• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Karpaltunnelsyndrom als Berufskrankheit" (08.04.2011)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Karpaltunnelsyndrom als Berufskrankheit" (08.04.2011)"

Copied!
6
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

ÜBERSICHTSARBEIT

Karpaltunnelsyndrom als Berufskrankheit

Klaus Giersiepen, Michael Spallek

ZUSAMMENFASSUNG

Hintergrund: Das Karpaltunnelsyndrom (KTS) wird seit 2003 in der europäischen Berufskrankheitenliste geführt und besetzte im Jahr 2001 Rang 6 der in der Europäischen Union anerkannten Berufskrankheiten. Bislang war in Deutschland eine Anerkennung als Berufskrankheit nicht möglich. Im Juli 2009 hat der ärztliche Sachverständigen- beirat des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales ei- ne wissenschaftliche Begründung zur Anerkennung des KTS als Berufskrankheit veröffentlicht.

Methodik: Selektive Literaturübersicht, die sich mit dem Zusammenhang zwischen beruflichen Tätigkeiten und dem Auftreten eines KTS befasst.

Ergebnisse: Zu schädigenden Einwirkungen auf den N.

medianus und zur Ausbildung eines KTS kommt es durch repetitive manuelle Tätigkeiten mit Beugung und Stre- ckung der Hände im Handgelenk und/oder erhöhtem Kraft- aufwand der Hände und/oder Einwirkung von Hand-Arm- Schwingungen, zum Beispiel durch handgehaltene vibrie- rende Maschinen. Eine mehr als additive Risikoerhöhung ist bei Kombinationseinwirkungen belegt. Gefährdende Belastungen kommen in unterschiedlichen Berufen vor, so dass bei einer Zusammenhangsbeurteilung der Schwer- punkt eher auf die konkret auszuführenden Tätigkeiten als auf eine Berufsbezeichnung zu legen ist. Arbeiten an einer Computertastatur scheinen das Risiko nicht zu erhöhen.

Schlussfolgerungen: Eine berufliche (Mit-)Verursachung des KTS ist epidemiologisch und pathophysiologisch be- legt. Eine Berufskrankheitenanzeige sollte erfolgen bei ge- sicherter KTS-Diagnose und einer entsprechenden berufli- chen Exposition.

►Zitierweise

Giersiepen K, Spallek M: Carpal tunnel syndrome as an occupational disease. Dtsch Arztebl Int 2011;

108(14): 238–42. DOI: 10.3238/arztebl.2011.0238

B

ei einem Karpaltunnelsyndrom (KTS) handelt es sich um eine meist chronische Kompressions- neuropathie des N. medianus im Bereich des Handge- lenks. Das KTS gehört zu den gut diagnostizierbaren Nervendruckschäden und erfüllt pathophysiologisch die Voraussetzungen der Berufskrankheit (BK) 2106

„Druckschädigung der Nerven“. Vom Verordnungsge- ber wurde das KTS jedoch bei der letzten Bearbeitung der wissenschaftlichen Begründung für die BK 2106 im Jahr 2001 – wie auch bandscheibenbedingte Erkran- kungen der Wirbelsäule – ausgenommen (1). In der eu- ropäischen Berufskrankheitenliste wird das KTS seit 2003 als Berufskrankheit unter der Ziffer 506.45 gelis- tet und war bereits im Jahr 2001 in 9 von 12 Mitglieds- ländern als Berufskrankheit anerkennungsfähig. Das KTS rangierte seinerzeit auf Rang 6 der anerkannten Berufskrankheiten (2). In Skandinavien, wie auch au- ßerhalb Europas, sind seit langem Entschädigungen der Betroffenen bei berufsbedingter oder berufsmitbeding- ter Genese möglich (3, 4). Im Juli 2009 wurde in Deutschland vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales die vom ärztlichen Sachverständigenbeirat er- arbeitete wissenschaftliche Begründung für eine Be- rufskrankheit Karpaltunnelsyndrom veröffentlicht (5).

