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Archiv "Gesundheitsreform: Keine Reform mit der Brechstange" (23.12.2002)

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in völliger Systemwechsel, vor al- lem eine Abkehr von der beitrags- finanzierten Krankenversicherung zu einem steuerfinanzierten Nationalen Gesundheitsdienst, könne aus der Sicht des Vorsitzenden des Sachverständi- genrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, Prof. Dr. rer. pol.

Eberhard Wille, Ordinarius für Volks- wirtschaftslehre und Finanzwissen- schaft an der Universität Mannheim, keine konsensfähige Reformoption darstellen. Sämtliche im Bundestag ver- tretenen Parteien wollten nach eigenen Beteuerungen nicht dem Trend einer wachsenden Staatsmedizin Vorschub leisten. Der dritte Weg in Deutschland, ein Gesundheitssicherungssystem zwi- schen einem zentral gesteuerten staatli- chen Gesundheitswesen und einem völ- lig privatisierten, wettbewerblichen Sy- stem, habe sich seit langem bewährt und sollte mit einem Bündel an aufeinander abgestimmten systemkonformen Maß- nahmen weiterentwickelt werden.

Beim 25. Deutschen Krankenhaustag am 21. November in Düsseldorf offe- rierte der seit 1. Oktober 2002 neu amtierende Vorsitzende des Sachver- ständigenrates, Wille, seine Thesen zu den Reformproblemkomplexen „Wett- bewerb“ und „Integrierte Versorgung“.

Vielfach zielen sie darauf, festgefahrene Diskussionen ohne Rücksicht auf Ta- bus und Interessenkollisionen zu über- winden und nach dem Prinzip „trial and error“ neue Wege zu erproben.

Der Vorsitzende des Sachverständi- genrates ließ keinen Zweifel daran, dass seine Reformoptionen auch innerhalb des Rates diskutiert und mit Grundlage des nächstfälligen Gutachtens sein wer- den. Jedenfalls wird sich der Sachver- ständigenrat nicht von der noch nicht

einmal begonnenen Arbeit der von der Bundesregierung eingesetzten „Kom- mission zur nachhaltigen Finanzierung der Sozialversicherungssysteme“ („Rü- rup“-Kommission) „abhängen“ oder präjudizieren lassen.

Für Wille stehen die Komplexe

„Wettbewerb“ innerhalb der Kranken- kassenarten und der Leistungserbringer

sowie „Integrierte Versorgung“ in ei- nem engen sachlichen Zusammenhang.

Eine engere Kooperation der bisher oftmals nebeneinanderher arbeitenden Versorgungssektoren sei überfällig. Sek- torenübergreifende Lösungsansätze und vor allem eine integrierte Versorgung mit entsprechenden, der Leistung fol- genden finanziellen Ressourcen müssten in den Mittelpunkt der grundlegenden Reform gestellt werden.

Es müssten alle rechtlichen Möglich- keiten sowie weitergehende Reform- optionen ergriffen werden, um über die integrierte Versorgung die Effizienz der Behandlungsabläufe zu verbessern.

Dies hänge entscheidend von einem funktionsfähigen, sozial austarierten Wettbewerb innerhalb und zwischen dem ambulanten und stationären Sek- tor sowie den nachgelagerten Berei-

chen Rehabilitation und Pflege ab. Den Krankenkassen müsse zugestanden werden, auch individuelle Vertragsbe- ziehungen mit ausgewählten Leistungs- erbringern abzuschließen.

Als längst überfällig bezeichnet Wille die konsequente Ausschöpfung noch vorhandener Wirtschaftlichkeitsreser- ven. Insbesondere müssten die regiona- len und partiellen Überkapazitäten, vor allem im stationären Sektor, abgebaut werden. Allerdings reichten diese Bemühungen keineswegs aus, um die permanente Wachstumsschwäche der Finanzierungsbasis ohne weitere Re- formen zu überwinden. Ein Dilemma der Gesundheitspolitik sei, dass ein ma- gisches Drei- oder Viereck mit gleich- zeitiger oder paralleler Zielfixierung nicht erreicht werden kann. Dies gelte insbesondere bei Verfolgung des politi- schen Postulats der Beitragsstabilität in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) –, bei unbegrenztem Pflichtlei- stungskatalog der GKV und einer ange- messenen, bedarfsorientierten und ge- rechten Honorierung der Ärzte und Bezahlung der im Krankenhaus Tätigen (insgesamt mehr als 4,1 Millionen di- rekt oder indirekt im Gesundheitswe- sen Beschäftigten).

