„Auf den Punkt" brachte es in der berufspolitischen Diskussion beim 37. Internationalen Fortbil- dungskongreß der Bundesärztekam- mer und der Österreichischen Ärzte- kammer in Meran einer der - in die- sem Jahr erfreulich zahlreichen - jüngeren Teilnehmer: Er habe die vierjährige allgemeinärztliche Wei- terbildung anstreben wollen; könne man ihm denn dazu überhaupt noch raten?
Vorausgegangen waren Refera- te von Kammerpräsident Professor Dr. Gustav Osterwald und Erstem KV-Vorstandsvorsitzenden Dr.
Klaus-Dieter Kossow - beide aus Niedersachsen -, denen etwas Be- merkenswertes gelang. Am Ende ih- rer Darstellungen der berufspoliti- schen Situation aus Sicht der Kam- mern (Osterwald: „Unsere größte Sorge ist nach wie vor die Arzte- zahl") und Kassenärztlichen Verei- nigungen (Kossow: „Die Lage ist je- denfalls besser als die Stimmung") trugen sie nämlich offen einen Mei- nungsstreit aus über die Frage, wie sich die Zukunft der allgemeinärzt- lichen Weiterbildung und der „Arzt im Praktikum"-Phase im Hinblick auf die EG-Richtlinie zur Allge- meinmedizin darstellt.
Qualitätssicherung wird immer wichtiger
Ein solcher Streit in einer Kon- greßveranstaltung mag ungewöhn- lich sein - er war aber jedenfalls ehr- lich und entspricht genau dem ge- genwärtigen Stand der Diskussion in den ärztlichen Organisationen. Und vielleicht hat er es manchem erst richtig anschaulich gemacht, wie schwierig es derzeit für „Arztfunk- tionäre" ist, die Verantwortung für den beruflichen Nachwuchs mit der- jenigen für das hohe Niveau der ärzt- lichen Versorgung der Bevölkerung unter einen Hut zu bringen.
Übrigens: jener junge Kollege bekam seine Antwort, und zwar ein-
mütig: Er solle auf jeden Fall die vol- le Weiterbildung anstreben.
Wobei auch beide Sprecher auf eine Entwicklung aufmerksam mach- ten, die noch nicht überall in ihrer ganzen Bedeutung erkannt wird: Die Qualitätssicherung in der ärztlichen Berufsausübung wird immer wichti- ger. Es werden mehr und mehr Nachweise der Fachkunde und der Qualität verlangt, und sie müssen eingeführt werden, eben um einen überall gleichmäßigen, hohen Stan- dard der ärztlichen Versorgung zu gewährleisten.
Damit wächst auch die Bürokra- tisierung des Arztberufes, die stei- gende Zahl von Richtlinien und Vor- schriften, die der Arzt kennen und beachten muß. Dr. Kossow nannte Verärgerung der Ärzte darüber nur allzu verständlich, auch wenn die Körperschaften - gerade auch die KVen - hier oft nur Aufträge des Staates „weiterreichen". Dazu wie- derum Professor Osterwald: Besser unsere eigenen Vorschriften als eine Fremdkontrolle, etwa über die Qua- litätssicherung von Weiter- und Fort- bildung.
Eine Fülle von Richtlinien in et- was anderem Sinne hatte auch Dr. P.
Erwin Odenbach aufgelistet, Leiter der Abteilung Fortbildung und Wis- senschaft der Bundesärztekammer, der zur Eröffnung des Kongresses über „Ethik in der Medizin - Zur Si- tuation des Arztes zwischen hippo- kratischer Tradition und angewand- ter Bioethik" sprach. Allein vom Weltärztebund gibt es bereits fast drei Dutzend Resolutionen, Dekla- rationen, Stellungnahmen. Die Bun- desärztekammer brauchte 200 Buch- seiten für Empfehlungen und Richt- linien über „Anfang und Ende menschlichen Lebens" - der Eid des Hippokrates hingegen paßt auf eine Schreibmaschinenseite, von den zehn Geboten ganz zu schweigen.
Dr. Odenbach ging davon aus, daß die Ethik in der Medizin vom Zeitgeist nicht unbeeinflußt bleibt.
Man könne im Interesse des einzel-
nen Patienten, aber auch der Menschheit als Ganzem, dem Arzt nur wünschen, daß bei allen neuen Möglichkeiten, Herausforderungen und Fragestellungen ethische „Flexi- bilität" nicht zur billigen Anpassung wird. In der Öffentlichkeit gibt es derartige Befürchtungen angesichts des allgemeinen Verlustes an Wer- ten; viele Diskussionen und Stellung- nahmen von Fachleuten berechtigen aber laut Odenbach zu der Hoff- nung, daß Ethik in der Medizin nicht zur Disposition gestellt wird.
Wegen der wissenschaftlichen Entwicklung, so Dr. Odenbach, sind derartige Entscheidungshilfen für den Arzt einfach unverzichtbar ge- worden; allerdings ist und bleibt für die sittliche Orientierung in der kon- kreten Situation das Gewissen des einzelnen unersetzbar.
Entscheidungshilfen und Gewissen
Ein Gedanke, den Professor Dr.
theol. Dr. phil. h. c. Theodor Scho- ber, Göttingen, noch vertiefte. In der traditionellen Veranstaltung der Evangelischen Akademikerschaft und der Katholischen Akademiker- arbeit ermutigte er die Ärzte, sich ih- res nach wie vor großen Einflusses wieder mehr bewußt zu werden:
„Der Arzt ist - oder sollte sein - nicht das Thermometer, sondern der Thermostat der Gesellschaft."
Was immer auch das „Gewis- sen" sei, man könne es nicht anderen überlassen; „Gewissensentscheidun- gen sind nicht delegierbar." Für das Gewissen sei allerdings die stete in- nere Anfechtung lebenswichtig, wo- bei jeder, der sein Gewissen aus dem Glauben an Gott nährt, weiß, daß zur Anfechtung die Vergebung ge- hört.
Professor Schober lehnte damit
„Entscheidungshilfen" keineswegs ab, schon gar nicht solche von inter- disziplinär besetzten Gremien. Viel- leicht werde es die größte Herausfor- derung des 21. Jahrhunderts sein, daß wissenschaftliche Forscher und die Anwender der Forschungsergeb- nisse gemeinsam die Grenzen erken- nen, die aus Gewissensgründen nicht überschritten werden dürfen. gb
Notizen vom Meran-Kongreß
Bedroht uns die „Richtlinien-Medizin"?
Dt. Ärztebl. 86, Heft 40, 5. Oktober 1989 (29) A-2833