Der Beitrag referiert Auszüge aus der wissenschaftli- chen Begründung für eine Aufnahme des KTS in die deutsche BK-Liste unter besonderer Berücksichtigung der Zusammenhangsfragen zu beruflichen Belastungen in der ausgewerteten Literatur. Zusätzlich wird be- schrieben, in welchen Fällen eine Berufskrankheitenan- zeige bei der zuständigen Unfallversicherung (Berufs- genossenschaft) gestellt werden sollte und welche Ent- schädigungsleistungen zu erwarten sind.

Klinische Symptomatik und Diagnose

Zur klinischen Symptomatik eines KTS gehören Reiz- symptome wie nächtliche Parästhesien (Brachialgia pa- raesthetica nocturna), Spontanschmerzen mit proxima- ler Ausstrahlung, das „Schüttelzeichen“ mit Verschwin- den der Symptomatik nach Ausschütteln der Hände, Ausfallsymptome sowie positive Befunde bei den typi- schen Provokationstests. Hierzu gehören unter anderem das Tinelsche Zeichen, welches durch Beklopfen des Karpalkanals ausgelöst werden kann: Der Patient be- richtet von elektrisierenden Nervenschmerzen entlang des Verlaufs des Nervus medianus bis in die Fingerspit- zen (Grafik 1). Beim Phalen-Test können durch eine endgradige Handflexion palmar nach 30 bis 120 s Dys- ästhesien im Versorgungsbereich des Nervus medianus ausgelöst werden (Grafik 2). Keines dieser klinischen

Zentrum für Sozialpolitik, Gesundheitsökonomie, Gesundheitspolitik und Versorgungsforschung, Universität Bremen: Dr. med. Giersiepen Volkswagen Aktiengesellschaft, Wolfsburg, Gesundheitswesen:

Dr. med. Spallek

(2)

Merkmale besitzt jedoch allein eine ausreichende Evi- denz für eine Diagnose. Typischerweise findet man oft auch motorische und sensorische Ausfallserscheinun- gen im Versorgungsbereich des N. medianus. Ein we- sentlicher reproduzierbarer und objektivierbarer Para- meter ist eine pathologische Veränderung der motori- schen und sensiblen Nervenleitgeschwindigkeit(6, e2).

Das KTS ist die häufigste, nichttraumatische peri- phere Nervenläsion. Frauen sind etwa drei- bis zehnmal häufiger betroffen als Männer, und nicht selten tritt das KTS beidseitig auf (7).

Prävalenz: Erfassungskriterien entscheidend

Die Erfassungskriterien für das KTS spielen eine er- hebliche Rolle bei der Ermittlung der Prävalenz. Bei Einbeziehung nur subjektiver Beschwerden liegen die Prävalenzen in den Literaturangaben deutlich höher als bei klinischen und neurophysiologischen Diagnosekri- terien. In einer niederländischen Arbeit wird die KTS- Prävalenz bei 25- bis 74-jährigen Frauen der Allge- meinbevölkerung mit insgesamt 9,2 Prozent angege- ben. 5,8 Prozent der Frauen hatten Symptome und ei- nen positiven neurologischen Messbefund, bis zum Zeitpunkt der Untersuchung war jedoch anamnestisch noch kein KTS bekannt. Bei 25- bis 74-jährigen Män- nern lag die Gesamtprävalenz mit 0,6 Prozent deutlich niedriger als bei den Frauen (7).

Atroshi et al. bestätigen die deutlich höhere Präva- lenz bei Frauen und geben für Südschweden die Prä - valenz für 25- bis 74-jährige Frauen mit 17,3 Prozent an, wenn die Erhebung auf einer Befragung zu Sympto- men beruht. Wird eine klinische Untersuchung im sel- ben Kollektiv zugrunde gelegt, beträgt die Prävalenz lediglich 4,6 Prozent. Basieren die Angaben nur auf elektrophysiologischen Messungen, sind 5,2 Prozent aller Frauen erkrankt. Fordert man eine klinische Un-

tersuchung und einen pathologischen elektrophysiolo- gischen Messbefund, sind 3,0 Prozent aller Frauen er- krankt. Für Männer in Südschweden betragen die KTS- Prävalenzen entsprechend 10,4 Prozent (Befragung), 2,8 Prozent (Untersuchung), 4,3 Prozent (Elektrophy- siologie) und 2,1 Prozent (Untersuchung und Elektro- physiologie) (8).

