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Archiv "Anerkennung von Wirbelsäulenschäden als Berufskrankheit" (22.09.1995)

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(1)

Jürgen Krämer

Stephan Brandenburg

Z

um 1. Januar 1993 ist die zweite Verordnung zur Änderung der BKVO (Berufskrankheiten- verordnung) in Kraft getreten.

Artikel 1 dieser Änderungsverord- nung enthält fünf neue Berufskrank- heitentatbestände. Drei der neuen Be- rufskrankheitentatbestände betreffen berufsbedingte Verschleißerkrankun- gen der Wirbelsäule, die mit Ausnah- me der Nummer 2107 (Abrißbrüche der Wirbelfortsätze, sogenannte Schipperkrankheit) bis dahin nicht in der Berufskrankheitenliste enthalten waren. Die neuen Berufskrankheiten- tatbestände sind in ihrem Wortlaut in Tabelle 1 wiedergegeben.

Diese drei neuen Berufskrank- heitentatbestände gehen auf entspre- chende Empfehlungen des beim Bun- desministerium für Arbeit und Sozial- ordnung gebildeten Ärztlichen Sach- verständigenbeirats, Sektion Arbeits- medizin, zurück. Veranlassung für die Aufnahme von Wirbelsäulenschäden in die Liste der Berufskrankheiten waren:

1. Neuere Untersuchungen, die ein gehäuftes Vorkommen von Wirbel- säulenschäden durch körperliche Be- lastung nachweisen konnten (3, 5, 6, 9).

2. Der Einigungsvertrag, der die Bundesregierung zu der Prüfung ver- pflichtet hat, inwieweit Berufskrank- heitentatbestände der DDR bei der Fortentwicklung der BKVO berück- sichtigt werden können. Die Berufs- krankheit Nr. 70 in der DDR betraf Verschleißkrankheiten der Wirbel- säule (Bandscheiben, Wirbelkörper- abschlußplatten, Wirbelfortsätze, Bänder, kleine Wirbelgelenke) durch langjährige mechanische Überbean- spruchung.

Übergangsregelung für die Anerkennung

Ergänzend zu der Erweiterung der BKVO wurde eine Rückwir- kungsregelung eingeführt. Danach ist

auf Antrag auch in solchen Fällen ein Ermittlungsverfahren und gegebe- nenfalls eine Berufskrankheit anzu- erkennen, in denen der Versiche- rungsfall zwar vor dem Inkrafttreten der zweiten Änderungsverordnung, aber nach dem 1. März 1988 eingetre- ten ist (1). Die Rückwirkungsklausel sagt, daß die berufsbedingte Schädi- gung noch nach dem 31. März 1988 stattgefunden haben muß. Wer also vor diesem Zeitpunkt die in Frage kommende berufliche Tätigkeit schon aufgegeben hatte, fällt nicht unter die neue Berufskrankheiten- verordnung.

Voraussetzungen für die Anerkennung der „Berufskrankheit Wirbelsäule"

Merkblätter

Erläuterungen zu den medizini- schen und arbeitstechnischen Voraus- setzungen der neuen Berufskrankhei- ten finden sich in den vom Bundesmi- nisterium für Arbeit und Sozialord- nung veröffentlichten Merkblättern

Orthopädische Universitätsklinik (Direktor:

Prof. Dr. med. Jürgen Krämer) im St.-Josef-Hos- pital, Bochum

für die ärztliche Untersuchung bei den Berufskrankheiten 2108 bis 2110 (13). Diese Merkblätter besitzen kei- ne Rechtsverbindlichkeit und richten sich an den Arzt, der nach § 5 der BKVO zu entscheiden hat, ob der be- gründete Verdacht auf das Vorliegen einer Berufskrankheit zu bejahen und deshalb eine Berufskrankheitenan- zeige zu erstatten ist. Die Beurteilung, ob tatsächlich im Einzelfall eine Be- rufskrankheit nach den Nrn. 2108 bis 2110 anzuerkennen ist, erfolgt nach differenzierten Kriterien, auf die nachfolgend eingegangen wird.

