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Archiv "Brasiliens Aids-Politik: Auf Konfrontationskurs" (04.05.2001)

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T H E M E N D E R Z E I T

A

A1166 Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 98½½Heft 18½½4. Mai 2001

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ei Ärzten und internationalen Hilfs- organisationen gilt Brasiliens Aids- Programm als vorbildlich für Ent- wicklungsländer. Es hat das Land aber auf Konfrontationskurs mit der Pharma- industrie und der US-Regierung ge- bracht. Im Brennpunkt des Streits steht Brasiliens Praxis, patentgeschützte HIV/Aids- Medikamente der multinationa- len Konzerne in Regierungsla- bors zu „klonen“ und unentgelt- lich an die Betroffenen zu ver- teilen. Dieses Vorgehen hat dem Gesundheitsministerium zufol- ge dazu beigetragen, dass sich die Zahl der Aids-Toten seit 1997 halbiert hat.

„Ich wäre schon tot ohne die kostenfreien Arzneien. Ich habe kein Geld für solche Medika- mente“, sagt die 39-jährige So- nia Maria Fonseca da Silva, die erst erfuhr, dass sie HIV-positiv ist, als ihr Ehemann vor acht Jahren an Aids starb. Sonia, die mit ihrer Tochter am Stadtrand von Rio de Janeiro lebt, hatte 1997 Aids in einem fortgeschrit- tenen Stadium und musste mehrmals we- gen Tuberkulose und Toxoplasmose des Zentralnervensystems behandelt wer- den, sagt José Henrique da Silva Pilotto, Chefarzt im Aids-Krankenhaus in Nova Iguaçu und Leiter der HIV-Forschung in Rios renommiertem Oswaldo Cruz Insti- tut, in dem Sonia betreut wird. Heute führt sie ein normales Leben, nachdem eine Kombinationstherapie die Viruslast in ihrem Blut heruntergedrückt hat und ihr Immunsystem sich langsam erholt.

„Menschen wie Sonia sind der beste Beweis dafür, dass das Programm der Regierung funktioniert“, sagt Pilotto.

„Ohne die kostenfreien Arzneien und weitreichende Aufklärungskampagnen hätten wir bereits eine Situation wie in

Afrika.“ Brasiliens HIV-Infektionsrate von 0,57 Prozent liegt inzwischen niedri- ger als die der USA mit 0,61 Prozent, aber höher als in Deutschland mit einer Rate von 0,1 Prozent. Die Regierung schätzt, dass 537 000 der 170 Millionen

Brasilianer HIV-positiv sind. Das sind weit weniger als die 1,2 Millionen, die die Weltbank noch vor sieben Jahren für das Jahr 2000 prognostiziert hatte. Ende der Achtzigerjahre wurde die Situation in Brasilien noch mit der Afrikas vergli- chen, wo die Epidemie heute pandemi- sche Ausmaße annimmt. So ist in Süd- afrika bereits jeder fünfte Erwachsene HIV-infiziert. Da die erfolgreiche Ein- dämmung der Seuche, neben aggressi- ven Präventionsmaßnahmen von Regie- rung und Aids-Hilfegruppen, vor allem der kostenlosen Verteilung von Nachah- merpräparaten zu verdanken ist, werfen internationale Pharmakonzerne Brasili- en eine Verletzung von Patentrechten

vor. Die US-amerikanische Firma Merck & Co. gab zwar Forderungen Brasiliens nach Preissenkungen für Aids-Medikamente nach, drohte aber mit einer Klage gegen das Regierungsla- bor Far-Manguinhos in Rio, das Aids- Generika produziert. Ende März kündigte Merck & Co.

an, den Preis für den Wirkstoff Efavirenz um 59 Prozent zu senken. Die Arzneikäufe der brasilianischen Regierung wer- den damit um 40 Millionen US- Dollar billiger.

