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Archiv "Asylbewerber: Kein akuter Schmerzzustand" (14.03.2008)

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A574 Deutsches ÄrzteblattJg. 105Heft 1114. März 2008

T H E M E N D E R Z E I T

H

assan Serdar* hat in seinem Heimatland Syrien, nahe der türkischen Grenze, sein Bein durch eine Landmine verloren. Da war er 14 Jahre alt. Dies sollte aber nicht das einzige traumatische Erlebnis seines Lebens bleiben. Über ein Jahr lang saß der heute 34-Jährige bereits im Gefängnis. Er kann das Erlebte nur schwer in Worte fassen, und Er- klärungen hierfür gehen in der Übersetzung verloren. Eines betont der jugendlich wirkende Mann aber immer wieder: Er wurde gefoltert.

Die Demütigungen durch die Ge- fängniswärter haben sich in seine Psyche eingebrannt. Äußere Spuren hat er nicht davongetragen, und ge- nau das ist sein Problem. Sein Asyl- antrag wurde abgelehnt: Er gilt als unglaubwürdig.

Zunächst muss Hassan sich hier in Deutschland, dem Land, in dem er sich ein besseres Leben erhoffte, mit ganz anderen Problemen aus- einandersetzen. Er braucht dringend eine neue Prothese. Ärzte haben ihm bescheinigt, dass man die alte Pro- these nicht erneut reparieren kann.

Sein Beinstumpf ist rot, fast lila.

Man kann die Druckstellen deutlich sehen und die Schmerzen fast mit- fühlen, die beim Gehen mit der alten Prothese entstehen müssen.

Wie Hassan geht es vielen Asyl- suchenden in Deutschland. Im ers- ten Halbjahr 2007 wurden laut Bun- desamt für Migration und Flüchtlin- ge 8 465 Asylanträge gestellt. Größ- tenteils kommen die Flüchtlinge aus Serbien, dem Irak und der Türkei.

Im Zeitraum von Januar bis Juni 2007 hat das Bundesamt 13 557 Entscheidungen getroffen: „114 Personen (0,9 Prozent) wurden als Asylberechtigte anerkannt“, heißt es lapidar in der Statistik.

Für die Menschen hinter der Statistik fallen medizinische Leis- tungen unter das Asylbewerber-

leistungsgesetz. 1995 haben etwa 500 000 Menschen die Regelleis- tungen nach diesem Gesetz erhal- ten; 2005 waren es 200 000. Die Ausgaben haben sich in dieser Zeit auf 1,2 Milliarden Euro halbiert.

Nur Leistungen zur Behandlung akuter Erkrankungen und von Schmerzzuständen werden gewährt – eine Formulierung, die viel Spiel- raum für Interpretationen lässt.

„Das kann chronische Erkran- kungen und Therapien ausschlie- ßen, die von langfristiger Natur sind. Manchmal heißt es dann sei- tens der Sozialämter, dass die Asyl-

bewerber nicht so lange bleiben und sie die notwendigen Therapien auch in der ursprünglichen Heimat ma- chen können“, erklärt Anni Kam- merlander, Geschäftsführerin bei Refugio, einem Beratungs- und Be- handlungszentrum in München, das Menschen unterstützt, die aufgrund von Folter, politischer Verfolgung oder kriegerischen Konflikten ihr Herkunftsland verlassen mussten und in Deutschland im Exil leben.

Zunehmend wird im Asylverfahren nur noch geprüft, ob im Herkunfts- land eine Behandlung möglich ist.

Immer häufiger beobachtet Kam- ASYLBEWERBER

Kein akuter Schmerzzustand

Kranke Menschen gehen zum Arzt und werden be- handelt. Für Asylbewerber gelten allerdings zahlreiche Einschränkungen.

* Name geändert

Foto:picture alliance

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Deutsches ÄrzteblattJg. 105Heft 1114. März 2008 A575

T H E M E N D E R Z E I T

merlander dieses Phänomen. „Oft reicht es, wenn es im Heimatland einen Psychiater gibt. Ob die Be- troffenen tatsächlich einen Zugang zu der ärztlichen Hilfe haben, be- achten die Behörden nicht.“

So ist es auch einer Afrikanerin ergangen: Sie hatte tiefe Verbren- nungen am rechten Arm und eine Ellbogenfraktur – der Grund: Fol- ter. „Da hieß es: Nein, das muss nicht behandelt werden. Das ist

schon ein halbes Jahr her. Außer- dem bleibt die Frau nicht lange hier.

Die soll es zu Hause behandeln las- sen“, erinnert sich Kammerlander.

Ihr Kollege Jürgen Soyer, Sozial- pädagoge bei Refugio München, betont aber, dass die Zusammenar- beit mit den Ämtern sehr wichtig sei und in den meisten Fällen auch gut funktioniere. Bloß seien diesen durch die Gesetzeslage die Hände gebunden.

Ein weiteres Problem sieht das Team aus Sozialpädagogen und Psychotherapeuten darin, dass die meisten Asylbewerber kein oder kaum deutsch sprechen. „So können sie nicht ausdrücken, was ihnen fehlt“, erklärt die Fachärztin für Psychotherapie und Psychoanalyse, Dr. med. Waltraut Wirtgen. Hier- durch sei es für Ärzte erschwert, akute Schmerzen zu lokalisieren und diese zu behandeln. Für die Asylbewerber sei es zudem nahezu unmöglich, ihre traumatischen Er- lebnisse auszudrücken.