Relevante

Wirbelsäulenbelastung

Allen Berufen, die von den neu- en Berufskrankheiten erfaßt werden, sind folgende Wirbelsäulenbelastun- gen gemeinsam:

1. Heben oder Tragen schwerer Lasten, vor allem mit Torsionsbela- stung der Wirbelsäule oder gleichzei- tigem Vorbeugen.

2. Haltungskonstanz mit extre- mer Rumpfvorbeugung.

3. Vertikale Einwirkung von Ganzkörperschwingungen im Sitzen.

Der Ärztliche Sachverständigen- beirat beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung mißt die- sen Belastungen für die Entstehung bandscheibenbedingter Erkrankun-

Anerkennung von

Wirbelsäulenschäden als Berufskrankheit

Mit der Änderung der Berufskrankheitenverordnung (BKVO) sind seit Januar 1993 auch Wirbelsäulenschäden als Berufskrankheit aufgenommen worden.

Im Fachgutachten sind anlagebedingte von berufsabhängigen Form- und Funk-

tionsstörungen der Wirbelsäule zu differenzieren. Wichtigster Teil der Begut-

achtung ist die Beurteilung der Erheblichkeit einer bandscheibenbedingten Er-

krankung, vor allem im Hinblick auf die Volkskrankheit Kreuzschmerz. Die

neue Verordnung hat nicht nur Konsequenzen für Entschädigungsansprüche

der Versicherten, sondern wird auch die Entwicklung von Präventionsstrategien

fördern. Neben der ergonomischen Gestaltung der Arbeitsplätze geht es dabei

vor allem um die Vorbeugung durch qualifizierte Rückenschulprogramme.

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_Tabelle 1

Berufskrankheitentatbestände gemäß BKVO, Nrn. 2108 bis 2110

Nr. 2108

Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähri- ges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwun- gen haben, die für die Entstehung, Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.

Nr. 2109

Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Halswirbelsäule durch langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der Schulter, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, Verschlimmerung oder das Wieder- aufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.

Nr. 2110

Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjährige vorwiegend vertikale Einwirkung von Ganzkörperschwingungen im Sitzen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, Verschlimmerung oder das Wiederaufleben ursächlich waren oder sein können.

gen einen höheren Stellenwert zu als etwa den Belastungen durch längeres Sitzen. Angehörige von Berufsgrup- pen mit sitzender Tätigkeit oder Ar- beit im Stehen sind in der neuen Be- rufskrankheitenverordnung nicht be- rücksichtigt.

Wirbelsäulenbelastung (LWS) durch Heben oder Tragen und Rumpfbeugehaltung (BK 2108) Die in dem Merkblatt zu BK 2108 genannten Lastgewichtgrenzwerte wurden für Präventionszwecke ent- wickelt und können für die Beurtei- lung der ursächlichen Zusammenhän- ge im Einzelfall nur grobe Anhalts- punkte geben. Relevante Belastun- gen liegen im allgemeinen nur vor, wenn die Lastgewichte mit einer ge- wissen Regelmäßigkeit in der über- wiegenden Zahl der Arbeitsschichten gehoben oder getragen werden. Von besonderer Bedeutung ist die Körper- haltung, da sich die Wirbelsäulenbela- stung mit der Entfernung der Last von der Körperachse unter Umständen um ein Vielfaches erhöht.

In Tabelle 2 finden sich Beispiele für Berufe, die mit dem Heben und Tragen schwerer Lasten oder (und) Arbeiten in extremer Rumpfbeuge- haltung einhergehen.

Andere ähnliche Berufstätigkei- ten kommen ebenfalls in Frage. Letzt- lich entscheidet die Stellungnahme des Technischen Aufsichtsdienstes (TAD) des Unfallversicherungsträ- gers darüber, ob eine relevante beruf- liche Wirbelsäulenbelastung vorgele- gen hat.

Wirbelsäulenbelastung durch vertikale Einwirkung von Ganzkörperschwingungen (BK 2110)

Schwingungen im Resonanzbe- reich stören die druckabhängigen Flüssigkeitsverschiebungen in der Bandscheibe. Epidemiologische Stu- dien wiesen den Zusammenhang von gehäuft auftretenden Kreuzschmer- zen mit Vibrationseinwirkungen, zum

Beispiel bei Hubschrauberpiloten, Lastwagenfahrern . und Traktorfah- rern nach (8). Die Ganzkörperschwin- gungen sind nur in sitzender Position bei ungefederten Fahrzeugen wirk-

sam. Unsere Untersuchungen haben gezeigt, daß bei den Berufsgruppen, die Vibrationen unterschiedlicher Art ausgesetzt sind, eher Sitzverhalten und Haltungskonstanz für das Auftre- ten von Kreuzschmerzen maßgebend sind als die Vibration selbst (8).

