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Archiv "Leitlinien und Gesundheitsökonomie: Das Rad erst einmal zurückdrehen" (28.11.2014)

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A 2108 Deutsches Ärzteblatt

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Heft 48

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28. November 2014

M

edizinische Leitlinien sind Aussagen, die Empfehlun- gen zur Optimierung der Patienten- betreuung enthalten und auf Infor- mationen auf der Grundlage einer systematischen Prüfung der vorhan- denen Erkenntnisse und einer Be- wertung der Vor- und Nachteile alter- nativer Betreuungsoptionen beruhen (1). Ein wichtiges Ziel von Leitlinien ist es, Unterschiede in der Behand- lung von Patienten zu reduzieren. Ei- ne kontroverse Diskussion wird da- rüber geführt, inwieweit Leitlinien auch ökonomische Aspekte einbe- ziehen sollten, also Informationen zum Ressourcenverbrauch, zu Ge- samtfolgekosten (auf Bevölkerungs- ebene) und zur Kosteneffektivität (Kosten-Nutzen-Verhältnis) der Be- handlung. Viele Experten empfehlen eine Berücksichtigung ökonomi- scher Aspekte (2–8); denn die für das Gesundheitswesen zur Verfügung stehenden Ressourcen sind begrenzt.

Kritiker wenden jedoch ein, dass die Berücksichtigung von Kosten Leit - linien als Mittel zur Rationierung missbrauchen würde (9).

Wie häufig haben Leitlinien in Deutschland tatsächlich Kos-

ten(-effektivität) berücksichtigt? Ba- sierend auf einer Recherche im Leitlinienregister der Arbeitsge- meinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften am 13. August 2013 ergab sich, dass 58 von 897 Leitlinien (also sechs Prozent) den Begriff „kosten- effektiv“ verwendeten. Internatio- nal ist die Berücksichtigung ökono- mischer Evidenz bereits weiter ver- breitet. Eine Suche am 11. August 2013 im National Guideline Clea- ringhouse, das internationale evi- denzbasierte Leitlinien in engli- scher Sprache einschließt, ergab, dass von 2505 Leitlinien insgesamt 844 (also 34 Prozent) eine formale Kostenanalyse aufwiesen.

Intuitiv scheint es sinnvoll, wenn Leitlinien neben der medizinischen auch die ökonomische Evidenz be- rücksichtigen. Medizinische Fach- gesellschaften, die Empfehlungen unabhängig von Kostenimplikatio- nen aussprechen, können unter Mit- telknappheit Ressourcen aus ande- ren Fachbereichen abziehen. Auch steht eine Berücksichtigung von Kosten im Einklang mit anderen Reformen und Entwicklungen im

Gesundheitswesen wie der Preisbe- stimmung bei neuen Arzneimitteln.

Letztere orientiert sich an der Höhe des Zusatznutzens und berücksich- tigt die begrenzten Ressourcen der Versichertengemeinschaft für die Bereitstellung neuer Therapien.

Kosten-Nutzen-Verhältnis nur schwer zu bestimmen

Doch wenn in Leitlinien ökonomi- sche Aspekte berücksichtigt wer- den, ohne den ethischen Werten der Bevölkerung oder der Versicherten- gemeinschaft Beachtung zu schen- ken, können diese mehr gesell- schaftlichen Schaden als Nutzen anrichten. Dabei ist es ein häufiges Missverständnis, dass gesundheits- ökonomische Aspekte per se (das heißt ohne Berücksichtigung ethi- scher Werte der Bevölkerung) eine Änderung von Leitlinienempfeh- lungen rechtfertigen können. Streng genommen trifft dies nur dann zu, wenn zwei oder mehr Alternativen denselben Nettonutzen (Nutzen ab- züglich Schaden) haben. In diesem Fall ist es sinnvoll, die billigere Al- ternative zu bevorzugen. Jedoch ist der formale Nachweis von Nutzen- Bei der Berücksichtigung ökonomischer Aspekte in Leitlinien sollte man behutsam vorgehen.

Sonst kann der gesellschaftliche Schaden größer als der Nutzen sein.

LEITLINIEN UND GESUNDHEITSÖKONOMIE

Das Rad

erst einmal zurückdrehen

Foto: Fotolia/alphaspirit

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28. November 2014 gleichheit eher selten, da er Nicht-

unterlegenheitsstudien erfordert (10).

Häufiger ist in Leitlinien der Fall anzutreffen, bei dem ein Klassenef- fekt unterstellt wird.