Das Gesundheitsministeri- um feierte das Angebot der Fir- ma als „Sieg für das Land“ und kündigte an, es werde vor- übergehend davon absehen, ei- ne Zwangslizenz für die generi- sche Herstellung des Präparats zu erteilen, aber weiterhin Tests erlauben, die bis Juli zu einem Generikum führen könnten. Merck & Co. hatte zuvor beim Far-Manguinhos- Labor bemängelt, der Ankauf von Efavirenz in Indien stehe nicht im Einklang mit Brasili- ens Patentgesetzen. „Für uns sind Paten- te absolut notwendig“, warnte José Ta- deu Alves, Präsident der Konzerntoch- ter in Brasilien. „Die Nichtachtung von Patenten hindert innovative Firmen dar- an, in die Forschung zu investieren, und hält damit Patienten neue Arzneimittel vor.“

Dennoch setzt Brasilien seinen Kurs fort. Aus dem Gesundheitsministerium verlautete, man lasse die Tests für eine Kopie des Protease-Hemmers Nelfinavir von Roche weiterlaufen, wenn die Firma ihre Preise nicht senke. Das Arzneimittel verschlingt derzeit 85 Millionen US- Dollar jährlich, mehr als ein Viertel der Gelder, die Brasilien für HIV/Aids-Me- dikamente zur Verfügung stehen.

Auf Konfrontationskurs

Mit radikalen Maßnahmen hat Brasilien die Sterberate bei den Aids-Kranken gesenkt.

Das Land hat damit jedoch die Pharmaindustrie und die USA gegen sich aufgebracht.

Brasiliens Aids-Politik

Eine HIV-Patientin nimmt den Medikamenten- Cocktail ein.

Fotos: Anja Kessler

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Die Gegenreaktion bleibt nicht aus.

Nach Klagen der Pharmaindustrie lässt die US-Regierung inzwischen durch die Welthandelsorganisation (WTO) prü- fen, ob Teile des brasilianischen Patent- rechts internationale Handelsabkom- men verletzten. Brasilien hatte zuvor an- gekündigt, es könne noch in diesem Jahr das Know-how für die Herstellung und Verteilung von HIV/Aids-Generika an Drittländer weitergeben. Bisher hat Brasilien nur „ähnliche“ Arzneimittel an Patienten verteilt. Das sind Kopien des Original-Präparats, die aber noch keine Bioäquivalenz-Tests bestanden haben, um als echte Generika zu gelten. Der Unterschied ist wichtig, da nur Letztere exportiert werden dürfen.

Das Gesundheitsministerium vertei- digt sein Vorgehen mit dem Argument, die Arzneimittel, die heute verteilt wer- den, seien patentiert worden, bevor 1997 Brasiliens Patentgesetz in Kraft trat. Für später patentierte Medikamente könne das Land aber Zwangslizenzen erteilen, weil es sich auf einen „nationalen Not- stand“ oder den „wirtschaftlichen Miss- brauch von Patentrechten“ berufen kön- ne. Die USA teilen diese Ansicht nicht.

Sie werfen Brasilien vor, das internatio- nale „Tripps-Agreement“ zum Schutz geistigen Eigentums zu verletzen.

Dennoch geht die Rechnung der bra- silianischen Regierung auf. So wurden infolge ihrer HIV/Aids-Politik seit 1997

allein durch niedrigere Krankenhausko- sten 677 Millionen Dollar eingespart und weitere 490 Millionen Dollar durch billi- gere Medikamente. Die anti-retrovirale Kombinationstherapie kostet Brasilien jährlich 4 700 Dollar je Patient, während sie in den USA 12 000 Dollar verschlingt.

Einzig durch die Herstellung von Gene-

rika könne ein Entwicklungsland die Seuche bekämpfen, so die Regierung.

Der Konflikt mit der Pharmaindustrie könnte sich verschärfen, wenn Brasilien tatsächlich, wie von Gesundheitsmini- ster José Serra angekündigt, Generika an andere Entwicklungsländer liefert.