Bandscheibenbedingte Erkrankungen

der Halswirbelsäule (BK 2109) Berufsspezifische Belastungen sind an der Halswirbelsäule nicht so häufig wie an der Lendenwirbelsäu- le. Ebenso wie im LWS-Bereich kann es auch an der Halswirbelsäule durch wiederholte Torsionsbean- spruchung und asymmetrische Bela- stung über einen längeren Zeitraum zu Zermürbungserscheinungen vor allem der unteren zervikalen Bewe- gungssegmente kommen.

Als typisches Beispiel für einen Anwendungsfall der Nummer 2109 wird die Tätigkeit der Fleischträger beschrieben, die die Tierhälften auf dem Kopf beziehungsweise auf dem Schultergürtel tragen.

Die nach vorn und seitwärts er- zwungene Kopfbeugehaltung und das gleichzeitige Anspannen der Nackenmuskulatur werden als die maßgeblichen schädigenden Fakto- ren genannt. Davon ausgehend er- gibt sich für diesen Berufskrankhei- tentatbestand nur ein enger Anwen- dungsbereich.

Langjährige Exposition Alle drei neuen Berufskrankhei- tentatbestände setzen eine langjährige Einwirkung voraus. In Anlehnung an die Auslegungsrichtlinie zu Nr. 70 der Berufskrankheitenliste der DDR sind

etwa zehn Berufsjahre mit belasten- der Tätigkeit zu fordern. Wenn band- scheibenbedingte Erkrankungen, et- wa in Form von rezidivierenden Lum- balsyndromen, Bandscheibenprotru- sionen mit entsprechenden klinischen Symptomen deutlich vor Ablauf der zehn Jahre auftreten, sind vorwiegend anlagebedingte Faktoren für die Ent- stehung verantwortlich zu machen.

Die berufsspezifischen schädigenden Einflüsse auf das Bewegungssegment haben dann noch nicht so lange einge- wirkt, daß diesen eine wesentliche Be- deutung für die bandscheibenbeding- te Erkrankung zuzumessen ist.

Gartenarbeiten, nebenberufliche Handwerkertätigkeiten und Sport kön- nen ebenfalls zu Wirbelsäulenschäden führen. Bei normaler beruflicher Tätig- keit fallen diese nebenberuflichen Ak- tivitäten quantitativ aufgrund geringe- rer Expositionszeiten nicht ins Ge- wicht. Gelegentliche Gartenarbeit so- wie handwerkliche Tätigkeit und Sport führen nicht zu den Überlastungsschä- den im Bewegungssegment, wie sie nach über zehnjähriger Wirbelsäulen- belastung im Rahmen der genannten beruflichen Tätigkeiten auftreten.

Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 38, 22. September 1995 (53) A-2483

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Bandscheibenbedingte Erkrankungen

Gegenstand der neuen Berufs- krankheitenverordnung sind nicht röntgenologisch sichtbare Verschleiß- erscheinungen im Bewegungsseg- ment (Wortlaut der Berufskrankheit Nr. 70 der DDR), sondern bandschei- benbedingte Erkrankungen, wie zum Beispiel lumbales Wurzelsyndrom, Segmentinstabilität mit lokaler oder radikulärer Symptomatik.

Osteochondrose, Spondylose, Spondylarthrose und andere radiolo- gische Beschreibungen degenerativer Veränderungen haben nur im Zusam- menhang mit entsprechenden klini- schen Symptomen einen Krankheits- wert (8). Die jetzt gewählte Krank- heitsumschreibung dient der Vermei- dung einer Überbewertung röntgeno- logischer Befunde, bedeutet aber nicht einen Verzicht auf den Nachweis eines substantiellen Wirbelsäulenver- schleißschadens (1). Dies ergibt sich schon aus dem Erfordernis der Band- scheibenbedingtheit der Erkrankung, das heißt, die Erkrankung muß mit ei- nem objektivierbaren Bandscheiben- schaden in ursächlicher Wechselbe- ziehung stehen. Die Abgrenzung ei- nes durch berufliche äußere Einwir- kungen verursachten oder verschlim- merten Wirbelsäulenverschleißscha- dens ist dadurch erheblich erschwert, daß aufgrund konstitutioneller Un- terschiede die schicksalhafte Wirbel- säulendegeneration eine erhebliche Bandbreite aufweist. Ein Krankheits- bild, welches allein in einer altersbe- dingten Degeneration keine ausrei- chende Erklärung findet, sondern auf eine besondere Wirbelsäulenüberbe- anspruchung deutet, ist vom Untersu- cher nur schwer zu ermitteln und setzt eine umfangreiche gutachterliche Er- fahrung und Sachkenntnis voraus.

