A-3180 (8) Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 50, 11. Dezember 1998
S P E K T R U M LESERBRIEFE
Empfehlungen, wie sie jeder Autor eines medizinischen Textes aussprechen kann, ab.
Auch der Vorwurf der
„Behinderung des Fort- schritts“ oder die Bezeich- nung der Leitlinien als
„starr“, „global“ und „inflexi- bel“ entbehrt jeder Grundla- ge. Leitlinien sollen vom Selbstverständnis her den ak- tuellen Stand der Wissen- schaft darstellen, sind also ge- rade nicht starr, sondern dy- namisch und werden in regel- mäßigen Abständen überar- beitet und fortgeschrieben.
Gerade die im letzten Ab- schnitt der Veröffentlichung angesprochenen erstrebens- werten „Informations- und Kommunikationswege und ihre Realisierung im Zuge der Vernetzung auch im Rah- men neuer Medien“ werden seitens der AWMF für die Leitlinien genutzt . . .
Auch der Vorwurf einer
„weitestgehend fehlenden Zielrichtung“ ist unzutref- fend. Ziel ist die Information von Ärzten sowie von allen an medizinischen Inhalten In- teressierten. Auch der Vor- wurf, daß bei den Zielen eine klare Abgrenzung zur ökono- mischen Orientierung von Leitlinien fehle, ist falsch.
Leitlinien sind eindeutig nicht ökonomisch orientiert, sie be- schreiben vielmehr aus wis- senschaftlicher Sicht das me- dizinisch Sinnvolle. Entspre- chend entfällt der Einwand, daß eine ernsthafte Störung des Arzt-Patienten-Verhält- nisses zu befürchten wäre, wenn die klinische und ärzt- liche Entscheidungsfreiheit durch ökonomische Erwä- gungen eingeschränkt wird.
Leitlinien enthalten aus- drücklich keine ökonomi- schen Erwägungen!
Zutreffend ist, daß Leitli- nien nicht die Qualitätssiche- rung ersetzen. Sie formulie- ren aber, was im Sinne des Stands der Wissenschaft als
„Qualität“ anzusehen ist. Da- bei haben sich die in der AWMF zusammengeschlos- senen wissenschaftlichen me- dizinischen Fachgesellschaf- ten keineswegs – wie in Ihrer Veröffentlichung formuliert –
in ein „Leitlinien-Entwick- lungsabenteuer gestürzt“, sondern sich seit 1993 auf An- regung des „Sachverständi- genrats der Konzertierten Aktion im Gesundheitswe- sen“ der Herausforderung ge- stellt, aufgrund der Sachkom- petenz der Fachgesellschaften Leitlinien als Informationshil- fe zu formulieren . . .
Die wissenschaftlichen medizinischen Fachgesell- schaften haben von Anfang an eine Arbeitsteilung dahin- gehend vorgeschlagen, daß sie die Bürde der Entwick- lung von Leitlinien zum Woh- le der Bürger auf sich neh- men, während die Umsetzung der Leitlinien in ärztliches Handeln des einzelnen und die konkrete Qualitätssiche- rung weiterhin Aufgaben der Landesärztekammern sowie im Bereich der Gültigkeit des Kassenarztrechtes Aufgaben der Kassenärztlichen Vereini- gungen sind. Diese Aufgaben sollten nunmehr von diesen Organisationen aufgegriffen werden!
Die Entwicklung und Weiterentwicklung der Leitli- nien selbst bleibt dagegen weiterhin alleinige genuine Aufgabe der wissenschaftli- chen medizinischen Fach- gesellschaften. Entsprechend muß der im letzten Absatz Ih- rer Veröffentlichung diffa- mierende Satz, daß dem
„Leitlinienwirrwarr“ und der inflatorischen Entwicklung sowie ihrer ungezielten „Dis- semination“ durch eine steu- ernde Funktion durch Bun- desärztekammer und Kas- senärztliche Bundesvereini- gung entgegengewirkt wer- den müsse, seitens der wis- senschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften weit von sich gewiesen werden.