Die WTO wird über den Prüfungsantrag der USA allerdings nicht vor September

entscheiden, meint Brasiliens Außenmi- nisterium. „Wir sind bereit, den Streit in Verhandlungen zu lösen“, ließ die US- Botschaft in Brasilia verlauten. „Bis da- hin führen wir den Fall allerdings fort.“

Sollten die USA sich durchsetzen, könn- te Brasilien Berufung einlegen. Ohnehin dürfte es schwierig sein, den Wert des eher theoretischen Schadens für die Pharmafirmen in den USA zu beziffern, um Schadener- satzansprüche zu stellen, so das brasilianische Außenmi- nisterium.

UN-Generalsekretär Kofi Annan bescheinigt Brasili- ens Präventionsmaßnahmen

Erfolg. „Lebensrettende Behandlungs- methoden und die Resultate wissen- schaftlicher Errungenschaften in Prävention und Behandlung müssen auf erschwinglicher Basis weitgehend er- hältlich sein“, formuliert Annan in „UN- Chinesisch“. Zu Deutsch: Maßnahmen wie die Brasiliens sind beispielhaft.

Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen unterstützen Brasiliens Regie- rungsprogramm offen. „Es zeigt, dass die antiretrovirale Therapie nicht nur ei- ne mögliche, sondern eine wirtschaftli- che Lösung ist, sogar in ärmeren Län- dern“, erklärte Dirk Bogaert, der die Or- ganisation in Brasilien koordiniert. „Wir verhandeln mit der Regierung über die Möglichkeit, brasilianische Medikamen- te in Pilotprojekten in Ländern wie Süd- afrika einzusetzen.“

Während sich der Konflikt zwischen Pharmaindustrie und Entwicklungslän- dern zuspitzt, führen die WTO und die Weltgesundheitsorganisation Gesprä- che mit Vertretern von Pharmakonzer- nen, Regierungen und Hilfsorganisatio- nen über Wege, die Arzneimittelpreise in Entwicklungsländern zu senken.

Südafrikanische Anti-Aids-Initiati- ven unterstützen den brasilianischen Kurs in der Hoffnung, Pläne für einen Technologie-Transfer in afrikanische Länder zu beschleunigen. „Wir drängen Brasilien, sich dem Druck der USA nicht zu beugen“, sagte Mark Heywood von der Treatment Action Campaign in Süd- afrika.

„Für die Pharmafirmen ist es besser, die Preise zu senken und weiterhin Ein- nahmen zu haben, als dass ihre Produk- te zwangslizenziert werden“, sagt Wil- liam Amaral (35) aus Rio. „Aber wo immer es keine Preissenkung gibt, soll- te die Regierung eine Zwangslizenz durchsetzen. Die Produktion von Ge- nerika rettet Leben. Und was ist wichti- ger, Menschenleben oder der Profit von Aktionären?“ William weiß um den Wert des Lebens. Als er 1992 HIV-posi- tiv getestet wurde, gab ihm sein Arzt noch zwei Jahre zu leben. Als er sich ei- nige Jahre später ständig abgeschlagen fühlte und häufig Fieberanfälle hatte, dachte er, er würde bald sterben, so wie viele seiner Freunde, für die die neuen Medikamente zu spät kamen. Die Hoff- nung kehrte zurück, als er 1996 mit der Kombinationstherapie anfing. „Ich ha- be jetzt eine Zukunftsperspektive“, sagt William. Bernd Radowitz T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 98½½Heft 18½½4. Mai 2001 AA1167

In Regierungslabors werden Generika der HIV/Aids Me- dikamente hergestellt, wie hier Nelfinavir.

„Pharmapatente verwehren

Millionen in der Welt den Zugang zu

medizinischer Hilfe.“

Eloan Pinheiro, Leiterin des Far-Manguinhos-Labors

Referenzen

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