• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Gesundheitsreform: Zeit zum Luftholen" (04.08.2003)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Gesundheitsreform: Zeit zum Luftholen" (04.08.2003)"

Copied!
2
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

D

ie Verhandlungsführer von Regie- rung und Opposition waren ausge- sprochen gut gelaunt, als sie am 22.

Juli in Berlin vor die Presse traten. Ver- flogen schien die Anspannung der letz- ten Wochen, als die Unterhändler in zu- letzt dramatischen Nachtsitzungen um die Grundzüge der nächsten Gesund- heitsreform rangen. Mit einem Lächeln, das man bei ihr in den letzten Monaten nur noch selten zu sehen bekam, prä- sentierte SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt die Verhandlungsergeb- nisse. Neben ihr der Unionssozialex- perte Horst Seehofer im entspannten Plausch mit der Grünen-Politikerin Biggi Bender.

Augenscheinlich sind sich die Prota- gonisten bei den gerade zu Ende gegan- genen geheimen Verhandlungen auch menschlich näher gekommen. Wohl auch deshalb, weil man, abgeschottet von der Öffentlichkeit, erfolgreich ei- nen neuen Politikstil ausprobiert hatte, wie es Seehofer ausdrückte. Mittlerwei- le lässt sich die Öffentlichkeit allerdings

nicht mehr ausklammern. Mit Unbeha- gen dürften die Koalitionäre auf Zeit zur Kenntnis nehmen, dass sich eine deutliche Mehrheit der Deutschen ge- gen die Pläne zur Gesundheitsreform wendet. Nach einer Forsa-Umfrage wa- ren 64 Prozent der Befragten der Mei- nung, dass die Vorschläge zu mehr Selbstbeteiligung der Versicherten bei Zahnersatz, Krankengeld und Arztbe- suchen in die falsche Richtung gingen.

Mitauslöser für die Besorgnis vieler Versicherter waren wohl auch Ankün- digungen von Krankenkassen, ihre Beiträge nicht wie vorgesehen in den nächsten Jahren auf durchschnittlich 13 Prozent zu senken.

Für Schmidt ein Affront – ist doch die Senkung der Beitragssätze und da- mit eine Verminderung der Lohnne- benkosten eine der Hauptgründe für ihr Gesetzesvorhaben. Prompt kündig- te die Ministerin an, die Kassen notfalls zu zwingen, ihre Beiträge zu senken. Ob damit der Skepsis in der Bevölkerung und auch in den Medien wirksam be-

gegnet werden kann, ist fraglich. So wit- tert der Spiegel einen „Pakt gegen die Patienten“. Einen „Triumph der Lob- byisten“ konstatiert die Süddeutsche Zeitung, und die Frankfurter Rund- schau rechnet vor, dass die Reform zu zwei Dritteln von Versicherten und Pa- tienten bezahlt werde.

Tatsächlich sind Teile der von Rot- Grün geplanten Strukturreform vom Tisch. So wurde das insbesondere von Ärzten heftig kritisierte Zentrum für Qualität in der Medizin deutlich ent- schärft, und auch die vorgesehene „Ent- machtung“ der Kassenärztlichen Verei- nigungen scheint vorerst abgewendet.

Als „Gewinner“ der Reform sehen sich die Ärzte dennoch nicht.

Zu begrüßen sei, dass ein drohendes Durcheinander von Einzel- und Kollek- tivverträgen in der ambulanten medizi- nischen Versorgung vermieden wurde, sagte der Erste Vorsitzende der Kas- senärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Dr. med. Manfred Richter-Reichhelm.

Positiv bewertete er auch die für das Jahr 2007 geplante Wiedereinführung fester Preise für die vertragsärztlichen Leistungen innerhalb arztgruppenspe- zifischer Regelleistungsvolumina. Den- noch gäbe es auch Belastungen. So müssten Ärzte im Vorfeld der Umstel- lung auf das neue Vergütungssystem in finanzielle Vorleistungen treten. Insbe- sondere die integrierte Versorgung wer- de durch eine Anschubfinanzierung ge- fördert, die man von der Gesamtvergü- tung einziehe. Ebenfalls schwer verdau- lich sei die geforderte engere Verknüp- fung von Arzthonorar und veranlassten Arznei- und Heilmittelverordnungen.

Hoppe: Deutliche Fortschritte

Bundesärztekammer-Präsident Prof. Dr.

med. Jörg-Dietrich Hoppe meinte zu dem Kompromiss: „Das Eckpunktepa- pier ist ein deutlicher Fortschritt gegen- über dem Vorschlag des Ministeriums und der Koalition, da die durch Antipa- thie und Aggression geprägten Passagen gemildert oder gänzlich verworfen wur- den.“ So sei das geplante staatliche Zen- trum für Qualität jetzt ein Institut in selbstverwalteter Lösung.Auch der Kor- ruptionsbeauftragte habe einer sachli- chen Diskussion wohl nicht standgehal- P O L I T I K

A

A2050 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 31–324. August 2003

Gesundheitsreform

Zeit zum Luftholen

Kontroverse Debatte über Eckpunkte.