Anzeige wegen des Verdachts auf eine

„Berufserkrankung Wirbelsäule"

Ermittlungen zum Vorliegen ei- ner Berufskrankheit werden durchge- führt, sobald der Unfallversiche- rungsträger eine Meldung oder An-

zeige erhält, aus der sich entsprechen- de Anhaltspunkte ergeben. In Frage kommen: Meldungen anderer Sozial- versicherungsträger, insbesondere Krankenkassen und Rentenversiche- rungsträger; Anzeigen des Unterneh- mers oder des Versicherten sowie die Ärztliche Anzeige über eine Berufs- krankheit nach § 5 BKVO, die auf dem dafür vorgesehenen amtlichen Vordruck zu erstatten ist. Zu der An- zeige ist jeder Arzt oder Zahnarzt ver- pflichtet, der den begründeten Ver- dacht auf das Vorliegen einer Berufs- krankheit feststellt. In der Praxis sind dazu bei Wirbelsäulenerkrankungen

Tabelle 2

Berufsgruppen, die für die BK 2108 in Frage kommen Bergbau

Be- und Entladearbeiter Stein- und Plattenverleger Maurer

Stahlbetonbauer Schauerleute und andere Lagereiarbeiter

Lastenträger im Transportgewerbe Arbeiten in der Land- und Forst- wirtschaft, im Garten- und Land- schaftsbau

Fischer

Personen, die regelmäßig schwere Werkstücke heben oder tragen, zum Beispiel Arbeiter in Gießerei- en, Schlossereien, Montagearbeiter, Kraftfahrzeughandwerker

Pflegeberufe

neben den Orthopäden vor allem Hausärzte berufen. Letztere kennen neben den Erkrankungen in der Re- gel auch die berufliche Situation des Patienten. Um unnötige Ermittlungs- verfahren, die mit umfangreichem Schriftverkehr — eventuell auch mit weiteren Untersuchungen des Patien- ten — verbunden sind, und spätere Enttäuschungen des Patienten zu ver- meiden, sollten die vorstehend erläu- terten Voraussetzungen stets sorgfäl- tig geprüft werden. Sofern eine Be- rufskrankheiten-Anzeige keine Aus- sicht auf Erfolg hat, sollte dies dem Patienten erläutert werden.

Sind die Bedingungen erfüllt, erfolgt die Anzeige bei dem zustän- digen Unfallversicherungsträger.

Dort werden Ermittlungen zur Be- rufsanamnese und zur Krankheits- anamnese angestellt. Die Wirbelsäu- lenbelastung während der berufli- chen Tätigkeit ergibt sich aus Anga- ben der Betroffenen und des Arbeit- gebers und aus dem Datenmaterial des TAD. Falls erforderlich, erfol- gen im Einzelfall weitere Ermittlun- gen und Befragungen „vor Ort"

durch den TAD.

Schon in dieser Phase kann der Antrag auf Anerkennung einer Beruf- serkrankung abgelehnt werden, wenn die beruflichen Belastungen nicht den Anforderungen der BKVO entspre- chen. Die Ergebnisse der Ermittlun- gen zur Krankheitsanamnese bei den behandelnden Ärzten, Krankenkas- sen und dem Betroffenen selbst wer- den einem beratenden Arzt zur Beur- teilung vorgelegt. Dieser schlägt gege- benenfalls weitere Ermittlungen vor, fordert Befundunterlagen, wie zum Beispiel Röntgenaufnahmen und Operationsberichte, an und kommt zu einer vorläufigen Beurteilung.

Fachgutachten

Bestehen genügend Anhalts- punkte für eine Berufskrankheit, kommt es zum Fachgutachten. Neben einer Bewertung der bisherigen Be- fundunterlagen einschließlich CT, MRT und Operationsberichten er- folgt eine aktuelle gutachterliche Un- tersuchung. Diese enthält neben der allgemeinen und speziellen Anamne- se zur Entwicklung der bandscheiben- bedingten Erkrankung auch einen eingehenden klinisch-neurologischen Untersuchungsbefund einschließlich manuell segmentaler Diagnostik der gesamten Wirbelsäule und der übri- gen Stütz- und Bewegungsorgane.