Die für das deutsche System typi- schen Vorzüge dürften durch die Re- formmaßnahmen nicht beseitigt wer- den. Als Markenzeichen des deutschen Systems bezeichnet der Mannheimer Finanzwissenschaftler den sehr weitge- henden sozialen Versicherungsschutz, ein nahezu flächendeckendes Angebot an gesundheitlichen Leistungen, einen hohen Versorgungsstandard und einen weitgehend barrierefreien Zugang zu den Leistungen und Leistungserbrin- gern. Noch gebe es keine auffälligen of- fenen Rationierungen in Form von Warteschlangen und Kontingentierun- gen sowie Ausgrenzungen von Leistun- gen. Eine „implizite“ Rationierung ver- stößt nach Wille gegen ethische Kriteri- en, wenn sie sich nicht auf eine nach- vollziehbare Entscheidung stützt, son- dern mehr oder weniger zufällig und willkürlich erfolgt. Eine implizite Rationierung zeugt nach Wille häufig von einer fehlenden Schwerpunkt- und Prioritätenbildung, die als Grundlage für eine zielorientierte Bedarfsbestim-

mung dienen könne.

P O L I T I K

Deutsches ÄrzteblattJg. 99Heft 51–5223. Dezember 2002 AA3447

Gesundheitsreform

Keine Reform mit der Brechstange

Der Vorsitzende des Sachverständigenrates für die

Konzertierte Aktion, Prof. Dr. Eberhard Wille, plädiert für ein Bündel aufeinander abgestimmter Reformmaßnahmen.

Eberhard Wille:

„Die Ausschöp- fung von Wirt- schaftlichkeits- reserven bleibt eine Dauerauf- gabe der Ge- sundheitspoli- tik.“ Foto: dpa

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Die medizinische Entwicklung und die rasche Implementierung von neuen Leistungen in den Pflichtleistungskata- log der GKV machten es notwendig, den Leistungskatalog ständig zu überprüfen, zu evaluieren und auf den Prüfstand der Versorgungsforschung zu stellen. Dies sei notwendig, um einen „normalen“

Beitragsanstieg in Grenzen zu halten, und resultiere aus der Tatsache, dass im Dienstleistungssektor Gesundheits- und Krankenhauswesen die Rationalisie- rungsfortschritte eher minimal sind.

Gegen Kopfprämien-System

Eine Stilllegung der so genannten Ver- schiebebahnhöfe und eine Umfinanzie- rung von versicherungsfremden Lei- stungen könne die Krankenversiche- rung merklich entlasten, ohne die Lei- stungen selbst infrage zu stellen.

Von einer Umstellung des Umlagefi- nanzierungsverfahrens auf ein risiko- äquivalentes Kopfprämien-System ana- log der Finanzierung in der privaten Krankenversicherung hält Wille wenig.

Dem Aufbau einer zusätzlichen kapital- gedeckten Krankenversicherung zur Stützung der Finanzierung von demo- graphischen Effekten entsprechend der privaten Altersvorsorge (so genannte Riester-Rente) stünde das Finanzie- rungs- und Leistungsprinzip der Gesetz- lichen Krankenversicherung entgegen.

Im Unterschied zur Rentenversiche- rung weist die GKV – mit Ausnahme des Krankengeldes und der Beitragsbemes- sungsgrenze für lohnbezogene Leistun- gen – keine Elemente der individuellen Äquivalenz mehr auf. Um freiwillige Alterungsrückstellungen im umlage- finanzierten Krankenversicherungssy- stem aufzubauen, fehlten wegen des einheitlichen Leistungskatalogs Anrei- ze. Dementsprechend seien solche Reformoptionen nicht optimal. Zudem würde ein reines Kopfprämien-System mit risikoäquivalenten Beiträgen und die Umstellung des Finanzierungsver- fahrens auf Kapitaldeckung so viele volkswirtschaftliche Ressourcen bin- den, dass dies auch mittel- und langfri- stig kaum darstellbar wäre. Damit erteilt Prof. Wille den reinen Marktmodellen und einer Privatisierung der Kranken- versicherung eine Absage. Dies betrifft

beispielsweise Lösungsansätze des or- doliberalen Kronberger Kreises, des Ar- beitskreises um Prof. Dr. rer. pol. Wil- helm Hankel und der Vertragsärztlichen Bundesvereinigung sowie des Finanzie- rungs- und Organisationsmodells der Vereinten Krankenversicherung AG.