Auch die Anmerkung, daß vermieden werden müs- se, „daß vermehrt rechtspoli- tische und rechtspraktische Probleme aufgeworfen wer- den“, ist hinsichtlich der Leit- linien unberechtigt und unbe- gründet. Gerade wegen der Stellung zwischen Richtlinien und unverbindlichen Emp- fehlungen und ihrer vom Selbstverständnis her fehlen-
den Rechtsverbindlichkeit, wie sie Richtlinien hätten, sind Leitlinien weder haf- tungsbegründend noch haf- tungsausschließend. Leitlini- en informieren den Arzt, sie unterstützen ihn somit bei sei- ner täglichen Arbeit und be- lassen ihm alle ärztliche Ent- scheidungsfreiheit!
Für die im Schlußsatz Ihres Beitrags genannte
„Clearingstelle für Leitlinien“
(von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesver- einigung) ergibt sich somit keinerlei Notwendigkeit.
Priv.-Doz. Dr. med. Gerd Hoffmann, Deutscher Sport- ärztebund, Arbeitsgemein- schaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesell- schaften, Gesamthochschule Kassel, Bereich Sportmedi- zin, Damaschkestraße 25, 34121 Kassel
Unverständlich
. . . Mir sind die Warnun- gen unverständlich: Rege- lungswut, bürokratische Er- starrung, Diktat der Ökono- mie bei jeder Entscheidung bis hin zur Störung des Pati- entenvertrauens – das haben wir doch längst alles!
Die „Leitlinienflut“ folgt doch nicht vorauseilendem Gehorsam, sondern dem jah- relangen Gezeter der Volks- wirte und SoFAs in Politik und Kassen, die sich befugt sehen, die Autonomie der Behandler als die eigentliche Crux des Gesundheitswesens zu diffamieren; die sich für kompetent halten, die medi- zinische Vollversorgung zu versprechen und gleichzeitig zwanzig Prozent der Gesund- heitskosten für unnötig zu er- klären. Was wollen wir Ärzte dem denn entgegensetzen, wenn nicht die gemeinsam verantwortbare Formulie- rung des Notwendigen: des- sen, was „die Not wendet“?
Und die Abgrenzung des
„nur“ individuell Sinnvollen und Wünschenswerten? Die Medizin wird schließlich im- mer mehr leisten können als das kollektiv Finanzierbare . . . Peter Rapp, Schillerstraße 3, 79576 Weil am Rhein
Handlungsschienen vonnöten
. . . Die versorgungsmedi- zinische Praxis braucht Hand- lungsschienen zur zuverlässi- gen Bewältigung häufiger Gesundheitsstörungen und nicht ausschließlich akade- misch interessante Problem- erörterungen. Damit redu- ziert sich die Anzahl von Leit- linien drastisch auf ein unab- weisbar notwendiges Min- destmaß, das dann auch um- gesetzt zu werden vermag . . . Dr. med. Paul Kokott, Storm- straße 21, 38226 Salzgitter
Zu weit gegriffen
Der Artikel, der sich als Bericht über eine Stellung- nahme von Herrn Prof. Kolk- mann gibt, behauptet, Leitli- nien seien nach der Empfeh- lung des Sachverständigen- beirates 1993 unkoordiniert, inflatorisch und in vorausei- lendem Gehorsam von den wissenschaftlichen Fachge- sellschaften formuliert wor- den. Sie seien fortschritts- hemmend und entbehrten der klaren Zielsetzung. Dem ist entgegenzuhalten: Die AWMF hat durch Veröffentli- chung verschiedener Kon- sentierungsmöglichkeiten und nach Abgleich im Diskussi- onsverfahren die Leitlinien mit großem zeitlichem und fi- nanziellem Aufwand koordi- niert. Das Geld steuerten die einzelnen Fachgesellschaften selbst bei. Die Veröffentli- chungen aus der AWMF zu diesem Thema werden von den Autoren vollständig über- gangen.