Der unterschiedliche kulturelle Umgang mit Krankheiten werde zu einem zusätzlichen Hindernis. Die verschiedenen Kulturen haben teil- weise eigene sprachliche Bilder vom Körper. „Meine Leber brennt“

– das verstehen die wenigsten deut- schen Ärzte. Die Leber hat bei- spielsweise in der türkischen Kul- tur eine andere Bedeutung als hier in Deutschland. „Meine Leber

brennt“ ist dort ein Ausdruck für ei- nen starken seelischen Schmerz.

Hierzulande sagt man eher, dass ei- nem das Herz wehtut. Das ist ein Signal für deutsche Ärzte, dass eine seelische Erkrankung vorliegen könnte. „Dolmetscher werden in Kliniken nur selten und in Praxen gar nicht zur Verfügung gestellt.

Sie würden eine Kommunikation aber sehr erleichtern. Es passiert daher häufig, dass Kinder für ihre

Eltern übersetzen müssen“, sagt Wirtgen. Dies könne für die Kinder zu einer großen psychischen Belas- tung werden.

Wenn die Asylbewerber über- haupt anfangen, das Erlebte zu er- zählen, geschieht dies häufig in Bruchstücken, und es ist nicht direkt eine komplette chronologische Ge- schichte. „Das Ganze ist ein Mosa- ik, was dann erst zusammengesetzt werden muss“, erklärt Wirtgen.

Dafür brauche man vor allem viel Zeit und Geduld. Nach einer langen Odyssee landen viele von ihnen dann in Hilfezentren, wie dem Refu- gio in München. „Die Asylbewerber glauben häufig an gar nichts mehr.

Ihnen wurde der Glaube an das Gute genommen. Was würde passieren, wenn sie abgeschoben werden?

Dann werden sie mit dem konfron- tiert, vor dem sie geflohen sind“, empört sich Wirtgen.

Auch Hassan drohen weitere zwei Jahre Haft und Folter in Syri- en. Er schluckt, wenn er von den Elektroschocks und den Erniedri- gungen spricht, die seinen Willen brechen sollten, damit er mit der Re- gierung zusammenarbeiten würde.

Nächtelang wurde er vom Schlafen abgehalten, er musste sich nackt ausziehen und wurde verhört. Als er schließlich in eine Einzelzelle kam, wollte er nicht mehr leben.

Seit dem 15. August 2006 ist er in Deutschland und humpelt seit-

dem mit einer kaputten Prothese umher. Schon selbstverständliche Dinge, wie zum Beispiel eine Toi- lette aufzusuchen, fallen ihm schwer. In seiner Münchner Unter- kunft liegen die Sanitäranlagen außerhalb des Gebäudes. Für je- manden, dem das Laufen sehr schwerfällt, kann dieser Weg sehr lang werden. „Aber je besser die Unterbringung ist, desto schneller können sie sich auch erholen“, er- klärt Wirtgen. Hassan aber wollte gar nicht unbedingt nach Deutsch- land. Die Schlepperbande hat ihn mit einem falschen Ausweis hier- her gebracht.

Die neue Prothese für Hassan hält das Sozialamt nicht für notwendig:

Der entsprechende Antrag wurde abgelehnt. Begründung: „Es ist Ihnen zuzumuten, das Ende Ihres Asylverfahrens abzuwarten.“ Der Sozialpädagoge Soyer weiß aber:

„Das Verfahren kann noch Jahre dauern. In der Praxis zieht es sich einfach. Und der Schmerzzustand schleppt sich dann auch.“ I Sunna Gieseke

GESETZESLAGE

Asylbewerberleistungsgesetz

§ 4 Leistungen bei Krankheit, Schwangerschaft und Geburt (1) Zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzu- stände sind die erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln sowie sonstiger zur Genesung, zur Besse- rung oder zur Linderung von Krankheiten oder Krankheits- folgen erforderlichen Leistungen zu gewähren. Eine Versor- gung mit Zahnersatz erfolgt nur, soweit dies im Einzelfall aus medizinischen Gründen unaufschiebbar ist.

(2) Werdenden Müttern und Wöchnerinnen sind ärztliche und pflegerische Hilfe und Betreuung, Hebammenhilfe, Arznei-, Verband- und Heilmittel zu gewähren.

(3) Die zuständige Behörde stellt die ärztliche und zahnärztliche Versorgung einschließlich der amtlich emp- fohlenen Schutzimpfungen und medizinisch gebotenen Vorsorgeuntersuchungen sicher. Soweit die Leistungen durch niedergelassene Ärzte oder Zahnärzte erfolgen, richtet sich die Vergütung nach den am Ort der Niederlas- sung des Arztes oder Zahnarztes geltenden Verträgen nach § 72 Abs. 2 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch.

Die zuständige Behörde bestimmt, welcher Vertrag An- wendung findet.

Die Asylbewerber glauben häufig

an gar nichts mehr. Ihnen wurde der Glaube an das Gute genommen.

Dr. med. Waltraut Wirtgen, Fachärztin für Psychotherapie und Psychoanalyse

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