Auf Deutschland hochgerechnet wären anhand die- ser Daten derzeit in der Altersgruppe der 25- bis 74-Jährigen zwischen minimal 818 000 und maximal 4,7 Millionen Frauen und zwischen 570 000 und 2,8 Millionen Männer von einem KTS betroffen.

Die KTS-Prävalenz in betrieblichen Untersuchungen kann beispielsweise bei Fließbandbeschäftigten 24 bis 43 Prozent erreichen (9, 10).

Anzahl der jährlichen Neuerkrankungen (Inzidenz)

Die Dekompression des KTS gehört zu den häufigsten Operationen in Deutschland. Jährlich erfolgen circa 300 000 Eingriffe, davon etwa 90 Prozent ambulant (11). Nordstrom et al. geben in der US-Allgemeinbe- völkerung 35 Neuerkrankungen pro 10 000 Personen- jahre an, von 10 000 Gesunden erkranken also 35 in- nerhalb eines Jahres neu an einem KTS (12). In Kanada wurden 9 KTS-Operationen je 10 000 Personenjahre registriert, in Bremen 10 KTS-Operationen/10 000 Per- sonenjahre für Männer und 24 KTS-Operationen/

10 000 Personenjahre für Frauen in der Altersgruppe der 21- bis 64-Jährigen, wobei mindestens eine Hand operiert wurde (13, 14).

In Siena, Italien, betrugen die jährlichen Inzidenz- raten 13,9/10 000 Personenjahre für Männer und 50,6/10 000 für Frauen. Bei den 50- bis 59-jährigen Frauen zeigte sich ein Häufigkeitsgipfel, während es bei Männern eine zweigipfelige Altersverteilung für

GRAFIK 1 Tinelsches

Zeichen, aus (e1), mit freundlicher Genehmigung:

ecomed Verlag Medizin, Landsberg

GRAFIK 2

Phalen-Test, aus (e1), mit freundlicher Genehmigung: ecomed Verlag Medizin, Landsberg

(3)

die 50- bis 59- und 70- bis 79-jährigen gab (15). Die höchsten KTS-Operationsraten in der Allgemeinbe- völkerung wurden 1988 in Ontario/Kanada bei Frauen in der Altersgruppe 50 bis < 55 Jahre (37 je 10 000 Frauen) und bei Männern im Alter von 75 bis < 80 Jahren dokumentiert (24 je 10 000 Männer) (16).

Differenzialdiagnostische Überlegungen

Aufgrund der weiten Verbreitung von KTS in der All- gemeinbevölkerung muss bei der Prüfung einer mög- lichen arbeitsbedingten Ursache neben einer sehr sorgfältigen und möglichst eindeutigen neurologi- schen Diagnostik auch eine intensive Prüfung der ge- nannten Einflussfaktoren und weiterer medizinischer wie auch psychosozialer Differenzialdiagnosen erfol- gen (Kasten 1 und 2). Hinweise zur Therapie eines KTS stehen nicht im Vordergrund dieser Arbeit und können den Leitlinien der Fachgesellschaft entnom- men werden (6).

Frauen haben eine höhere Erkrankungsrate, bedingt durch hormonelle Faktoren zum Beispiel natürlicher Genese wie auch durch Kontrazeptiva mit einer hieraus folgenden Ödemneigung. Während der Schwanger- schaft auftretende KTS bilden sich in der Regel post partum spontan zurück. Besonders nach der Menopau- se steigt bei Frauen das KTS-Risiko an. Darüber hinaus arbeiten Frauen häufiger in Berufen mit KTS-Risiko, und auch Haushaltstätigkeiten können zu ähnlichen Ex- positionen führen. Es ist daher nicht korrekt, die unter- schiedlich hohen geschlechtsspezifischen KTS-Risiken ausschließlich auf hormonelle Unterschiede zurückzu- führen (17).

Risikobelastete Tätigkeiten und Berufe

Ein kausaler Zusammenhang zwischen manuellen Be- lastungen in verschiedenen Berufen und dem Auftre- ten eines KTS ist aus pathophysiologischer und epide- miologischer Sicht hinreichend gesichert (18–20) (Kasten 1).