Schnelles Reagieren als vorauseilenden Gehorsam zu bezeichnen war wohl als gezielte Verletzung gedacht.
Das muß aber bei jemandem erfolglos bleiben, dem auf fachfremdem Gebiet und auf unsicherem Terrain die Ori- entierung nicht gelingen mag. Wie sollen Leitlinien fortschrittshemmend sein, wenn sie das konzentrierte Wissen einer Fachgesell- schaft im geforderten Kon- sens verschiedener Experten
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zusammenfassen? Nur auf dieser Basis läßt sich auch die Forderung an Leitlinien erfüllen: sie immer wieder auf den neuesten Stand zu bringen.
Es verwundert ferner, daß jemand urteilend über Leitli- nien schreibt, die Zielset- zung aber nicht erkennen kann: Es geht dabei um Transparenz, Beurteilung des Notwendigen, Vermei- dung von Unnötigem und Vermehrung des Breitenwis- sens. Allerdings ist dazu Vor- aussetzung, daß Ärzte die Leitlinien annehmen und mit ihnen besser als Patienten und Juristen vertraut sind.
Hierum sollten sich in der Tat die Körperschaften küm- mern (Implementierung).
Die Befürchtung, daß mög- licherweise Ärzte durch fundiertes Patientenwissen überrascht werden könnten, ist geradezu vertrauenszer- störend.
Daß die verfaßten ärztli- chen Körperschaften auch ein Interesse an den Leitlinien haben, ist verständlich. Hier muß endlich – wie von uns an- gemahnt – ein vernünftiges Miteinander hergestellt wer- den. Aber Leitlinien beurtei- len zu wollen, ohne sie selbst formulieren zu können, ist zu weit gegriffen. Leitlinien müssen im Einklang stehen mit dem gegenwärtigen be- ruflichen Wissen. Dies immer wieder zu aktualisieren ist ei- ne Hauptaufgabe der wissen- schaftlichen Fachgesellschaf- ten.
Völlig unverständlich in diesem Artikel ist das emp- fehlende Beispiel „Brennen beim Wasserlassen“. Wurde diese „Leitlinie“ mit den Urologen abgestimmt? Was soll man außerdem von einer Leitlinie halten, die durch er- hebliche Industriemittel be- günstigt wurde? Gerade das wollen wir nicht!
Prof. Dr. med. W. Hartel, Ge- neralsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, Vizepräsident der AWMF, Elektrastraße 5, 81925 Mün- chen; Prof. Dr. med. W. Lo- renz, Institut für Theoreti- sche Chirurgie der Philipps- Universität Marburg
Rationierung
Zur Verwechslung und Vermischung von Begriffen und Sachverhalten wie Rationalisierung und Rationierung Anmerkungen eines als Sachverstän- diger im Prüfwesen tätigen Arztes:
Im Alltag schon Wirklichkeit
Rationieren bedeutet zu- nächst nichts anderes als le- diglich Begrenzung von ver- fügbaren Möglichkeiten oder Mitteln. Wenn der Gesetzge- ber derzeit Solidarität vor Subsidiarität als Gestaltungs- prinzip für das System der Gesetzlichen Krankenversi- cherung wählt, muß er festle- gen, wieviel Prozent des Brut- tosozialproduktes er den ge- setzlichen Krankenkassen zu Lasten von anderen Teilen der Volkswirtschaft zukom- men lassen will. Das heißt: Er legt die finanziellen Grenzen fest, innerhalb derer die Soli- dargemeinschaft in der Lage ist, individuelle Lebensrisi- ken des einzelnen zu Lasten der Solidargemeinschaft zu fi- nanzieren. Sind diese Gren- zen überschritten, zum Bei- spiel durch Einnahmerück- gänge der Krankenkassen zur Entlastung der Wirtschaft, wird der einzelne dazu ge- zwungen, die dadurch auftre- tenden eigenen gesundheitli- chen Risiken zu übernehmen.
