aids bis zum Jahr 2020 um 25 Prozent vermindert sein“, so Schwartländer, der immer wieder be- P O L I T I K

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A2012 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 99½½½½Heft 30½½½½26. Juli 2002

Politik und Aids

Statt Lippenbekenntnissen werden Taten gefordert

Die Welt-Aids-Konferenz in Barcelona verfolgte das Ziel,

medizinisches Wissen über Prävention und Therapie

der HIV-Infektion endlich in Engagement und Aktionen

für die Entwicklungsländer umzusetzen.

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tonte, dass mit umfassender und geziel- ter Vorbeugung bis 2010 rund 30 Millio- nen HIV-Infektionen verhindert wer- den. „Es gibt viele wirksame und ko- stengünstige präventive Strategien, wir müssen sie nur einsetzen“, bekräftigte auch Dr. Helen Gayle, die Vorsitzende der Bill and Melinda Gates Foundation.

Als Beispiele nannte Gayle die kosten- lose Verteilung von Kondomen und Be- handlung von Geschlechtskrankheiten, die lediglich einen US-Dollar pro ge- wonnenes Lebensjahr koste.

Neue präventive Methoden, die der- zeit in Interventionsstudien geprüft werden, sind die Zirkumzision und die Behandlung von Infektionen mit Her- pes-simplex-Viren Typ 2. „Diese Maß- nahmen verminderten in epidemiologi- schen Beobachtungen das Risiko einer HIV-Übertragung um 50 bis 70 Pro- zent“, so Gayle. Priorität im Rahmen der Prävention habe auch die Vermin- derung der Mutter-Kind-Übertragung.

Bei langfristiger Einnahme von antire- troviralen Medikamenten kann das Ri- siko der HIV-Infektion des Kindes mitt- lerweile auf ein Prozent gesenkt wer- den. Für die meisten Frauen sind diese Medikamente jedoch zu teuer. Einen Kompromiss in dieser Situation stellt die kostengünstigere, verkürzte Gabe des Wirkstoffs Nevirapin dar (unter fünf Dollar pro Schwangere), wodurch die Übertragungswahrscheinlichkeit auf un- ter zehn Prozent verringert wird.

Doch das Thema Aids wird in vielen Ländern nach wie vor in Familien und in der Öffentlichkeit tabuisiert, sodass vor allem Heranwachsende nur unzu- reichende Kenntnisse über die Folgen einer HIV-Infektion besitzen.Aufgrund der massiven Benachteiligung von Mäd- chen beim Schulbesuch und beim Zu- gang zu Informationen ist das Wis- sensdefizit bei jungen Frauen größer als bei Jungen. Mehr als zwei Drittel al- ler Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren südlich der Sahara haben völlig falsche Vorstellungen über Aids.

So sind beispielsweise im Tschad und in Nigeria mehr als 80 Prozent der Mädchen der Ansicht, dass ein gesund aussehender Mensch nicht HIV-infi- ziert sein kann. 95 Prozent der nigeria- nischen Mädchen glauben, dass das An- steckungsrisiko für sie minimal oder nicht vorhanden ist bei einer Infekti-

onsrate der Gesamtbevölkerung von rund 20 Prozent. In Somalia wissen 99 Prozent der Mädchen nicht, wie man sich vor Aids schützen kann, fast drei Viertel haben noch nie von der Krank- heit gehört.

Am größten ist das Aids-Risiko für Mädchen aus armen Familien, die von älteren Männern gegen „Vergünsti- gungen“ und „Belohnungen“ zu sexuel- ler Gefügigkeit genötigt werden. An- dere Männer suchen gezielt nach jun- gen Mädchen, weil sie glauben, dass das Infektionsrisiko bei ihnen gerin- ger ist. Viele der ausgebeuteten Mäd- chen landen später in der Prostitu- tion. Auch eine Heirat bedeutet für Frauen keinen Schutz vor Aids, da die meisten Ehemänner auch Bordelle be- suchen.

