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Archiv "Mutmasslicher Wille: Eine Entscheidung im Miteinander" (15.06.2012)

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MUTMASSLICHER WILLE

Eine Entscheidung im Miteinander

Worauf müssen Ärzte, Pflegende, Betreuer und Bevollmächtigte bei der Ermittlung des mutmaßlichen Willens achten? Welche Rolle spielen kulturelle Unterschiede? Eine Tagung suchte nach Antworten.

F

ragen nach dem mutmaßli- chen Willen stellen sich in der medizinischen Praxis sehr viel häu- figer als die Fragen zum Umgang mit Patientenverfügungen, nämlich immer dann, wenn keine Patienten- verfügung vorliegt oder aber, wenn die Patientenverfügung nicht genau auf den aktuellen Fall passt. Doch wie ist der mutmaßliche Wille juris- tisch definiert, und wie gehen in der juristischen Praxis Betreuungsge- richte, Betreuer und Betreuerinnen damit um? Welche Rolle spielen kulturelle Unterschiede? Worauf müssen Ärzte, Pflegende, Betreuer und Bevollmächtigte achten? Die- sen und anderen Fragen gingen un- ter anderem Ärzte und Juristen auf einer Tagung des Zentrums für Ge- sundheitsethik an der Evangeli- schen Akademie Loccum Anfang Mai in Hannover nach.

Das Dilemma der „end-of-life care“ bestehe unter anderem darin, dass es keine befriedigende Defini- tion einer terminalen Erkrankung gebe. Ausdrücke wie „terminal

krank“ oder „sterbend“ seien zwangsläufig zufällig und subjek- tiv, sagte Prof. Dr. med. Friede- mann Nauck, Göttingen. Die Pla- nung von end-of-life care beginnt deshalb seiner Ansicht nach dann, wenn der Patient noch immer eine (wenn auch geringe) Chance habe zu überleben. Häufig würden Ärzte in der palliativmedizinischen Praxis kritisiert, „weil sie die ethisch ge- botenen Grenzen der Medizin nicht erkennen, oder es besteht die Furcht vor einer sogenannten Übertherapie bei Sterbenden“. Auf der anderen Seite berge der Verzicht auf eine in- tensive Behandlung am Lebensen- de die Gefahr einer gesellschaftli- chen Entsolidarisierung von alten, kranken und besonders auf Hilfe angewiesenen Menschen, befürch- tet Nauck. Der Palliativmediziner verweist zur Lösung dieses Dilem- mas auf die im letzten Jahr überar- beiteten „Grundsätze der Bundes- ärztekammer zur ärztlichen Sterbe- begleitung“ (Ermittlung des Patien- tenwillens, Kasten): „Wie gut, dass

wir diese Grundsätze haben. Damit haben wir als Ärzte etwas auf weni- gen Seiten, auf das wir uns immer berufen können.“ Nach den Grund- sätzen wird der Wille in einem ge- meinsamen Entscheidungsprozess von Arzt und Patient, beziehungs- weise wenn der Patient wegen sei- ner weit fortgeschrittenen Erkran- kung oder Sedierung nicht mehr mitentscheiden kann, mit dem Pa- tientenvertreter gefunden.

Nauck betonte aber auch die oberste Priorität des erklärten Wil- lens. Er müsse immer Vorrang vor allem anderen haben, was jemals gesagt oder geschrieben wurde oder vor allem vor dem, was ein Betreu- ungsbevollmächtigter denkt. Wenn der aktuell erklärte Wille nicht ge- geben sei, sei der vorausverfügte Wille durch eine Patientenverfü- gung verbindlich, sofern er auf die jeweilige Situation anwendbar sei.

Wenn eine Patientenverfügung nicht vorhanden sei, müsse der mutmaßliche Wille aus früheren Äußerungen oder Wertvorstellun-

Foto: mauritius images

A 1228 Deutsches Ärzteblatt

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gen des Patienten ermittelt werden.

Nur wenn dies nicht möglich sei, müsse eine Entscheidung zum Wohl des Patienten getroffen wer- den, wobei der Lebensschutz Vor- rang habe (Grafik). Nauck bedauert es, dass die Angehörigen oft nicht mit denjenigen in Kontakt treten, die den Patienten betreuen würden.

Die rechtlichen Grundlagen der Ermittlung des Patientenwillens er- läuterte Annette Loer, Betreuungs- richterin am Amtsgericht Hannover.

Im Jahr 2009 war das sogenannte Patientenverfügungsgesetz in Kraft getreten. Danach habe der Arzt, wenn eine Patientenverfügung im Sinne des § 1901 a Abs. 1 Bürgerli- ches Gesetzbuch (BGB) vorliege, den Patientenwillen anhand der Pa- tientenverfügung festzustellen.

Falls die Patientenverfügung auf die aktuelle Behandlungssituation zutreffe, habe der Arzt den Patien- ten entsprechend dessen Willens zu behandeln.