Ein gemeinsames Merkmal der schädigenden Tätig- keiten sind manuelle Anforderungen, die grundsätzlich im Einzelfall zu einer Volumenzunahme im Karpaltun- nel mit Druckerhöhung auf den N. medianus führen können. Solche Tätigkeiten können in unterschiedli- chen Berufsgruppen vorkommen (Grafik 3). Bei der Zusammenhangsbeurteilung ist im Einzelfall der Schwerpunkt mehr auf die konkret auszuführenden Tä- tigkeiten als nur auf eine Berufsbezeichnung zu legen.

Studien belegen eine mehr als additive Risikoerhöhung für das Auftreten eines KTS insbesondere bei Kombi- nationswirkungen entsprechender arbeitsbedingter Faktoren. Besonders beim Umgang mit handgehaltenen vibrierenden Werkzeugen ist davon auszugehen, dass diese mit Kraftaufwand der Fingerbeuger und entspre- chenden Zwangshaltungen der Finger und des Handge- lenks festgehalten werden müssen, so dass sich hier mehrere Expositionskomponenten überlagern (18, 19).

Eine aktuelle Übersicht weist beispielsweise bei einer durchschnittlichen Anforderung an die Handkraft von

> 4 kg oder repetitiven Arbeiten mit Zykluszeiten KASTEN 1

Risikofaktoren

Repetitive manuelle Tätigkeiten mit Beugung und Streckung der Hände im Handgelenk und/oder

Erhöhter Kraftaufwand der Hände (kraftvolles Greifen) und/oder

Einwirkung von Hand-Arm-Schwingungen, zum Beispiel durch handgehaltene vibrierende Maschinen wie handgeführte Motorsägen und Steinbohrer, die zu einer Volumenzunahme mit Druckerhöhung im Karpaltunnel führen.

Gefährdet sind zum Beispiel Fließbandarbeiter, Fleischverpacker, Geflügelverarbei- ter, Gärtner, Musiker, Landwirte, Mechaniker sowie Fabrik- und Bauarbeiter, Forst - arbeiter beim Umgang mit handgehaltenen vibrierenden Werkzeugen, Kassierer im Supermarkt mit Umsetzen von Lasten, Masseure und Polsterer (18–20).

GRAFIK 3

Inzidenzraten des Karpaltunnelsyndroms nach Wirtschaftsbereichen, adapt. an e8 KASTEN 2

Differenzialdiagnostik (6)

Häufige Differenzialdiagnosen

Zervikale Radikulopathie der Wurzeln C6 und C7

Polyneuropathie

Seltenere Differenzialdiagnosen

Läsionen oder anderweitige Kompressionssyndrome wie Pronator-Syndrom, Thoracic-outlet-Syndrom oder Skalenus-Syndrom

Nicht neurogene beziehungsweise anderweitige Erkrankungen wie Unterarm- Kompartment-Syndrom, Polymyalgie, Raynaud-Syndrom oder Borrelliose

(4)

< 10/s und bei gleichen, sich wiederholenden Arbeitsin- halten in mehr als der Hälfte der Zykluszeiten auf ar- beitsbedingte Ursachen für ein KTS hin (20).

Für Tätigkeiten am Computer mit PC-Tastatur und Maus liegen aufgrund heterogener Diagnosekriterien, nicht miteinander vergleichbarer Studiendesigns und vielen individuellen und psychosozialen Einflussfakto- ren derzeit sehr widersprüchliche Ergebnisse vor (21, e3–e5). In systematischen Reviews und Übersichtsar- beiten konnten bislang keine Risikoerhöhungen nach- gewiesen werden (19, 20, e6, e7).

Latenzzeit

Zum zeitlichen Verlauf bis zum Auftreten eines KTS liegen in der Literatur unterschiedliche Angaben vor, ganz überwiegend reichen kurze Expositionszeiten aus (22). So fanden Gorsche et al. innerhalb eines Jahres 11 Prozent Neuerkrankte in einem Schlachtbetrieb (23). In der taiwanesischen Fischindustrie war nach Chiang et al. das KTS-Risiko dann am höchsten, wenn die Exposition weniger als 12 Monate betragen hatte (24). Ein Kausalzusammenhang ist plausibel, wenn der Patient mehrere Monate bis wenige Jahre nach ei- ner Exposition erkrankt. Bei arbeitsbedingter Verursa- chung ist zudem von einem früheren Erkrankungsbe- ginn gegenüber der Allgemeinbevölkerung auszuge- hen (18, 22).