Für den Fall, dass die neue The- rapie einen Zusatznutzen aufweist, aber auch mehr kostet, muss das Kosten-Nutzen-Verhältnis mit ei- nem prädefinierten Schwellenwert (zum Beispiel definiert als maxima- le Kosten für ein zusätzliches Le- bensjahr) verglichen werden. Ist das Kosten-Nutzen-Verhältnis klei- ner als der Schwellenwert, wirkt sich dies positiv auf die Empfeh- lung für diese Therapie aus und um- gekehrt. Jedoch gibt es in Deutsch- land Unklarheit hinsichtlich eines akzeptablen Schwellenwerts für das Kosten-Nutzen-Verhältnis.

Eine Methode, diesen zu bestim- men, ist vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesund- heitswesen (IQWiG) im Zuge der Gesundheitsreform 2007 entwickelt und auch in einer deutschen Bevöl- kerungsstichprobe gegenüber alter- nativen Ansätzen bevorzugt worden (11). Bislang ist sie aber für die ei- gentlich vorgesehene Indikation, die Preisbestimmung neuer Arzneimit- tel, nur probeweise angewandt wor- den (12, 13). Daher wäre es verfrüht, diese Methode zur Ableitung eines Schwellenwerts im Rahmen medizi- nischer Leitlinien anzuwenden. Da- rüber hinaus ist wenig über die ethi- schen Werte der deutschen Bevölke- rung, die für die Festlegung eines solchen Schwellenwerts erforderlich sind, bekannt. So zeigen internatio- nale Bevölkerungsbefragungen ins- besondere eine Präferenz für die Be- handlung von Patienten mit schwe- ren Krankheiten (14, 15). Dement- sprechend wäre ein höheres Kosten- Nutzen-Verhältnis akzeptabel, wenn Patienten mit schweren Krankheiten behandelt würden.

Unklarheit hinsichtlich eines akzeptablen Schwellenwerts

Wird nun der Schwellenwert für Behandlungen in einem Fachgebiet fälschlicherweise zu niedrig ange- setzt (da beispielsweise altruisti- sche Werte der Bevölkerung gegen- über Schwerkranken unberücksich- tigt bleiben), kann es zu einer unge-

rechtfertigten Rationierung von Leistungen kommen. Wird umge- kehrt der Schwellenwert für Be- handlungen in einem Fachgebiet fälschlicherweise zu hoch ange- setzt, werden unter Mittelknappheit Ressourcen, die sonst für effiziente- re Behandlungen in anderen Fach- gebieten zur Verfügung stünden, abgezogen. Die Berücksichtigung ökonomischer Evidenz würde in ei- nem solchen Fall keine Effizienz- steigerung im Gesundheitswesen bedeuten (die Situation wäre wie die ohne Berücksichtigung ökono- mischer Evidenz).

Aus der Unklarheit hinsichtlich eines akzeptablen Schwellenwerts ergibt sich ein Vakuum. Ärzten die erforderliche Abwägung zwischen Effizienz und gerechter Ressour- cenverteilung aufzubürden, scheint wenig sinnvoll. Hier besteht die Gefahr, dass jeder Arzt unterschied- liche ethische Auffassungen ver- tritt, so dass Patienten je nach Arzt unterschiedlich therapiert werden (16). Genau dies würde das Ziel von Leitlinien konterkarieren, Be- völkerungsunterschiede in der Be- handlung von Patienten zu reduzie- ren. Aber auch Leitlinienentwickler wie die Fachgesellschaften sind be- troffen, da sie für Patientengruppen mit ähnlicher Krankheitsschwere und Kosteneffektivität der Behand- lung unterschiedliche Empfehlun- gen aussprechen könnten. Das heißt, einzelne Fachgesellschaften könnten zögerlicher sein als andere, aufgrund fehlender Kosteneffekti- vität Behandlungen in ihrem Emp- fehlungsgrad herabzustufen. Somit könnten einzelne Fachgesellschaf- ten einen höheren Schwellenwert ansetzen als von der Bevölkerung akzeptiert würde. Die Folgen wären unterschiedliche Behandlungsstan- dards in verschiedenen Indikations- gebieten sowie ungerechtfertigte Mehrausgaben. Eine solche uner- wünschte Entwicklung kann durch persönliche Interessenkonflikte noch verstärkt werden (17, 18). Sol- che Interessenkonflikte können grundsätzlich finanzieller oder nicht-finanzieller Art sein. Finan- zielle Interessenkonflikte resultie- ren nicht nur aus Unterstützung durch Pharma- und Medizingeräte-

industrie, sondern auch im Zusam- menhang mit der Durchführung der in Leitlinien empfohlenen Thera- pien durch den entsprechenden Facharzt. So kann die Erbringung innovativer, aber wenig kostenef- fektiver Therapien zum Einkom- men des betreffenden Arztes beitra- gen. Interessenkonflikte nicht-finan- zieller Art können durch Publikatio- nen und Akquise von Forschungs- mitteln im Zusammenhang mit den in Leitlinien empfohlenen Thera- pien bedingt sein (19).

