Mehr Zusammenarbeit mit dem Privatsektor
Großbritannien: Finanzlücken erzwingen Reformen
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it einer Mischung von finanziellen Anreizen (durch Einzelleistungs- honorare) und straffe- ren Vorschriften will die britische Regierung die primärärztliche Ver- sorgung im Staatlichen Gesundheits- dienst verbessern. Gleichzeitig soll die Prävention gefördert werden.Die Vorschläge sind in einem Weiß- buch enthalten, das als Grundlage für die bisher umfangreichste Re- form des ambulanten Sektors seit Schaffung des Gesundheitsdienstes vor vierzig Jahren angesehen wird.
Einerseits sollen die rund 30 000 niedergelassenen Allgemeinärzte zusätzliche Einzelleistungshonorare für allgemeine Check-up-Untersu- chungen (vor allem bei Kindern und älteren Patienten), Schutzimpfun- gen, Früherkennungsuntersuchun- gen und für ambulante chirurgische Leistungen erhalten können. Ande- rerseits soll offenbar die Zahlung des Sockelbetrages für Praxiskosten (zur Zeit 7850 Pfund im Jahr; dazu kommen dann die Kopfpauschalen) im Einzelfall davon abhängig ge- macht werden, daß der Arzt mehr als die vorgeschriebenen tausend Pa- tienten auf seiner Liste hat und daß die Praxis mehr als die vorgeschrie- benen mindestens 20 Stunden in der Woche geöffnet ist. Ferner sollen die Ärzte nachweisen, daß sie Ge- sundheitsberatung und Prävention betreiben und sich auf diesem Ge- biet fortbilden.
~ Niedergelassene Ärzte sol- len künftig mit dem Erreichen des 70. Lebensjahres in den Ruhestand gehen; sie dürfen auch nicht mehr als Pensionäre in Praxen tätig sein.
Erklärtermaßen erhofft sich die Re- gierung dadurch mehr Niederlassun- gen jüngerer Ärzte, die eher an Gruppenpraxen, an Prävention und an der Zusammenarbeit mit anderen Berufen in "Primärversorgungs- teams'' interessiert seien.
Nachdem sich die Klagen über Wartelisten häuften und Kran- kenhäuser wegen Geldmangels mit der Schließung ganzer Sta- tionen drohten, hat die britische Regierung dem Staatlichen Ge- sundheitsdienst als Eilmaßnah- me zusätzliche 100 Millionen Pfund (das waren Mitte Januar umgerechnet etwa 300 Millio- nen DM) zur Verfügung gestellt.
Fast zur gleichen Zeit legte sie nach fünfjähriger Arbeit Vor- schläge für eine Reform des am- bulanten Sektors auf den Tisch.
In gewissen Grenzen soll in Zu- kunft ein Wettbewerb zwischen den niedergelassenen Ärzten möglich sein. Das Weißbuch schlägt sogar vor, das Werbeverbot für Ärzte auf- zuheben. Gleichzeitig sollen die Pa- tienten in Zukunft leichter ihren Hausarzt wechseln können.
700 000 Patienten auf den Warte Iisten
In dem Weißbuch heißt es so- gar, es gebe keinen Grund, weshalb nicht in Zukunft auch auf dem Sek- tor der Primärversorgung private Alternativen mit dem Staatlichen Gesundheitsdienst in Wettbewerb treten sollten. Dieser Gedanke der Zusammenarbeit des Staatlichen und des Privatsektors ist seit dem Amtsantritt der konservativen Re- gierung im stationären Bereich schon öfter diskutiert und auch praktiziert worden. Zum Beispiel hat die Regierung Ende vergange- nen Jahres in den westlichen Mid- lands 500 000 Pfund bereitgestellt, A-66 (14) Dt. Ärztebl. 85, Heft 3, 21. Januar 1988
damit e1mge Patienten, die dort schon sehr lange auf ein Bett in staatlichen Krankenhäusern warten, von den Krankenhäusern einer der großen Privatversicherungen aufge- nommen werden können.
Ende 1987 standen in ganz Großbritannien wieder einmal fast 700 000 Personen auf den Warteli- sten für stationäre Aufnahme. Der Hauptgrund ist zur Zeit vielerorts ein Mangel an qualifizierten Kran- kenschwestern, die wegen ihrer schlechten finanziellen Aussichten entweder den Beruf aufgeben oder- in die besser zahlenden privaten Krankenhäuser abwandern.
Die erste Kritik der oppositio- nellen Labour-Partei an dem Weiß- buch richtete sich bemerkenswerter- weise jedoch nicht gegen eine derar- tige Zusammenarbeit mit dem Pri- vatsektor, sondern gegen die zu knappen Etatmittel, insbesondere aber gegen die geplanten neuen Selbstbeteiligungen. Dabei geht es hier nur um den relativ kleinen Be- trag von 170 Millionen Pfund jähr- lich, den der Gesundheitsdienst durch neue Selbstbeteiligungen ein- sparen soll. Für die bisher kosten- losen Sehtests beim Optiker und die Check-up-Untersuchung beim Zahnarzt sollen die Briten in Zu- kunft jeweils drei Pfund zahlen; fer- ner wird die prozentuale Selbstbetei- ligung für Zahnbehandlungen und Zahnersatz erhöht. Die bisherigen Ausnahmeregelungen (für Kinder bis 16, Schüler bis 19 Jahre, werden- de und junge Mütter sowie Empfän- ger niedriger Einkommen) werden jedoch beibehalten.
Insgesamt, rechnete Premiermi- nisterin Thatcher ihren Kritikern vor, stehen dem Staatlichen Ge- sundheitsdienst im laufenden Fi- nanzjahr 843 Millionen Pfund mehr zur Verfügung als 1986/87. Aber auch konservative Politiker. räumen ein, daß langfristig mehr Reformen nötig sein werden. Man denkt dabei unter anderem an Straffungen der Verwaltung, aber auch an Selbstbe- teiligungen beim Arztbesuch und beim Krankenhausaufenthalt, ferner an die steuerliche Begünstigung der Beiträge für private Krankenversi- cherungen (was Frau Thatcher bis- her strikt abgelehnt hat). gb