Es muß festgestellt werden, ob das Zielorgan — bei der BK 2108 und 2110 zum Beispiel die untere Lenden- wirbelsäule — besonders betroffen ist und ob eventuell berufsunabhängige anlagebedingte Veränderungen vorlie- gen. Aufschluß geben unter Umstän- den neu angefertigte Röntgenaufnah- men und Spezialuntersuchungen wie CT und MRT. Besonders schwierig sind Fälle, bei denen anlagebedingte

(4)

Form- und Funktionsstörungen der Bewegungsorgane sowie mögliche be- rufsabhängige Schäden in den betrof- fenen Wirbelsäulenabschnitten gleich- zeitig vorhanden sind.

Selbst wenn Berufsgruppe, Expo- sitionszeit und Wirbelsäulenbeschwer- den für eine Berufserkrankung spre- chen, kann der Antrag abgelehnt wer- den. Es gibt Form- und Funktions- störungen nicht nur an der Wirbelsäule selbst, sondern auch an den übrigen Stütz- und Bewegungsorganen, welche die Bandscheibendegeneration (Dis- kose) in einem oder mehreren Bewe- gungssegmenten begünstigen. Sie wer- den prädiskotische Deformitäten ge- nannt (8). Dabei kann die klinisch und röntgenologisch erkennbare Fehlstel- lung entweder an der Wirbelsäule selbst oder entfernt davon liegen.

Zu den prädiskotischen Defor- mitäten zählen alle Veränderungen der Stütz- und Bewegungsorgane, welche eine anhaltende asymmetrische Bela- stung einer oder mehrerer Zwischen- wirbelabschnitte zur Folge haben. Sko- liosen, Hyperlordosen, asymmetrische Übergangswirbel, Spondylolysen als prädiskotische Deformitäten sind für das frühzeitige und vermehrte Auftre- ten degenerativer Veränderungen an der Lendenwirbelsäule verantwortlich zu machen (8). Auch Beinlängendiffe- renzen mit Beckenschiefstand und schwere einseitige Beinschäden mit Gelenkversteifung und Kontrakturen können zu Überlastungserscheinungen und entsprechenden Verschleißschä- den der Wirbelsäule führen. Art und Ausmaß der Folgeschäden dieser An- omalien sind im Fachgutachten von eventuell hinzugekommenen berufs- bedingten Überlastungserscheinungen zu differenzieren.

Berufsbedingte Überlastungser- scheinungen mit entsprechenden bandscheibenbedingten Erkrankun- gen sind am ehesten in der unteren Lendenwirbelsäule, das heißt, in den Segmenten L4/5, L5/S1 zu erwarten.

In den unteren beiden Bewegungsseg- menten treten die größten Belastun- gen beim Heben, Tragen und Bücken auf. Dementsprechend finden sich hier die meisten degenerativen Verän- derungen und bandscheibenbeding- ten Erkrankungen mit Bandscheiben- protrusion und Prolaps (8). Ein stär- keres Betroffensein der oberen Len-

denwirbelsäulenabschnitte ist eher auf anlagebedingte Faktoren wie juve- nile Aufbaustörungen und Morbus Scheuermann zurückzuführen (8).

Eine vorwiegend anlagebedingte Komponente einer bandscheibenbe- dingten Erkrankung muß auch ange- nommen werden, wenn alle Wirbel- säulenabschnitte gleichmäßig von de- generativen Veränderungen mit ent- sprechenden klinischen Symptomen betroffen sind. Bei der Erhebung der Anamnese und bei der manuell seg- mentalen Untersuchung der Wirbel- säule finden sich dann regelmäßig kli- nische Erscheinungen in Form von In-

Abbildung: Segmentale Untersuchung der Lendenwir- belsäule zur Diagnostik einer lokalen Funktions- störung bei bandscheibenbedingter Erkrankung stabilitäten, Blockierungen mit ent- sprechenden Funktionsstörungen in sämtlichen Wirbelsäulenabschnitten ohne besondere Betonung des Zielor- gans untere Lendenwirbelsäule (Ab- bildung).