Grundsätzlich könne ein Patient (oder der Betreuer) keine Behand- lung verlangen, die nicht indiziert sei. Behandlungswünsche dürften nur im Rahmen der Indikation be- rücksichtigt werden. Der Arzt oder die Ärztin behalte die Verantwor- tung für die Behandlung, und eine Ablehnung der angebotenen Be- handlung bedeute nicht das Ende der Therapie, sondern die Ände- rung des Behandlungsziels. Die er- teilte Einwilligung könne auch zu- rückgenommen werden. Eine Be- handlung ohne Einwilligung stelle

außer bei Notfällen eine Körperver- letzung dar. „Endlich ist seit dem 25. Juni 2010 durch den Bundesge- richtshof auch strafrechtlich ge- klärt, dass das Beenden einer Be- handlung und auch das aktive Ab- schalten keine aktive Sterbehilfe darstellen“, ergänzte Loer. Wenn ein Patient mangels Einwilligungs- fähigkeit aktuell keine eigene wirk- same Entscheidung treffen könne, müsse der Betreuer nach § 1901 a BGB einer eventuellen schriftli- chen Patientenverfügung Geltung verschaffen. Wenn es keine oder keine eindeutige Patientenverfü- gung gebe, sei eine Vertretererklä- rung durch den Betreuer oder Be- vollmächtigten erforderlich. Dieser dürfe auf keinen Fall die Entschei- dung nach seinen eigenen Vorstel- lungen fällen, sondern müsse den mutmaßlichen Willen des Patienten ermitteln. Letztendlich gebe es aber

auch dabei immer einen Unsicher- heitsfaktor. Im Zweifel sollte dann auch nach Ansicht der Betreuungs- richterin für das Leben entschieden werden.

Vor besondere Herausforderun- gen sind Ärzte bei Patienten mit Migrationshintergrund gestellt. So müssen sie beispielsweise die Be- deutung von Religion und Kultur sowie die Rolle der Familie berück- sichtigen. Darauf wies Ali Türk, Geschäftsführer des Instituts für Transkulturelle Betreuung in Han- nover, hin. Es könnte beispielswei- se zur Ablehnung bestimmter Be- handlungsangebote kommen. Türk empfiehlt, falls erforderlich, mit Hilfe von professionellen Dolmet- schern unter anderem folgende Fra- gen zur kulturellen Anamnese zu beantworten: Wie werden die Pro- bleme geschildert? Wie würden die Probleme im Herkunftsland gedeu- tet werden? Wie bewerte ich Deu- tungen und Lösungen anderer? Ge- rade bei Menschen mit Migrations- hintergrund gehe es eben darum, sie mit ihren teilweise besonderen Bio- grafien zu verstehen, resümierte Dr.

Michael Coors, Theologischer Re- ferent am Zentrum für Gesundheits- ethik.

Coors betonte abschließend, dass nicht alle Entscheidungen auf evi- denzbasierte harte Kriterien zurück- geführt werden könnten, „sondern man benötigt Erfahrungen, die in individuellen Begegnungen mit Pa- tienten wachsen“. Die Ermittlung des mutmaßlichen Willens bleibe immer ein gewisses Wagnis.

Gisela Klinkhammer Die Entscheidung über die Einleitung, die weitere

Durchführung oder Beendigung einer ärztlichen Maßnahme wird in einem gemeinsamen Ent- scheidungsprozess von Arzt und Patient bezie- hungsweise Patientenvertreter getroffen. [. . .]

Bei einwilligungsfähigen Patienten hat der Arzt den aktuell geäußerten Willen des angemessen aufgeklärten Patienten zu beachten, selbst wenn sich dieser Wille nicht mit den aus ärztlicher Sicht gebotenen Diagnose- und Therapiemaßnahmen deckt. [. . .]

Bei nichteinwilligungsfähigen Patienten ist die Erklärung ihres Bevollmächtigten beziehungswei-

se ihres Betreuers maßgeblich. Diese sind ver- pflichtet, den Willen und die Wünsche des Patien- ten zu beachten. Falls diese nicht bekannt sind, haben sie so zu entscheiden, wie es der Patient selbst getan hätte (mutmaßlicher Wille). Sie sollen dabei Angehörige und sonstige Vertrauensperso- nen des Patienten einbeziehen, sofern dies ohne Verzögerung möglich ist. Bestehen Anhaltspunkte für einen Missbrauch oder für eine offensichtliche Fehlentscheidung, soll sich der Arzt an das Be- treuungsgericht wenden.

Quelle: Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung

ERMITTLUNG DES PATIENTENWILLENS

Die Ermittlung des Patientenwillens erfolgt in einem abgestuften Prozess.

GRAFIK

Entscheidungskaskade – Wille

Entscheidung zum Wohl des Patienten (Lebensschutz hat Vorrang)

wenn nicht gegeben

wenn nicht vorhanden

wenn nicht möglich

Aktuell erklärter Wille des aufgeklärten und einwilligungsfähigen Patienten (immer vorrangig, wenn vorhanden)

Vorausverfügter Wille, durch eine PV erklärt (fortwirkend und verbindlich, sofern auf die Situation anwendbar)

Mutmaßlicher Wille (aus früheren Äußerungen und Wertvorstellungen zu ermittlen)

Jox et al; Nervenarzt 2008

Deutsches Ärzteblatt

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Heft 24

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15. Juni 2012 A 1229

T H E M E N D E R Z E I T

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