Anzeige als Berufskrankheit

Eine BK-Anzeige mit Verdacht auf eine berufsbeding- tes KTS sollte bei der zuständigen Berufsgenossen- schaft als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung, erstattet werden, wenn die Symptomatik über Monate in Zusammenhang steht mit repetitiven manuellen Tä- tigkeiten mit erhöhtem Kraftaufwand der Hände, zum Beispiel durch kraftvolles Greifen und/oder wenn eine längere Exposition durch handgehaltene vibrierende Maschinen wie handgeführte Motorsägen und Stein- bohrer besteht.

Tritt die Erkrankung bei Männern auf, ist nach der- zeitigem Kenntnisstand eine berufliche Ursache hierfür wahrscheinlicher als bei Frauen; dies ist ebenfalls bei jüngeren Berufstätigen der Fall. Bei Frauen spricht ein Erkrankungsbeginn vor der Menopause ebenfalls eher für eine berufliche Verursachung.

Das KTS sollte neurologisch bestätigt werden un- ter Einbezug beider Handgelenke (N. medianus) und der erwähnten Differenzialdiagnosen (Kasten 2). Fer- ner sollte eine Läsion des N. ulnaris ausgeschlossen werden.

Eine berufliche Mitverursachung des KTS wurde in vielen Übersichtsarbeiten dokumentiert (13, 14, 18, 19, 20, 22, 25). Probleme sind bei der Zusammenhangsbe- urteilung in Bezug auf die beruflichen Belastungen vor- stellbar, wenn es sich um verschiedene Tätigkeiten han- delt, bei denen die in der wissenschaftlichen Begrün- dung erwähnten auslösenden Merkmale nur kurzzeitig, selten oder mit geringem Kraftaufwand vorkommen.

Auch bei mehreren gleichzeitig bestehenden Erkran- kungen an einer Extremität wird die Abgrenzung zu ei-

ner definierten Berufskrankheit oft schwierig sein, bei- spielsweise bei einer Friseurin, die an Epicondylitis, KTS und gegebenenfalls Tendovaginitis am selben Arm leidet.

Dies hat der ärztliche Sachverständigenbeirat beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales mit der Veröffentlichung der wissenschaftlichen Begründung erkannt – mit der Konsequenz, solchen Beurteilungs- problemen verstärkt in wissenschaftlichen Untersu- chungen nachzugehen.

Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) und erwartete Entschädigungsleistungen

Im deutschen Unfallversicherungsrecht wird bei einer kompletten distalen Medianusläsion, zum Beispiel bei einem Arbeitsunfall, eine Minderung der Erwerbsfähig- keit von 25 Prozent, in seltenen Fällen bis maximal 30 Prozent, gewährt. Beim einem KTS ist in aller Regel aufgrund der guten Therapiemöglichkeiten nicht mit ei- ner kompletten oder dauerhaften Medianusläsion zu rechnen, sondern allenfalls mit einer leichtgradigen sensomotorischen Ausfalls- oder Reizsymptomatik.

Damit wird nur bei einer weiteren Berufskrankheit oder einer durch einen Arbeitsunfall schon bestehenden

„Stützrente“ gemäß § 56 I 2 SGB VII eine Anerken- nung möglich sein, die mit einer finanziellen Entschä- digung verbunden ist.

Unabhängig von der Höhe der tatsächlich festge- stellten Minderung der Erwerbsfähigkeit werden bei Anerkennung einer Berufskrankheit jedoch die Kosten der medizinischen Versorgung von der Unfallversiche- rung übernommen und gegebenenfalls den gesetzlichen Krankenkassen erstattet (Anerkennung ohne Renten- zahlung). Diese Verlagerung der Kosten wird zu ver- mehrten Anstrengungen seitens der Berufsgenossen- schaften und Arbeitgeber führen, durch entsprechende ergonomische und arbeitsorganisatorische Veränderun- gen am Arbeitsplatz das Auftreten eines Karpaltunnel- syndroms zu verhindern.

