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enn Dr. Jósef Lula von der„Egal-Stimmung“ erzählt, die unter der polnischen Bevölke- rung in Hinsicht auf das Gesundheitssy- stem herrsche, möchte man ihm zu- nächst nicht glauben. Denn der Vizeprä- sident der niederschlesischen Ärztekam- mer (ÄK) in Wroclaw (Breslau) strahlt soviel Optimismus aus, dass die Wör- ter „Resignation“ und „Hoffnungslosig- keit“ aus seinem Mund fremd klingen.
Doch tatsächlich konnte weder die erste Gesundheitsreform im Jahr 1999 noch die zweite vor einem Jahr das marode System von seinem Hauptübel befreien:
der Dominanz des polnischen Staates.
Lula und Dr. med. Andrej Wojnar – Präsident der niederschlesischen Ärzte- kammer – zählen zu den Mitbegründern der mittlerweile zehn Jahre alten ÄK.
Sie ist eine der größten unter 23 Kam- mern in der polnischen Republik, die auf 17 Provinzen (Voivodschaften) aufge- teilt sind. Beide Ärzte haben sich bereits zu kommunistischen Zeiten für eine Ausweitung des ärztlichen Mitsprache-
rechts eingesetzt. Umso enttäuschter sind sie, dass das Gesundheitssystem beinahe 15 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vor- hangs noch immer nach alten Mustern funktioniert. „Polen hat seit 1989 ein und dasselbe System, das sich nur langsam reformiert und in den letzen zwei Jahren eher Rück- denn Fortschritte gemacht hat“, sagt Lula bei einem Gespräch mit
dem Deutschen Ärzteblatt am Rande einer deutsch-polnischen Vorstandssit- zung in Dresden.
1999 wurde die kostenfreie Gesund- heitsversorgung der Bevölkerung durch ein beitragsfinanziertes System ab- gelöst. Die Bevölkerung musste zu- nächst 7,5 Prozent ihres Bruttolohns an eine Einheitskrankenversicherung ab- führen – die Arbeitgeber zahlten nichts dazu. Die Krankenversicherung orien- tierte sich an den 17 Voivodschaften und war in ebenso viele regionale, un- abhängige Krankenkassen mit eigener Selbstverwaltung untergliedert. Durch die regionale Ausrichtung der Kranken- kassen blieb die freie Arztwahl jedoch auf Grenzregionen beschränkt. Zudem besaßen die Kassen unterschiedliche Leistungskataloge, sodass bestimmte Kassen aufgrund eines umfangreiche- ren Katalogs häufiger frequentiert wur- den als andere. Den Krankenkassen mit höherem Leistungsangebot entstanden dadurch höhere Kosten. Da jedoch alle Kassen von der Regierung die gleiche Summe an Geld bekamen, musste das System scheitern.
Dennoch wäre für Lula und Wojnar dieses System gegenüber dem heutigen das kleinere Übel. Denn seit 2003 gibt es nur noch den so genannten Nationa- len Gesundheitsfonds (NFZ). Dieser schließt Verträge mit den Leistungser- bringern und versucht so, die Versor- gung aller Versicherten zu gewähr- leisten. Alle Bürger zahlen acht Pro- zent ihres sozialversicherungspflichti- gen Lohns an den NFZ. Beiträge für Ar- beitslose und Rentner werden von den zuständigen Sozialbehörden überwiesen.
Welche Leistungen der NFZ anbietet und welche Medikamente erstattet wer- den, entscheidet das Gesundheitsmini- sterium. Lula bezeichnet das neue Sy- stem als „nichts anderes als die Fort- führung des kommunistischen Systems unter dem Deckmantel eines demokrati- schen“ – allerdings „ohne Geld“, wie er hinzufügt. Der chronische Geldmangel ist es denn auch, den Ärzte und Patienten zu spüren bekommen. Würden die mei- sten Ärzte nicht noch privat hinzuver- dienen, überträfe ihr monatliches Brut- toeinkommen in vielen Fällen nicht ein- mal umgerechnet 300 Euro.
