Seite eins
Blutprodukte
Schwere Schuld
D
er Untersuchungsaus- schuß des Bundestages, der sich ein Jahr lang mit„HIV-Infektionsgefährdung durch Blut und Blutprodukte"
beschäftigt hat, hat seinen 672 Seiten starken Abschlußbericht am 8. November der Bundes- tagsprädidentin, Prof. Dr. Rita Süssmuth, überreicht. Frau Süs- smuth hätte bei der Zeremonie schamrot werden müssen. In ih- rer Amtszeit als Bundesgesund- heitsministerin begann der poli- tische Teil des sogenannten Blutskandals, womit die Über- tragung von HIV durch kontami- nierte Blutprodukte gemeint ist.
In Frau Süssmuths Zeit fällt der Mutlangen-Fall: im September 1986 wurde der begründete Ver- dacht einer HIV-Infektion nach Verabreichung von PPSB be- kannt. Im Juni 1987 wurde ein weiterer derartiger Fall aus der Universitätsklinik Frankfurt ge- meldet. Süssmuth wechselte erst im Dezember 1988 ins Präsidium des Bundestages.
Die politische Behandlung der beiden PPSB-Fälle ist skan- dalös. Das Bundesgesundheit- samt hatte ein Stufenplanverfah- ren eingeleitet, aber aus Grün- den eingestellt, die nicht einmal der Untersuchungsausschuß völ- lig aufdecken konnte. Das Auf- sicht führende Bundesgesund- heitsministerium war unterrich- tet, hat den Verdacht jedoch of- fenbar heruntergespielt. Der AIDS-Expertin des Bundesge- sundheitsamtes, die im April 1988 in einem Vortrag auf die AIDS-Gefahr aufmerksam ma- chen wollte, wurde vom Vizeprä-
sidenten des Amtes jede werten- de Äußerung untersagt, „die im Widerspruch zu der vom Bun- desgesundheitsministerium ver- tretenen Meinung steht".
Es erscheint sehr unwahr- scheinlich, daß die Spitze des Mi- nisteriums über einen Vorgang nicht informiert war, der hohe Wellen schlug. Wenn es aber so war, dann wäre ihr ein gravieren- der Organisationsfehler vorzu- werfen. Exakt aufgeklärt hat der Untersuchungsausschuß solche Zusammenhänge nicht. Die Aussagen von Frau Süss-muth vor dem Ausschuß waren merk- würdig vage, im Unterschied et- wa zu den Aussagen ihres Vor- gängers Heiner Geißler. Der hat- te sich zu seiner Ministerverant- wortung bekannt.
Der Untersuchungsbericht stellt allen seit 1976 amtierenden Ministern (Antje Huber, SPD;
Anke Fuchs, SPD; Heiner Geißler, CDU; Rita Süssmuth, CDU; Ursula Lehr, CDU; Gerda Hasselfeldt, CSU; Horst Seeho- fer, CSU) einen Persilschein aus.
Für die Minister(innen) bis einschließlich Geißler mag das angehen. Der Kenntnisstand war anfänglich sicherlich, später — seit 1982 stieg die Zahl alarmie- render Berichte dramatisch an — wahrscheinlich noch zu unsicher.
Frau Süssmuth freilich hätte Be- scheid wissen können, wenn sie nicht ohnehin Bescheid gewußt hat. Weshalb die Minister nach ihr nicht aktiv geworden sind, bleibt schleierhaft. Kaum zu glauben, aber wahr: noch 1992 erteilte die Bundesregierung, zu- ständige Ministerin war Gerda
Hasselfeldt, dem Bundestag eine Auskunft zu PPSB, die im we- sentlichen schlichtweg falsch war.
Mit diesen Hinweisen auf die Ministerverantwortlichkeit soll nicht davon abgelenkt wer- den, daß sich Hersteller von Blutprodukten, Verwaltungen von Krankenhäusern und Ärzte schuldig gemacht haben — einige mehr, andere weniger. Je genau- er die Information des einzelnen Beteiligten war, je früher er den Verdacht kannte, desto größer ist das Maß der Verantwortung.
Schuld ist, wie so oft, auch hier nicht immer im juristischen Sin- ne nachweisbar. Moralisch aber haben viele Beteiligte schwere Schuld auf sich geladen, indem sie Verdachtsmomente herunter- gespielt oder verdrängt haben.
Der Untersuchungsausschuß macht für Fehlverhalten wirt- schaftliche Verflechtungen gel- tend. Die dürfte es — obwohl im Einzelfall kaum beweisbar — ge- geben haben.
In einem Punkt weist der Untersuchungsbericht, so dick er auch ist, eine Lücke auf: Wir hät- ten gerne genauer gewußt, ob die Krankenkassen schon zum frühestmöglichen Zeitpunkt be- reit gewesen waren, die sichere- ren Blutprodukte zu bezahlen, oder ob es Pressionen gegeben hat, im Zweifelsfall das billigere Angebot zu nehmen. Die siche- reren Produkte waren die teure- ren. Doch vielleicht ist diese An- merkung im Zeichen der Ko- stendämpfungspolitik immer noch nicht angebracht.
Norbert Jachertz
Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 46, 18. November 1994 (1) A-3141