KERNAUSSAGEN

Das Karpaltunnelsyndrom (KTS) rangierte bereits im Jahr 2001 auf Rang 6 der in der EU anerkannten Berufskrankheiten.

Eine Anerkennung als Berufskrankheit ist in Deutschland seit Juli 2009 möglich.

Schädigende Einwirkungen sind bei Tätigkeiten mit repetitiven Bewegungen der Hände mit Beugung und Streckung im Handgelenk, bei erhöhtem Kraftauf- wand der Hände und bei Einwirkungen von Hand-Arm-Schwingungen zu er- warten, die zu einer Druckerhöhung im Karpaltunnel führen. Kombination der Expositionen steigert das Erkrankungsrisiko.

Eine Berufskrankheitenanzeige sollte erfolgen, wenn die Diagnose KTS ge- sichert ist und mindestens über Monate eine berufliche Exposition mit den schädigenden Einwirkungen für den überwiegenden Teil der Arbeitsschicht vorgelegen hat.

Bei Büroberufen, insbesondere bei Arbeiten an einer Computertastatur, konnten bislang keine Risikoerhöhungen nachgewiesen werden.

(5)

Interessenkonflikt

Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Manuskriptdaten

eingereicht: 28. 12. 2009, revidierte Fassung angenommen: 14. 4. 2010

LITERATUR

1. Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin:

Berufskrankheitenverordnung. www.dgaum.de/index.php/recht/

berufskrankheiten-verordnung/merkblaetter/190-merkblatt2106 drucknerven

2. Karjalainen A, Niederlaender E: Occupational diseases in Europe in 2001. European Communities: Statistics in focus. 15/2004 http://epp.eurostat.ec.europa.eu/cache/ITY_OFFPUB/KS- NK-04–015/EN/KS-NK-04–015-EN.PDF

3. Gorsche RG, Wiley JP, Brant R, Renger RF, Sasyniuk TM, Burke N:

Comparison of outcomes of untreated carpal tunnel syndrome and asymptomatic controls in meat packers. Occup Med (Lond) 2002;

52: 491–6.

4. Bylund SH, Burström L, Knutsson A: A descriptive study of women injured by hand-arm vibration. Ann Occup Hyg 2002; 46: 299–307.

5. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung: Wissenschaftliche Begründung für die Berufskrankheit „Druckschädigung des Nervus medianus im Carpaltunnel. Gemeinsames Ministerialblatt 2009; 27:

573–81.

6. Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachge- sellschaften: Leitlinie: Diagnostik und Therapie des Karpaltunnel- syndroms. Version 11/2006

www.uni-duesseldorf.de/AWMF/ll/005–003m.htm

7. de Krom MCTFM, Kester ADN, Knipschild PG: Carpal tunnel syndro- me: prevalence in the general population. J Clin Epidemiol 1992;

45: 373–6.

8. Atroshi I, Gummesson C, Johnsson R, Ornstein E, Ranstam J, Rosen I: Prevalence of carpal tunnel syndrome in a general population.

JAMA 1999; 282: 153–8.

9. Werner RA, Franzblau A, Gell N, Hartigan AG, Ebersole M, Arm- strong TJ: Incidence of carpal tunnel syndrome among automobile assembly workers and assessment of risk factors. J Occup Environ Med 2005; 47: 1044–50.

10. Bonfiglioli R, Mattioli S, Spagnolo MR, Violante FS: Course of symptoms and median nerve conduction values in workers performing repetitive jobs at risk for carpal tunnel syndrome. Occup Med 2006; 56: 115–21.

11. Bundesgeschäftsstelle Qualitätssicherung: Karpaltunnelsyndrom.

2007. www.bqs-qualitaetsindikatoren.de/2007/ergebnisse/leis tungsbereiche/karpaltunnelsyndrom/index_html

12. Nordstrom, DL, DeStefano F, Vierkant RA, Layde PM: Risk factors for carpal tunnel syndrome in a general population. Occup Environ Med 1997; 54: 734–40.

13. Rossignol M, Stock S, Patry L, Armstrong B: Carpal tunnel syndro- me: what is attributable to work? The Montreal study. Occup Envi- ron Med 1997; 54: 519–23.