Lula, der als Facharzt für Pädiatrie eine Praxis in Swidnica betreibt, einem P O L I T I K
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A3150 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 4719. November 2004
Gesundheitssysteme Osteuropas (Teil 1): Polen
Bedrückende Resignation
Wenngleich die EU-Mitgliedschaft Polen neue Perspektiven eröffnet, bleibt die Hoffnung vieler Ärzte und Patienten auf eine Verbesserung der
Situation im Gesundheits- wesen aus.
Einige Daten zu Polen
> Einwohnerzahl: 38,6 Millionen (Deutschland: 82,6 Millionen)
> Bruttoinlandsprodukt (BIP): 205 Milliarden Euro (Deutschland: 2 129 Milliarden Euro)
> Arbeitslosenquote: 20 Prozent (Deutschland: 10,7 Prozent)
> Erwerbsquote: 54,5 Prozent (Deutschland: 73,3 Prozent)
> Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP:
6,3 Prozent (Deutschland: 10,7 Prozent)
> Anzahl der Beschäftigten im Gesund- heitswesen: 612 000
(Deutschland: 4,5 Milllionen)
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Ort 50 Kilometer entfernt von Breslau, weiß, wovon er spricht: Je Patient erhält er eine bestimmte Pau- schale pro Jahr, die hoch- gerechnet auf alle Patien- ten nur dann ausreichen würde, wenn er sich „auf das Nötigste beschränkt“.
Deshalb schließt er seine Praxis jeden Tag gegen 15 Uhr, um anschließend pri- vat praktizieren zu kön- nen. Viele Patienten kön-
nen sich eine Privatbehandlung aber nicht leisten. Sie warten bis zum näch- sten Morgen, bis die „normale“ Praxis des Arztes wieder geöffnet ist. Doch ihr Krankenkassenbeitrag reicht keines- wegs für eine „Rundumversorgung“, wie sie das polnische Grundgesetz vor- sieht. Von den acht Prozent, die jeder Bürger monatlich an den NFZ zahlt, können lediglich der erste Besuch beim
Familienarzt, dem Hausarzt des Patien- ten, inklusive einer Erstuntersuchung und einer Überweisung zum Facharzt be- zahlt werden. Sämtliche weitere Leistun- gen werden privat hinzugezahlt – nach Schätzungen der Weltgesundheitsorgani- sation etwa 40 Prozent der Gesundheits- ausgaben. Lula und Wojnar halten die privaten Zuzahlungen allerdings für ge- ringer. Die Bevölkerung sei nicht bereit, die Versorgung durch eine Aufstockung des Beitragssatzes auf eine breitere Basis zu stellen, meinen die beiden Ärzte.
Noch gravierender sind die Auswir- kungen des Geldmangels auf Kranken- häuser und Polikliniken. „Es mangelt an der Instandhaltung der Krankenhäu- ser, wichtige Medikamente können auf- grund der Budgetierung nicht mehr ein- gekauft werden, und Beschäftigte wer- den entweder noch schlechter bezahlt als bislang oder ganz entlassen“, berich- tet Wojnar. Wojnar arbeitet seit 20 Jah- ren am Pathologieinstitut der gynäkolo- gischen Onkologie eines großen Bres- lauer Lehrkrankenhauses. Die Regie- rung sei dabei, ein Gesetz zu erlassen, das Krankenhäusern erlaube, Billig- kredite aufzunehmen, um Schulden zu tilgen und Investitionen zu tätigen, be- richtet der Ärztekammer-Präsident. Ob das der richtige Weg aus der Finanzmi- sere der stationären Einrichtungen ist, bezweifelt Wojnar. Auch ein Pilotpro- jekt in Niederschlesien, bei dem die Einführung eines Fallpauschalensy- stems getestet wurde, ist aufgrund man- gelnder Vorbereitung und technischer Probleme gescheitert.