Erhebliche oder unerhebliche bandscheibenbedingte Erkrankung

Sofern nach der Berufsanamne- se, unterstützt durch einen eindeuti- gen TAD-Bericht, die technischen Voraussetzungen zur Anerkennung einer BK vorliegen und Anomalien sowie generalisierte Wirbelsäulen- schäden ausgeschlossen sind, kommt der schwierigste Teil des Fachgutach- tens: Es muß festgestellt werden, ob die vorliegende bandscheibenbeding- te Erkrankung erheblich oder uner- heblich ist.

Es gibt kaum einen Menschen, der nicht irgendwann im Laufe seines

Lebens an Beschwerden leidet, die auf degenerative Veränderungen sei- ner Bandscheiben zurückzuführen sind (8). Pathologisch-anatomische Untersuchungen zeigen (2, 4, 10), daß nach dem 30. Lebensjahr jeder Mensch degenerative Veränderungen an seinen Bandscheiben aufweist.

Untersuchungen aus dem Arbeits- kreis „Degenerative Wirbelsäulener- krankungen" der Deutschen Or- thopädischen Gesellschaft haben ge- zeigt, daß jeder zehnte Patient in ei- ner Allgemeinpraxis und jeder zweite Patient beim niedergelassenen Or- thopäden den Arzt wegen einer band- scheibenbedingten Erkrankung auf- sucht (8).

Jede vierte Arbeitsunfähigkeits- bescheinigung und fast jeder zweite Antrag auf Berufsunfähigkeitsrente bei den Rentenversicherungsträgern enthält die Diagnose Bandschei- benschaden (8). Ein gewisses Ausmaß an Wirbelsäulenverschleiß mit daraus resultierenden Schulter/Nacken-, Kreuz- und Ischiasbeschwerden ist dementsprechend heute als Volks- krankheit zu betrachten — im Sinne der Begutachtung für die Berufs- krankheitenverordnung unerheblich.

Im Fachgutachten muß ein durch berufsspezifische Belastungen ver- stärkter Wirbelsäulenschaden mit entsprechender bandscheibenbeding- ter Erkrankung ermittelt werden, der das übliche Ausmaß (Volkskrank- heit) überschreitet.

Anhaltspunkte für die Erheb- lichkeit einer bandscheibenbeding- ten Erkrankung ergeben sich aus der Anamnese mit der Notwendigkeit einer fachorthopädischen ambulan- ten oder stationären Behandlung, gegebenenfalls Operationen. Der aktuelle Befund mit eindeutigen Form- und Funktionsstörungen an der Wirbelsäule und eventuell Be- funde aus den bildgebenden Verfah- ren bestätigen oder widerlegen die Erheblichkeit der bandscheibenbe- dingten Erkrankungen.

Versicherungsrechtliche Entscheidung

Berufsbedingte Wirbelsäulener- krankungen werden nur als Berufs- krankheit anerkannt, wenn sie auch zur Unterlassung der gefährdenden Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 38, 22. September 1995 (55) A-2485

(5)

c) d) j

a) b)

L-' Tätigkeiten gezwungen haben. Durch den Fachgutachter und eventuell un- ter Hinzuziehung des TAD muß ge- klärt werden:

> welche Tätigkeitsbereiche der bisher ausgeübten Beschäftigung für die Erkrankung ursächlich waren oder geeignet sind, die Erkrankung zu verschlimmern;

> ob diese Tätigkeiten bei kon- sequenter Beachtung von Verhaltens- maßregeln (insbesondere Beachtung der Regeln der Rückenschule) oder nach Änderungen der Arbeitsabläufe ohne relevante Gefährdung weiter ausgeübt werden können.

Im Vordergrund der Aktivitäten des Unfallversicherungsträgers ste- hen also Maßnahmen zur Arbeits- platzerhaltung. Nur soweit solche Maßnahmen wegen der Schwere der

Erkrankung oder aus betrieblichen Gründen nicht durchführbar sind, ist ein Unterlassungszwang und damit ei- ne Berufskrankheit anzuerkennen.

Minderung der

Erwerbsfähigkeit (MdE) im Rahmen der BK 2108/09/10 Der für einen Rentenanspruch maßgebende Grad der MdE ist nach

§ 581 RVO abhängig vom Ausmaß der durch die Berufskrankheit be- dingten Gesundheitsstörungen sowie von dem Umfang der dem Versicher- ten dadurch verschlossenen Arbeits- möglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens (14). Maßgeblich für den Vergleich der verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffe- nen ist dabei die individuelle Er-

werbsfähigkeit, die ohne die beruflich verursachte bandscheibenbedingte Erkrankung bestehen würde.