14. Giersiepen K, Eberle E, Pohlabeln H: Populationsbezogene Fall-Kon- trollstudie stützt Zusammenhang zwischen beruflichen Einflüssen und dem Carpaltunnel-Syndrom. In: A.W.Rettenmeier, C. Feldhaus, (eds.):

Dokumentationsband der 39. Jahrestagung der Deutschen Gesell- schaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e.V., 1999; 403–7.

15. Mondelli M, Giannini F, Giacchi M: Carpal tunnel syndrome inci- dence in a general population. Neurology 2002; 58: 289–94.

16. Liss GM, Armstrong C, Kusiak RA, Gailitis MM: Use of provincial health insurance plan billing data to estimate carpal tunnel syndrome morbidity and surgery rates. Am J Ind Med 1992; 22: 395–409.

17. McDiarmid M, Oliver M, Ruser J, Gucer P: Male and female rate dif- ferences in carpal tunnel syndrome injuries: personal attributes or job tasks? Environ Res 2000; 83: 23–32.

18. Bernard BP, (ed.): Musculoskeletal disorders and workplace factors.

A critical review of epidemiologic evidence for work-related muscu- loskeletal disorders of the neck, upper extremity, and low back. US Department of Health and Human Services, National Institute for Occupational Safety and Health 1997. http://www.cdc.gov/niosh/

docs/97-141/

19. Palmer KT, Harris EC, Coggon D: Carpal tunnel syndrome and its re- lation to occupation: a systematic literature review. Occup Med 2007; 57: 57–66.

20. van Rijn RM, Huisstede BMA, Koes BW, Burdorf A: Associations between work-related factors and the carpal tunnel syndrome—

a systematic review. Scand J Work Environ Health 2009; 35: 19–35.

21. Andersen JH, Thomsen JF, Overgaard E, et al.: Computer use and carpal tunnel syndrome: a 1-year follow-up study. JAMA 2003; 2963–9.

22. Masear VR, Hayes JM, Hyde AG: An industrial cause of carpal tun- nel syndrome. J Hand Surg [Am] 1986; 11: 222–7.

23. Gorsche RG, Wiley JP, Renger RF, Brant RF, Gemer TY, Sasyniuk TM:

Prevalence and incidence of carpal tunnel syndrome in a meat pa- cking plant. Occup Med 1999; 56: 417–22.

24. Chiang HC, Ying-Chi KO, et al.: Prevalence of shoulder and upper- limb disorders among workers in the fish-processing industry.

Scand J Work Environ Health 1993; 19: 126–31.

25. Armstrong T, Dale AM, Franzblau A, Evanoff BA: Risk factors for car- pal tunnel syndrome and median neuropathy in a working populati- on. J Occup Environ Med 2008; 50: 1355–64.

Anschrift für die Verfasser Dr. med. Michael Spallek Volkswagen Aktiengesellschaft Gesundheitswesen Postfach 1599 38436 Wolfsburg

michael.spallek@volkswagen.de

SUMMARY

Carpal Tunnel Syndrome as an Occupational Disease

Background: Carpal tunnel syndrome (CTS) has been listed since 2003 in the European Union’s list of occupational diseases. In 2001, it took sixth place in frequency among all occupational diseases recognized in the European Union. It was not listed as an occupational disease in Ger- many until July 2009, when the medical expert advisory panel of the German Federal Ministry of Labour and Social Affairs issued an evalua- tive paper supporting its listing.

Methods: We selectively reviewed the literature on the potential causati- on of CTS by occupational activities.

Results: Repetitive manual work tasks involving flexion and extension at the wrist, forceful grip with the hand, and/or vibrations of the hand and arm, such as are induced (for example) by hand-held vibrating tools, can damage the median nerve and cause CTS. A combination of these exposures has been found to raise the risk of CTS with a more than ad- ditive effect. Harmful exposures arise in a wide variety of occupations;

in judging whether a particular case of CTS is of occupational origin, the physician has to consider the actual manual tasks performed by the patient, rather than merely the job title. Working at a computer key- board seems not to raise the risk of CTS.