Die aussichtslose Lage führt – wie auch bei den niedergelassenen Ärzten – dazu, dass viele Kranken- hausärzte privat hinzuver- dienen. Im Anschluss an die Hauptbetriebszeiten im Krankenhaus kommen Pa- tienten, die sich eine Privat- behandlung leisten kön- nen. Ihre Rechnungen ko- ordinieren die Kranken- hausverwaltungen. Einzel- ne Abteilungen, berichtet Wojnar, versuchten inzwischen sogar, Privatisierungen einzuleiten. Bei der Behandlung gesetzlich versicherter Pa- tienten bestehe „ein ständiger Konflikt zwischen ärztlichem Tun und der Finan- zierung“, so Wojnar. Die Verwaltung habe kein Geld, Ärzte nähmen jedoch trotzdem Patienten auf, weil viele drin- gend einer medizinischen Behandlung bedürften und kein Geld für eine Pri- vatbehandlung haben. „Dadurch wird der Schuldenberg noch größer.“
„Patiententourismus“ nur für Privatpersonen von Vorteil
Angesichts der bedrückenden Fakten wundert es nicht, dass auch der Beitritt Polens zur Europäischen Union die Stimmung im Land bislang nicht aufhel- len konnte. In den Medien werde zwar verstärkt von „Patiententourismus“ in Richtung Osten geredet. „Für unser Gesundheitssystem halte ich diesen Trend jedoch nicht für hilfreich“, meint Lula. An Kuren oder Zahnarztbesu- chen bereicherten sich ausschließlich Privatunternehmen. Das trage nicht zu einer Verbesserung der finanziellen Si- tuation bei.Auch die Chance, außerhalb des eigenen Landes zu arbeiten und mehr verdienen zu können, wurde bis- her kaum genutzt. Lula zufolge wurden zwar seit Mai etwa 270 Anträge von Ärzten gestellt, die nach Westen ausrei- sen wollen. Ob die Mehrzahl dieser An- träge jedoch tatsächlich in die Realität umgesetzt wird, bezweifelt er. Lula:
„Träume von einer besseren Zukunft im Westen und mehr Geld haben sicher- lich viele Kollegen. Wenn es jedoch an die Umsetzung geht, bleiben die mei- sten in Polen.“ Martina Merten P O L I T I K
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A3152 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 4719. November 2004
Engagement für das polnische Gesundheitswesen: Dr. Jósef Lula (li.) und Dr. med. Andrej Wojnar von der niederschlesischen Ärztekammer
Das polnische Gesundheitssystem
> Krankenkassen: Seit 2003 gibt es eine einzige Krankenkasse, den Nationalge- sundheitsfonds (NFZ), dem alle Einwoh- ner angeschlossen sind; der NFZ ist dem polnischen Gesundheitsministerium un- tergeordnet. Das Ministerium entscheidet über Finanzen und Leistungsangebot (zum Beispiel darüber, welche Medika- mente erstattet werden); Verträge mit den Leistungserbringern werden vom NFZ abgeschlossen.
> Typus der Krankenversicherung: Volks- beziehungsweise Bürgerversicherung mit Pflichtmitgliedschaft der Gesamtbevöl- kerung
> Private Krankenversicherungen: keine
> Finanzierung: Die Versicherten zahlen acht Prozent ihres sozialversicherungs- pflichtigen Gehalts als Krankenkassen- beitrag; Arbeitgeber zahlen nichts hinzu.
> Zuzahlungen: der reguläre Krankenkas- senbeitrag reicht nur für die „Basisver- sorgung“ – alles weitere müssen Versi- cherte privat zuzahlen (nach WHO-Schät- zungen etwa 40 Prozent).
> Ambulante Versorgung: in Arztpraxen so- wie in Gesundheitseinrichtungen
> Stationäre Versorgung: in Krankenhäusern und Poliklinken
> Gehalt der Ärzte: zwischen 300 und 1200
Euro monatlich. MM
Das dritte Deutsch-Polnische Symposium findet vom 9. bis 11. September 2005 in Breslau statt.Thema:Vergangenheit verstehen – Zukunft gestalten. Aktuelle Entwicklungen der Europäischen Integration.
Fotos:SLÄK