Die Festsetzung der MdE für bandscheibenbedingte Erkrankun- gen ist insofern schwierig, weil diese einen wechselhaften Verlauf zeigen, bei dem sich akute Krankheitsphasen mit Arbeitsunfähigkeit und be- schwerdefreie Intervalle ohne Beein- trächtigung der Arbeitsfähigkeit ab- wechseln. Nur wenn verläßliche An- gaben vom Patienten und in den Ak- ten bezüglich Frequenz und Intensität der Beschwerden über einen längeren Zeitraum vorliegen, kann man als Gutachter eine Einschätzung der MdE vornehmen.

Ein berufsbedingter Wirbelsäu- lenschaden mit geringer Funktions- einschränkung und ohne neurologi-

tf,Ke

So ist es falsch:

Die Schüssel wird mit einer Drehbewegung des Rumpfes

mit fast geraden Beinen aus dem Rücken heraus ange-

hoben. In der Phase b), beim Umsetzen, ist die

Schüssel viel zu weit vom Körper entfernt.

Der gleiche Fehler wie in a) wird beim Absetzen wiederholt.

So ist es richtig:

Die Schüssel wird mit geradem Kreuz und angewinkelten Beinen an- gehoben, man steht direkt vor dem

anzuhebenden Gegenstand. Die Drehbewegung wird durch kleine Schritte vollzogen, der Rumpf bleibt dabei gerade. In d) wird die Schüssel direkt am Körper gehalten. Auch beim

Absetzen steht man frontal zum Gegenstand. Die Körperhaltung ist die gleiche wie in c).

Anleitungen aus der Rückenschule zur Vermeidung von Wirbelsäulenschäden am Arbeitsplatz (aus: Krämer J: Bandscheibenschäden: Vorbeugen durch Rückenschule.

München: Heyne, 1994, 12. Aufl.)

(6)

sehe Symptomatik wird mit einer MdE von zehn Prozent einzuschätzen sein. Bei chronisch rezidivierenden lokalen bandscheibenbedingten Be- schwerden ist eine MdE im rentenbe- rechtigten Bereich von zwanzig Pro- zent, je nach Ausprägung der neuro- logischen Symptomatik auch bis dreißig Prozent, angemessen.

Beim Postdiskotomiesyndrom, das heißt, beim rückenoperierten Problempatienten kann der Vomhun- dertsatz höher liegen.

Vorbeugende Maßnahmen

Gemäß § 3 Absatz 1 BKVO hat der Unfallversicherungsträger mit al- len geeigneten Mitteln der Gefahr ei- ner berufsbedingten Wirbelsäulener- krankung entgegenzuwirken. Als vor- beugende Maßnahmen kommen in Betracht:

—technische Maßnahmen,

—arbeitsplatzbezogene Maß- nahmen der Rückenschule,

—Rehamaßnahmen ambulant und stationär,

—orthopädietechnische Hilfs- mittel, wie zum Beispiel Arbeits- schutzbandagen.

Unabhängig von den neuen Be- rufskrankheitentatbeständen bemüht sich die orthopädische Rückenschule schon seit Jahren in Deutschland um eine Verbesserung der Verhältnisse und Verhaltensweisen zur Vermei- dung von bandscheibenbedingten Er- krankungen unter anderem auch am Arbeitsplatz. Es gibt Fehlhaltungen, wie zum Beispiel die Rundrücken- oder Hohlkreuzposition und fehler- haftes Verhalten wie Torsion des Rumpfes unter Belastung, die bei ge- gebener Veranlagung zu Rückenschä- den und bandscheibenbedingten Er- krankungen führen (Grafik).

In Rückenschulkursen erhalten Patienten nach oder bei drohenden bandscheibenbedingten Erkrankun- gen von Orthopäden, Krankengym- nasten und Rückenschullehrern An- leitungen zum richtigen Heben, Tra- gen, Bücken, Sitzen und erlernen Übungen zur Kräftigung bestimmter Muskelgruppen, welche die Wirbel- säule stabilisieren. Selbst wenn He- ben und Tragen schwerer Lasten so- wie Arbeiten in gebückter Haltung

für bestimmte Berufsgruppen uner- läßlich sind, gibt es mit der Rücken- schule Möglichkeiten, die wirbelsäu- lenschädigenden Einflüsse zu min- dern (8).