Schmidt: Nächste Reform bereits 2010 nötig

Entspannte Atmosphäre: Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) und der Unionsex- perte Horst Seehofer (CSU) präsentierten den Kompromiss zur Gesundheitsreform. Foto: phalanx

(2)

ten. Bei der integrierten Versorgung und den Behandlungszentren gebe es aller- dings noch Klärungsbedarf, auch wenn sie schon wesentlich weniger auf Institu- tionalisierung ausgerichtet seien als vor- her. Hoppe: „Da wäre noch ein Tick an Nachbesserung möglich. Trotzdem ist der Fortschritt doch erheblich.“ Der Ärztepräsident äußerte sich allerdings skeptisch, ob mit den vorgeschlagenen Maßnahmen der Beitragssatz auf 13 Prozent gesenkt werden könne.

Zumindest versuchen will dies die AOK, versprach der Vorstandsvorsit- zende des AOK-Bundesverbandes, Hans Jürgen Ahrens. Man werde jede realistische Möglichkeit zu Beitrags- satzsenkungen nutzen. Er lehne es je- doch ab, ein Absenken der Beitragssät- ze über neue Schulden zu finanzieren.

Positiv vermerkte Ahrens, dass das Drängen der Krankenkassen auf mehr Wettbewerb und bessere Qualität der Versorgung einigen Erfolg gehabt habe.

Nach Ansicht der Vorsitzenden des Ver- bandes der Angestellten-Krankenkas- sen, Margret Mönig-Raane, haben bei der anstehenden Gesundheitsreform vor allem die Versicherten und Patien- ten „dicke Kröten“ zu schlucken. „Für eine Reform, die angetreten ist, die Ver- sorgung qualitativ und wirtschaftlich zu gestalten, ist dies eine ernüchternde Bi- lanz“, betonte Mönig-Raane.

„Pure Abzockerei“, schimpfte der So- zialverband VdK. „Die Zeche zahlen im Wesentlichen die Patienten“, bemängeln Verbraucherschützer. Kritik kommt auch von Gewerkschaften und SPD-Lin- ken. Grundtenor: Die Schwachen wer- den geschröpft – Ärzte, Apotheker und Pharmaindustrie geschont. Die Vizeche- fin des Deutschen Gewerkschaftsbun- des, Ursula Engelen-Kefer, beklagt, dass die Regierung vor den Lobbyisten ein- geknickt sei. Die SPD-Linken Ottmar Schreiner und Horst Schmidbauer kün- digten gar Widerstand gegen die Re- formpläne an. Zudem forderten der Vor- sitzende des Gesundheitsausschusses im Bundestag, Klaus Kirschner, Juso-Chef Niels Annen und der SPD-Linke Peter Dreßen Korrekturen – Schmidt reagier- te gereizt. Über ihren Sprecher ließ sie erklären, die „kleinkarierte Kritik“ solle beendet werden. Das Ergebnis der Par- teiengespräche sei „das, was politisch durchsetzbar war“.

Die bisher vorgebrachten Bedenken zeigten dennoch Wirkung. So sprach sich Schmidt überraschend dafür aus, dass für Versicherte mit niedrigem Ein- kommen Härtefallregelungen getroffen werden sollen. Demnach müssen Pati- enten, die am Existenzminimum leben, statt zehn Euro nur einen Euro pro Arztbesuch, Medikamentenverordnung und Krankenhaus zuzahlen.

Weitere Änderungen könnten sich ergeben, wenn sich die Experten im Gesundheits- und Sozialministerium im August daranmachen, die bisher nur wenig konkret formulierten Eckpunkte in Paragraphenform zu gießen. Insider erwarten, dass SPD-Traditionalisten nichts unversucht lassen werden, den Kompromiss zwischen Regierung und Opposition aufzuweichen. Ob dies ge- lingt, zeigt sich spätestens, wenn der Ge- setzestext Mitte August vorliegt und

dann von den beteiligten Fraktionen geprüft wird. Die erste und dritte Le- sung im Bundestag soll in der Woche vom 8. September stattfinden. Der Bun- desrat wird sich voraussichtlich am 26.

September mit dem Entwurf befassen und ihn billigen, wenn es bei dem jetzt gefundenen Kompromiss bleibt.

In Kraft treten würde am 1. Januar 2004 eine Reform, deren Wirkung, da sind sich nahezu alle Experten einig, nur auf etwa vier Jahre beschränkt ist.