Die Weichen sind gestellt

Wegen kultureller Unterschiede reichen Präventionsmaßnahmen nach Meinung der Experten nicht aus, um die HIV-Pan- demie zu stoppen. Was darunter zu ver- stehen ist, wurde von Wissenschaftlern und Aktivisten in Barcelona klar formu- liert: antiretrovirale Therapie für alle Betroffenen. Sie begründen ihre Forde- rung damit, dass die Möglichkeit der Therapie die Bereitschaft der Bevölke- rung steigere, sich auf HIV testen zu las- sen; letztendlich werde die geringere Vi- ruslast innerhalb einer Population auch die Neuinfektionsrate senken.

Die Weichen für entsprechende Be- handlungsprogramme sind schon ge-

stellt. Zahlreiche, qualitative gute Ar- beiten aus den am stärksten be- troffenen Ländern (Südafrika, Malawi, Kenia, Kamerun, Kambodscha, Thai- land und Guatemala) belegen, dass es trotz Mängeln in der medizinischen In- frastruktur auch in Entwicklungslän- dern möglich ist, Aidskranke konti- nuierlich mit Medikamenten zu ver- sorgen. Nach Untersuchungen der Or- ganisation „Ärzte ohne Grenzen“ ist es bei einem Beobachtungszeitraum von sechs Monaten in drei Projek- ten gelungen, die Viruslast bei 82 Pro- zent der therapierten Personen un- ter die Nachweisgrenze zu senken.

Ein globales Netzwerk zur Resistenz- überwachung ist ebenfalls bereits ge- knüpft.

Die gelungenen Pilotprojekte er- höhen auch den Druck auf die Pharma- konzerne. In den letzten Jahren haben die Hersteller antiretroviraler Medika- mente zahlreiche Programme auf den Weg gebracht, mit denen ihre Präparate deutlich billiger an Patienten der Drit- ten Welt abgegeben werden können.

Dennoch müssen sich die Firmen dem Vorwurf stellen, dass die gesenkten Preise immer noch höher liegen als die Preise für Generika. Außerdem blockierten die Firmen die Bestrebung einiger Länder, selbst Generika herstel- len zu können.

„Die Zeit der Entschuldigungen für Versäumnisse ist endgültig vorbei“, so der Tenor des Kongresses. „Wir müssen jetzt handeln und die Erkenntnisse der vergangenen Jahre umsetzen.“

Dr. med. Vera Zylka-Menhorn/RV P O L I T I K

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 99½½½½Heft 30½½½½26. Juli 2002 AA2013

Politisch korrekte Bühne

Dass die Welt-Aids-Konferenzen nicht nur medizinische Kongresse, sondern auch politische Veranstaltun- gen sind, erkennt man schon an der Struktur. Programm und Sitzungen werden paritätisch von Wissen- schaftlern und Aktivisten geplant und geleitet. Ein Ziel hat die Konferenz in Barcelona zumindest erreicht.

Die medienwirksame Veranstaltung wurde von reichen Philantropen und Politikern als Plattform für poli- tisch korrekte Auftritte in der Weltöffentlichkeit genutzt. In Barcelona vertreten waren beispielsweise die Kaiser Familiy Foundation (sie sponserte eine tägliche Online-Berichterstattung), das Open Society Institute (Träger des International Harm Reduction Development Program’s) des amerikanischen Wagnis- Finanziers George Sorros sowie die Bill and Melinda Gates Foundation. Bill Clinton und Bill Gates spra- chen auf der Abschlussveranstaltung, und die deutsche Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul gab am Rande der Tagung eine kleine Pressekonferenz. Die Auftritte der Politiker trieben mitunter auch seltsame Blüten. So „outete“ sich der frisch gebackene indische Gesundheitsminister Sharugan Sinha als national bekannter Filmstar, der zwar seit 30 Jahren das indische Publikum auf der Leinwand ver- zaubert, aber völlig inkompetent im Thema HIV ist. Aids sei für ihn kein Wahlkampfthema, sagte er in Barcelona, aber er würde seine gute Beziehungen zur indischen Filmindustrie einsetzen, um die

Aufklärung voranzutreiben. Dr. med. Ramona Volkert

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