Conclusion: The causation of CTS by occupational activities, either alo- ne or in combination with other factors, has been well documented by epidemiological data and is pathophysiologically plausible. In Germany, a physician who diagnoses carpal tunnel syndrome in an employee with a relevant, damaging occupational exposure is required to report the case to the German Social Accident Insurance.

Zitierweise

Giersiepen K, Spallek M: Carpal tunnel syndrome as an occupational disease.

Dtsch Arztebl Int 2011; 108(14): 238–42. DOI: 10.3238/arztebl.2011.0238

@

Mit „e“ gekennzeichnete Literatur:

www.aerzteblatt.de/lit1411

The English version of this article is available online:

www.aerzteblatt-international.de

(6)

ÜBERSICHTSARBEIT

Karpaltunnelsyndrom als Berufskrankheit

Klaus Giersiepen, Michael Spallek

eLITERATUR

e1. Spallek M, Kuhn W: Funktionsorientierte körperliche Untersu- chungssystematik. Die fokus Methode zur Beurteilung des Bewe- gungsapparates in der Arbeits- und Allgemeinmedizin. Heidel- berg, München, Landsberg: Ecomed Verlag Medizin 2009.

e2. Boocock MG, Collier J, McNair PJ, Simmonds M, Larmer PJ, Arm- strong B: A framework for the classification and diagnosis of work related upper extremity conditions: systematic review. J Semar- thrit 2009; 38: 296–311.

e3. Al-Hashem FH, Khali ME: The effect of long-term use of computer mouse devices on median nerve entrapment. Neurosciences 2008; 13: 131–5.

e4. Aydeniz A, Gürsoy S: Upper extremity musculoskeletal disorders among computer users. Türk J Med Sci 2008; 38: 235–8.

e5. Tornqvist EW, Hagberg M, Hagman M, Risberg EH, Toomingas A:

The influence of working conditions and individual factors on the incidence of neck and upper limb symptoms among professional computer users. Int Arch Occup Environ Health 2009; 82:

689–702.

e6. Friedebold A, Scutaru C, Mache S, Quarcoo D, Groneberg DA, Spallek M: Das Karpaltunnelsyndrom – eine klinische Übersicht.

Zbl Arbeitsmed 2009; 59: 242–51.

e7. Thomsen JF, Gerr F, Atroshi I: Carpal tunnel syndrome and the use of computer mouse and keyboard: a systematic review. BMC Musculoskelet Disord 2008; 9: 134.

e8. Schneider E, Irastorza X (European Agency for Safety and Heath ot work [EU-OSHA]): Work related muskuloskeletal disorders in the EU-fact and figures 2010. http: osha.europa.eu/

en/pblications/reports/TER009009ENC/view

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Medizinstudenten, die sich während ihres Klinik- praktikums mit dem AIDS- Erreger HIV infiziert haben, leiden unter einer Berufs- krankheit und haben damit Anspruch auf Leistungen

Da das Gleichgewicht in der Praxis aber nicht erreicht wird, ist die reale Strahlen- exposition bis zu 50 Prozent geringer, aber immer noch erheblich, wenn sie mit den

Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähri- ges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die

Der Staat ist ei- nem Rechtsgutachten zufolge für HIV-Infektionen durch Blut oder Blutprodukte mit- verantwortlich und kann da- her für AIDS-Erkrankungen haftbar gemacht

Obwohl keine Adjustierung für relevante Confounder (wie z. das Rauchverhalten) erfolgte, wurde diese Studie dennoch als methodisch akzeptabel bewertet, da der Risikoschätzer

Ist der Arzt bei der Be- handlung eines Patienten mit Berufs- krankheit zur Auffassung gelangt, daß durch seine Diagnose wie auch Bera- tungstätigkeit der Betroffene einer- seits in

Ist der Arzt bei der Be- handlung eines Patienten mit Berufs- krankheit zur Auffassung gelangt, daß durch seine Diagnose wie auch Bera- tungstätigkeit der Betroffene einer- seits in

Die Ergebnisse sind in Überein- stimmung mit früheren Untersuchun- gen dahingehend, daß der fehlende Nachweis spezifischer IgE-Antikör- per gegen Naturlatex im Serum das Vorliegen