In diesem Sinne ist Ratio- nierung (verstanden als Be- grenzung von finanziellen Möglichkeiten) somit bereits elementarer Bestandteil des bundesrepublikanischen Ge- sundheitswesens von Beginn an und nicht erst seit dem In- krafttreten des Gesundheits- strukturgesetzes.
Mit der Tatsache, daß die ökonomischen Möglichkei- ten im System Solidarität vor Subsidiarität begrenzt sind, ist noch lange nicht geklärt, nach welchen inhaltlichen Kriterien diese begrenzten Möglichkeiten von welcher verantwortlichen Instanz, mit welcher ethischen Begrün- dung, welcher rechtlichen Le- gitimation, welchem Perso- nenkreis zugestanden werden
und welchem Personenkreis unter ähnlicher Fragestellung zugemutet wird, eigenverant- wortlich für die Abdeckung der daraus resultierenden Versorgungsrisiken zu sor- gen.
Ein armer (menschlich be- dauernswerter) Kranker ist nicht automatisch ein finanzi- ell armer Patient, dem etwa eine überproportionale indi- viduelle Kostenbeteiligung an den Lasten der Solidarge- meinschaft nicht zugemutet werden kann (zum Vergleich:
freiwillig Versicherte der GKV mit hohem Einkommen/
Diskussion in der Schweiz zur Ausgrenzung von Hochver- mögenden aus der Sozialver- sicherung). Andererseits ist nicht einleuchtend, daß Fi- nanzierungsgrenzen der Soli- dargemeinschaft einfach auf eine Berufsgruppe wie die Vertragsärzteschaft überge- wälzt werden. Die vielfach zu hörende Gleichsetzung von Patient gleich Kunde, Ver- tragsarzt gleich Leistungsan- bieter, Vertragsärzte unter- einander gleich konkurrie- rende Wettbewerber am Markt der Heilkunde über- sieht die Tatsache, daß der- artige Gleichsetzungen nur dann haltbar wären, wenn die vertraglichen Beziehun- gen zwischen diesen angeb- lichen „Markt“-Teilnehmern auf alleiniger zivilrechtlicher Grundlage beruhen würden.
Dies ist jedoch nicht der Fall.
Aus der Tatsache, daß der Vertragsarzt im Schadensfall dem Kassenpatienten haftet, folgt keineswegs, daß zwi- schen beiden eine zivilrechtli- che Vertragsbeziehung be- steht. Was für Privatärzte oh- ne Budget und Versorgungs- auftrag im Umgang mit Pri- vatpatienten gilt, ist nicht au-
tomatisch auf das Versor- gungssystem der Kassenärzte mit Sicherstellungsauftrag unter Budgetdruck zu über- tragen . . .
Klaus Schnetzer, Herren- straße 14, 76437 Rastatt
Globalbudget
Zur Diskussion über die Reform des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes für vertragsärztliche Leistungen:
Ungeheuerlich
Ich finde es ungeheuer- lich, daß der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesver- einigung, Dr. med. Winfried Schorre, Abschied von einem betriebwirtschaftlich kalku- lierten Bewertungsmaßstab nehmen möchte, da er es wie der Vorsitzende der Er- satzkassenverbände, Herbert Rebscher, für „völlig unmög- lich und auch lebensfremd hält, so zu kalkulieren“!
Völlig unmöglich und auch lebensfremd (in keinem anderen Bereich wird so ver- fahren) ist es, nichtbetriebs- wirtschaftlich zu kalkulieren.
Dr. med. Klaus Engels, Gröt- zinger Straße 3, 76227 Karls- ruhe
Nie wieder . . .
Wie auch immer die zu- künftige Gesundheitspolitik aussehen mag: Ich wünsche meinen Kollegen und mir nur eines. Nie wieder von Politi- kern und auch unseren Stan- desvertretern in der Art und Weise behandelt zu werden wie in den letzten Jahren.
Dr. med. Herbert Hesse, Simmlerstraße 4, 75172 Pforz- heim
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