Das Instrument einer flexiblen Selbstbeteiligung der Versicherten be- urteilt Wille ambivalent. Eine Er- höhung der Direktbeteiligung scheidet zwar unter konservativen Solidaritäts- aspekten als zentrale Reform-Option aus, könne aber bei einem maßvollen Ausbau ein Bündel von Maßnahmen sinnvoll ergänzen. Eine erhöhte pro- zentuale Selbstbeteiligung belaste den Patienten unter Umständen mehr als vergleichsweise ein engerer Zuschnitt des Leistungskatalogs und der Ausgren- zung ganzer Leistungsgruppen. Dies liefe nämlich auf eine hundertprozenti- ge Direktbeteiligung hinaus und belaste Patienten, vor allem chronisch Kranke.

Im Vergleich zur Selbstbeteiligung (einschließlich Beitragsrückerstattung, Boni, Wahltarife) und zu einem redu- zierten Leistungskatalog hätte eine Än- derung der Beitragsgestaltung, gegebe- nenfalls eine verbreiterte Bemessungs- grundlage, unter Solidaritätsaspekten einige Vorteile. Wille befürwortet eine Überprüfung der Bemessungsgrundla- ge und der beitragsfreien, familienpoli- tisch bedingten Mitversicherung von GKV-Mitgliedern beim Hauptversi- cherten. Eine solche Reformoption sei in allokativer und verteilungspoliti- scher Hinsicht längst überfällig.

Flexible Strukturen und Verträge

Wille bedauert, dass das Gesundheits- strukturgesetz nur rudimentär den Wettbewerb intensiviert habe. Die Re- formoptionen seien auf halbem Weg stehen geblieben.Wille hält es für erfor- derlich, dass flexiblere Strukturen im Vertrags- und Versorgungsbereich so- wie die monistische Finanzierung im Krankenhaus eingeführt werden. Dies erfordere eine rechtlich abgesicherte wettbewerbliche Rahmenordnung.

Falls die Krankenkassen ermächtigt werden, Einzelverträge mit ausgewähl- ten Leistungserbringern oder Grup-

pen von Leistungserbringern abzuschlie- ßen, so unterliegen diese nach der Exe- gese von Wille dem deutschen und eu- ropäischen Kartellrecht. Sofern die Krankenkassen „gemeinsam und ein- heitlich“ vorgehen oder eine Kranken- kasse eine marktbeherrschende Stel- lung einnimmt, müsse der zugelassene Leistungserbringer die Chance erhal- ten, einen Vertrag abzuschließen.

Das Konzept versucht, die bisherigen traditionellen kollektiven Rahmenver- träge mit der Supervision durch die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) und eine dezentrale wettbewerbliche Steuerung miteinander zu verbin- den. Der kollektiv-staatlichen Ent- scheidungsebene unterliegen danach folgende Aufgaben: Sicherstellung einer flächendeckenden Versorgung, grund- sätzliche Zulassung zur Leistungser- bringung; Festlegung von Qualitäts- standards; Erhalt von Wahlmöglichkei- ten der Versicherten sowie eine Fest- legung von generellen Vergütungssy- stemen, das heißt, auch solchen, die außerhalb von Einzelverträgen gelten.

Innerhalb des kollektivrechtlichen Rahmens können dann die Kranken- kassen mit Leistungserbringern Einzel- verträge abschließen, die unter anderem höhere Qualitätsstandards und abwei- chende Vergütungsformen vorsehen können. Wille schlägt eine öffentliche Ausschreibung (Submission) durch die Krankenkassen vor. Allerdings müsse das Verfahren transparent und nachprüf- bar sein. Marktbeherrschende Kranken- kassen dürften danach mit den Lei- stungserbringern keine Ausschlussver- träge vereinbaren. Die jeweilige Nach- fragemacht und Kapazitätsauslastung (bei Krankenhäusern) könne so in Gren- zen in Vergütungsvereinbarungen gel- tend gemacht werden. Ein grundsätz- liches Zutrittsrecht zu einem solchen Vertrag durch die Krankenkassen wider- spräche allerdings Wettbewerbsgrund- sätzen und hemme bei Modellversuchen die erforderliche Innovationsbereit- schaft der Krankenkassen und Lei- stungserbringer. Einzelverträge müssten insofern die Angebotskapazitäten und die Qualität wesentlich steuern. Eine er- folgreiche integrierte Versorgung setze sanktionsfähige Anforderungen sowohl an die Leistungserbringer als auch an die Versicherten voraus.Dr. rer. pol. Harald Clade P O L I T I K

A

A3448 Deutsches ÄrzteblattJg. 99Heft 51–5223. Dezember 2002

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