Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 111|
Heft 46|
14. November 2014 A 2003KOMMENTAR
Dr. med. Martin Baehr, Unfallchirurg
W
ir befinden uns im DRG-Jubi- läumsjahr. Vor zehn Jahren wurde das System der Diagnosis Rela- ted Groups (DRG), der Fallpauschalen, verbindlich eingeführt. Ungefähr 40 Jahre, nachdem es in den USA als Werkzeug entwickelt wurde, um Abläu- fe in Gesundheitssystemen zu klassifi- zieren, sie überschaubarer, kontrollier- barer und vergleichbarer zu machen.Es ging um Ökonomie, aber auch um Qualitätskontrolle. Kluge Ansätze, die zu weitreichenden Veränderungen in
den Gesundheitssystemen auf der gan- zen Welt geführt haben.
Eine kurz gefasste Kritik des deut- schen DRG-Systems könnte in etwa folgendermaßen lauten: Das heutige System vergütet Komplikationen besser als die komplikationslose Behandlung, es schafft Diagnosen statt sie abzubil- den, indem es Anreize dort setzt, wo ei- ne üppige Vergütung winkt. Vor teuren Behandlungen lässt das System zu- rückschrecken, wenn sie nicht oder nicht angemessen kodierbar sind.
Das Verfahren ist zwar im Fluss und zahlreiche Gruppen sind damit be- schäftigt, die Stellschrauben „zeitnah“
nachzujustieren: das Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK), die Kodierkräfte in den Kliniken, der Medizinische Dienst der Krankenkas- sen, die Fachgesellschaften. Doch am Ende wollen alle – Ärzte und Patienten – ein Gesundheitssystem, das zwar kosteneffektiv ist, aber nicht kostenge- steuert, und eine gute Versorgung er- möglicht. Also Qualität. Die Entwickler des DRG-Systems an der Yale Universi- tät hatten das im Sinn: Sie wollten Krankheiten und deren Behandlung er- fassen, sie standardisieren und ver- gleichbar machen.
Schweden verwendet ebenfalls das DRG-System, um medizinische Abläufe besser erfassen zu können und einiges
zu vereinfachen, was wir in Deutsch- land gerne kompliziert haben. In der Wirbelsäulenchirurgie (um genau zu sein: der chirurgischen Behandlung der an degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule erkrankten Patienten) hat man es sich jetzt besonders einfach gemacht. Das Bundesland Stockholm hat ein paar DRGs im Bereich der Wir- belsäulenchirurgie ausgeschrieben, sie mit einer festen Vergütung versehen und bezahlt jedem Leistungserbringer, der in diesem Spiel mitspielen darf, für
seine Leistung 90 Prozent des ausge- lobten Betrages, beispielsweise für die Dekompression einer Spinalstenose. Je nach Schwierigkeit des Eingriffs gibt es zwei unterschiedliche DRGs. Der Leis- tungserbringer ist zugleich verpflichtet, die Kosten für mögliche Komplikatio- nen und notwendige Reoperationen im Zeitraum von einem Jahr zu überneh- men, sowohl in seiner eigenen Klinik als auch gegebenenfalls in einer ande- ren Klinik. Beim Bandscheibenvorfall beträgt dieser Gewährleistungszeit- raum sechs Monate, bei einer Fusion zwei Jahre.
Die Zufriedenheit der Patienten wird mit einem Vergleichskollektiv aus dem sogenannten Rückenregister abgegli- chen, in dem seit 1999 alle in Schwe- den durchgeführten Rückenoperatio- nen erfasst werden. Ein 65-jähriger, diabeteskranker, rauchender Patient mit Spinalstenose über drei Segmente hat also ein Vergleichskollektiv im Re- gister, das einen Erwartungswert be- züglich des Ergebnisses für den Pa- tienten ein Jahr nach der Operation ge- neriert. Ist der Patient nach einem Jahr genauso zufrieden wie das Vergleichs- kollektiv, ist das gut so, ist er zufriede- ner, gibt es die vollen 100 Prozent der vereinbarten Vergütung, ist er unzufrie- dener muss das Krankenhaus von den 90 Prozent des DRG-Entgelts, die aus-
bezahlt wurden, weitere zehn Prozent zurückzahlen – immerhin nicht alles.
Für deutsche Ärztinnen und Ärzte mag das teuflisch klingen, für schwedische auch! Eine patientengesteuerte Quali- tätskontrolle, die sich noch dazu finan- ziell auswirkt. Obendrauf die Garantie auf eine Operation!
Das neue System läuft in Stockholm seit zehn Monaten. Die teilnehmenden Kliniken sind gespannt und konkurrie- ren um die Patientengunst. Die OP-In- dikationen werden enger gestellt als
zuvor, denn Komplikationen und unzu- friedene Patienten bedeuten den wirt- schaftlichen Niedergang der Klinik. Das ist mehr als sportlich! Es erscheint ein wenig naiv, sich darauf einzulassen, aber es hat das System auf die we- sentlichen Elemente reduziert: genaue Indikationsstellung, Qualität der chirur- gischen Versorgung und Wirtschaftlich- keit der Abläufe in den versorgenden Einrichtungen. Werkzeuge dafür sind ein funktionierendes, von ärztlichen Be- wertungen unabhängiges, patientenge- steuertes Operationsregister und die Klassifikation von Erkrankungen durch das DRG-System. Ökonomie geht hier nur zusammen mit Qualität. Wer billig operiert, fahrlässig Indikationen stellt und dabei Komplikationen und Reope- rationen produziert, fährt gegen die Wand. Ebenso der, der teuer operiert und wenige Komplikationen schafft – ohne dass beides notwendigerweise zusammenhinge. Auf der Zielgerade er- scheinen jene, die effektiv und kompli- kationsarm die richtigen Patienten ope- rieren, also auch genesene Patienten haben. Mehr ist von einem solchen System nicht zu erwarten. Viel mehr braucht es aber auch nicht, um zu - friedene Patienten und ein effektives Gesundheitssystem zu haben. Dafür müssten in Deutschland allerdings eini- ge heilige Kühe geschlachtet werden.
FALLPAUSCHALEN