Wirbelsäulengerechtes Heben, Tragen, Bücken, Sitzen wird in der Rückenschule systematisch gelehrt.

Die Inhalte der Rückenschule müssen besonders den betroffenen Berufs- gruppen in entsprechenden Kursen oder besser noch direkt am Arbeits- platz zugänglich gemacht werden. Im einzelnen ergeben sich folgende For- derungen für die Prophylaxe von Wir- belsäulenschäden am Arbeitsplatz:

O Bei betriebsärztlichen Unter- suchungen im Rahmen des Arbeitssi- cherheitsgesetzes sollte den prädisko- tischen Deformitäten (vor allem Rundrücken, Skoliose, Spondyloly- sen, asymmetrische Übergangswirbel und anderen Störungen an den Bewe- gungsorganen) besondere Aufmerk- samkeit gewidmet werden. Ungünstig prädisponierte Arbeitnehmer sollten eingehend über Verhaltensweisen zur Vermeidung von Wirbelsäulenüber- beanspruchungen beraten werden.

• Haltungsgerechte Anordnung des Arbeitsplatzes mit Änderungen der Arbeitsweise und Arbeitsorgani- sation: Sitz- und Arbeitsmöbel sowie Hebe- und Tragevorrichtungen soll- ten so gestaltet und individuell ange- paßt sein, daß sie die Wirbelsäule nicht überlasten. Information und Anleitung zur richtigen Haltung und Verhaltensweise erfolgt durch die Rückenschule am Arbeitsplatz.

13 Bei wirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten sollte der Arbeitsrhyth- mus einen regelmäßigen Wechsel zwi- schen Be- und Entlastung, gegebe- nenfalls durch Pausen und Aus- gleichsgymnastik, erlauben. Dies gilt vor allem für Berufsgruppen mit sit- zender Tätigkeit, die von der BKVO nicht erfaßt sind.

O Beachten des psychosozialen Umfeldes und der Zufriedenheit am Arbeitsplatz.

Unzufriedenheit in einem Beruf, der unter die neue Berufskrankhei- tenverordnung Wirbelsäule fällt, führt unweigerlich zu Kreuzschmer- zen mit häufigen Arztkontakten, Kur- aufenthalten und schließlich zum An- trag auf Anerkennung eines Wirbel- säulenschadens als Berufserkran-

kung. Die Vermischung von organi- schen mit psychogenen Störungen an der Wirbelsäule stellt Fachgutachter und Versicherungsträger in solchen Fällen vor schwierige Aufgaben.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1995; 92: A-2482-2487 [Heft 38]

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonderdruck, anzufordern über die Verfasser.

Anschrift der Verfasser:

Prof. Dr. med. Jürgen Krämer Orthopädische Universitätsklinik im St. Josef-Hospital

Gudrunstraße 56 44791 Bochum

Dr. jur. Stephan Brandenburg Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege

Bezirksverwaltung Bochum Kurt-Schumacher-Platz 3-7 44787 Bochum

Anfragen können auch gerichtet werden an:

Hauptverband der gewerblichen Berufsgenos- senschaften e. V., Hauptabteilung Rehabilita- tion. Postanschrift: 53754 St. Augustin

Diskussionsbeiträge

Zuschriften zu Beiträgen im me- dizinisch-wissenschaftlichen Teil — ausgenommen Editorials, Kongreß- berichte und Zeitschriftenreferate — können grundsätzlich in der Rubrik

„Diskussion" zusammen mit einem dem Autor zustehenden Schlußwort veröffentlicht werden, wenn sie in- nerhalb vier Wochen nach Erschei- nen der betreffenden Publikation bei der Medizinisch-Wissenschaftlichen Redaktion eingehen und bei einem Umfang von höchstens zwei Schreib- maschinenseiten (30 Zeilen mit je 60 Anschlägen) wissenschaftlich begrün- dete Ergänzungen oder Entgegnun- gen enthalten.

Für Leserbriefe zu anderen Beiträgen gelten keine besonderen Regelungen (siehe regelmäßige Hin- weise). DÄ/MWR Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 38, 22. September 1995 (57) A-2487

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