IQWiG-Methode als mögliches Vorbild

Bei der Frage der Berücksichtigung ökonomischer Aspekte in medizini- schen Leitlinien sollte also das Rad zunächst einmal zurückgedreht wer- den. Theoretisch ist es sinnvoll, dass die Entwickler von Leitlinien Ressourcenknappheit im Gesund- heitswesen berücksichtigen. Unklar- heit hinsichtlich eines akzeptablen Schwellenwerts für das Kosten-Nut- zen-Verhältnis und ethischer Werte der Bevölkerung könnte jedoch dazu führen, dass mehr gesellschaftlicher Schaden als Nutzen bewirkt wird.

Daher sollten Entwickler von Leitli- nien zunächst einmal abwarten, ob die im Zuge der Gesundheitsreform vom IQWiG entwickelte Methode zur Bestimmung eines Schwellen- werts mehr Anwendung bei neuen Arzneimitteln findet. Ist dies der Fall, wäre es plausibel, dieses Ver- fahren auch auf Therapieformen an- zuwenden, die in Leitlinien Er - wähnung finden. Andernfalls wäre jedoch von nicht legitimierten Schwellenwerten, wie die in der in- ternationalen Literatur nicht selten angesetzten 50 000 Euro pro gewon- nenem Lebensjahr in voller Gesund-

heit, abzusehen.

Prof. Dr. med. Dr. rer. pol. Afschin Gandjour Frankfurt School of Finance & Management

@

Literatur im Internet:

www.aerzteblatt.de/lit4814 oder über QR-Code

Ein ausführlicher Beitrag des Autors zu dem Thema:

Gandjour A: Welfare gains and losses caused by clinical practice guidelines. Expert Review of Pharmacoeconomics & Outcomes Research 2014;

14(1): 27–33.

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LITERATURVERZEICHNIS HEFT 48/2014, ZU:

LEITLINIEN UND GESUNDHEITSÖKONOMIE

Das Rad erst einmal zurückdrehen

Bei der Berücksichtigung ökonomischer Aspekte in Leitlinien sollte man behutsam vorgehen. Sonst kann der gesellschaftliche Schaden größer als der Nutzen sein.

LITERATUR

1. Graham R, Mancher M, Miller DW, Green- field S, Steinberg E (eds.): Clinical Practice Guidelines We Can Trust. Institute of Medi- cine, Committee on Standards for Develo- ping Trustworthy Clinical Practice Guideli- nes, Board on Health Care Services. Wa- shington DC: National Academy Press 2011.

2. The Appraisal of Guidelines, Research and Evaluation in Europe (AGREE) Collaborati- ve Group. Guideline development in Europe. Int J Technol Assess Health Care 2000; 16(4): 1039–49.

3. Eccles M, Mason J: How to develop cost- conscious guidelines. Health Technol As- sess 2001; 5(16): 1–69.

4. Ramsey SD: Incorporating economic ana- lysis into clinical practice guidelines: a guide for hopeful users. Evid Based Med 2002; 7: 164–6.

5. Wailoo A, Roberts J, Brazier J, McCabe C:

Efficiency, equity, and NICE clinical guideli- nes. BMJ 2004; 328(7439): 536–7.

6. Edejer TT: Improving the use of research evidence in guideline development: 11. In- corporating considerations of cost-effecti- veness, affordability and resource implica- tions. Health Res Policy Syst 2006; 4: 23.

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66(2): 140–50.

8. Marckmann G, in der Schmitten J: Wie können Ärzte ethisch vertretbar Kostener- wägungen in ihren Behandlungsentschei- dungen berücksichtigen? Ein Stufenmo- dell. Ethik in der Medizin 2011; 23(4):

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9. Hoppe JD: Wir sind auf dem Weg in die Zuteilungsmedizin. Dtsch Arztebl 2005:

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10. Briggs AH, O’Brien BJ: The death of cost- minimization analysis? Health Econ 2001;

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11. Gandjour A, Chernyak N, Icks A, Gafni A:

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13. Gandjour A, Gafni A, Schlander M: Deter- mining the price for pharmaceuticals in Germany: comparing a shortcut for IQWiG’s efficiency frontier method with the price set by the manufacturer for tica- grelor. Expert Rev Pharmacoecon Out - comes Res 2014; 14(1): 123–9.

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