Nach Angaben von Ministerin Schmidt sei die nächste Reformrunde schon in Planung. Dies sei wegen der immer äl- ter werdenden Bevölkerung und der damit verbundenen Finanzierungspro- bleme für die Sozialversicherungen nötig. Schmidt: „Die nächste große Re- form muss spätestens 2010 stehen.“ Sie

bekundete in diesem Zusammenhang erneut Sympathie für eine Bürgerversi- cherung, die auch Beamte und Selbst- ständige sowie Einkünfte wie Mieten oder Zinsen für Beiträge heranzieht.

Dies unterstützt auch CSU-Gesund- heitsexperte Seehofer. Bei den Kon- sensgesprächen, so Seehofer, sei vor al- lem deutlich geworden, dass die sozia- len Sicherungssysteme an die „Grenzen ihrer Reformierbarkeit“ gestoßen sind.

Streit um Bürgerversicherung entbrannt

Fast schon kurios mutet es an, dass, noch bevor ein Gesetzentwurf für die laufen- de Reform vorliegt, lautstark über die Stoßrichtung der nächsten Reform nachgedacht wird. Dabei scheint das Modell einer Bürgerversicherung für alle, das zunächst nur von den Grünen präferiert wurde, immer mehr Befür- worter zu finden. Die Fraktionschefin der Grünen im Bundestag, Krista Sager, forderte gar, die Bürgerversicherung noch in dieser Legislaturperiode auf den Weg zu bringen. Daran führe kein Weg vorbei.

So schnell wird es dazu aber vermut- lich nicht kommen. Zu groß ist die Schar derer, die einer solchen Radikal- reform skeptisch bis ablehnend ge- genüberstehen. So äußerte sich auch SPD-Fraktionschef Franz Müntefering zurückhaltend zu den Ideen. Man solle sich viel Zeit nehmen. Einige bei den Grünen seien ihm dabei zu forsch, kriti- sierte Müntefering den kleinen Koaliti- onspartner. Skepsis auch bei der Union:

CDU-Chefin Angela Merkel sagte, sie sehe bei einem solchen Systemwechsel die Gefahr einer Zweiklassenmedizin.

CDU-Sozialexperte Andreas Storm sagte, das Modell sei ebenso unausgego- ren wie der Gegenvorschlag, Kopfpau- schalen einzuführen. Dabei müsste je- der Erwachsene unabhängig vom Ein- kommen einen Einheitsbeitrag von et- wa 200 Euro im Monat zahlen.

Noch in diesem Jahr wollen SPD und CDU auf Parteitagen über die 2010 an- stehenden Weichenstellungen bei den Sozialsystemen beraten. Bis dahin schafft die jetzt auf den Weg gebrachte Gesundheitsreform zumindest etwas Zeit zum Luftholen. Samir Rabbata P O L I T I K

Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 31–324. August 2003 AA2051

Konstatieren Fortschritte gegenüber den bis- herigen Vorschlägen der Regierung: KBV-Chef Richter-Reichhelm und BÄK-Präsident Hoppe

Foto:Georg Lopata

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Demnach bleibt es bei den bisher bekannt gewordenen Plänen von Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (dazu auch DÄ, Heft 17/2003, Seite eins: „Die heimliche Revolution“),

ir haben ein fast einjäh- riges geordnetes Gesetz- gebungsverfahren hinter uns.“ Als Bundesgesundheitsmini- sterin Andrea Fischer am Donners- tag morgen vergangener Woche die

Oberender gibt der GKV eine Chan- ce, wenn sie dem Zwang des Fak- tischen, das heißt der Finanzierbar- keit, angepaßt wird: Rationalisierung durch Ausschluß von nicht notwendi-

Das liegt allerdings nicht nur daran, daß das Ministerium handwerklich schlecht gearbeitet hätte, wie der kritische Rudolf Dreßler (SPD) nicht ohne Eifersucht meint, son- dern

Eine „implizite“ Rationierung ver- stößt nach Wille gegen ethische Kriteri- en, wenn sie sich nicht auf eine nach- vollziehbare Entscheidung stützt, son- dern mehr oder

Letzteres hätte auch weitreichende Fol- gen für die Krankenhausplanung: Kran- kenkassen könnten sich dann die Ver- tragskrankenhäuser für ihre Versicherten auswählen, was

Diese „vier- te Hürde“ für Arzneimittel soll sicher- stellen, dass höhere Preise für ein Präpa- rat nur dann von der GKV bezahlt wer- den, wenn ein therapeutischer

Ferner sprechen sich die Spit- zenverbände der Krankenversiche- rung dafür aus, das Bundessozialhil- fegesetz (BSHG) so zu ändern, daß Leistungen nach dem BSHG nur dann um die