• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Hodentumoren: Ist der Rückgang der Mortalität in der Bundesrepublik Deutschland zu langsam erfolgt?" (21.11.1991)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Hodentumoren: Ist der Rückgang der Mortalität in der Bundesrepublik Deutschland zu langsam erfolgt?" (21.11.1991)"

Copied!
6
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

AKTUELLE MEDIZIN

Hodentumoren

Ist der Rückgang der Mortalität

in der Bundesrepublik Deutsc -Land zu langsam erfolgt?

Dieter Hölzel

und Jens E. Altwein

1979 wurde mit der Verfügbarkeit von Cis-Platin auch in der Bun- desrepublik ein Therapieprotokoll einsetzbar, daß die Uberlebens- wahrscheinlichkeit beim Hoden- tumor dramatisch von 70 auf 90 Prozent beziehungsweise bei Te- ratomen von etwa 45 auf 85 oder 90 Prozent verbesserte. Wie rea- gierte das Gesundheitssystem auf diese Innovation? Läßt sich die Reaktion messen? Werden die Daten der amtlichen Todesur- sachenstatistik, beobachtete Neu- erkrankungsraten und die heute erreichbaren Therapieergebnisse miteinander in Beziehung gesetzt, so läßt sich der langsame und wahrscheinlich noch andauernde Rückgang der hodentumorbe- dingten Mortalität in der Bundes- republik abschätzen. Der Ver- gleich zwischen der Bundesrepu- blik und der Stadt München stützt zusätzlich die Annahme, daß für den realen Rückgang im Ver- gleich zum idealen eine azeß- mortalität von etwa 1000 Sterbefäl- len anzusetzen ist.

IBE Institut für Medizinische Informations- verarbeitung, Biometrie und Epidemiologie (Direktor: Professor Dr. med. Karl Überla) der Ludwig-Maximilians-Universität Mün- chen;

Urologische Abteilung (Chefärzte: Professor Dr. med. Jens E. Altwein, Dr. med Wolfgang Schneider), Krankenhaus der Barmherzigen Brüder, München

istologisch handelt es sich beim Hodentumor über- wiegend um maligne

Witz dir

Keimzellentumoren, die in die Hauptgruppen Seminome, Te- ratome und Mischtumoren unterteilt werden. Die Therapie richtet sich im wesentlichen nach Histologie und Stadium. Nach der Semikastration kommen beim Seminom adjuvante und kurative Bestrahlung, bei den Teratomen und den prognostisch vergleichbaren Mischtumoren Ope- ration und Chemotherapie in Frage.

Die Prognose des reinen Semi- noms liegt seit Jahren unverändert bei zirka 95 Prozent Überlebens- wahrscheinlichkeit (8, 20, 27, 31).

Für die Teratome dagegen wurde 1977 eine äußerst effektive Therapie publiziert (10), die die Überlebens- raten dramatisch von 45 Prozent auf nahezu 90 Prozent verbessert hat (2, 8, 16, 20, 21). Dieser Fortschritt ist auf die therapeutische Anwendung des Cis-Platins zurückzuführen (10).

Entscheidend für die Beurteilung der zu erwartenden Veränderung ist, daß diese Therapie im Rahmen der Primärtherapie, aber auch beim frühzeitig entdeckten Rezidiv wirk- sam ist. Cis-Platin wurde in der Bun- desrepublik im Mai 1979 zugelassen.

Die ersten Patienten wurden an we- nigen Stellen in der Bundesrepublik schon 1978 behandelt (13).

Fragestellung

Wie reagiert ein Gesundheitssy- stem auf einen solchen innovativen Therapieansatz, der ein interdiszipli- näres Vorgehen von Urologen, Strahlentherapeuten und Onkologen erfordert? Läßt sich die Reaktion in der Bundesrepublik messen?

Jedes System, nicht zuletzt auch die Medizin, reagiert träge auf inno- vative Veränderungen. Nur mit Ver- zögerungen wird eine Innovation zum neuen Standard. Dies läßt sich am Beispiel der Therapie des Ho- dentumors zeigen. Dafür sind keine großen prospektiven oder Fall-Kon- troll-Studien erforderlich. Eine Zu- sammenstellung der verfügbaren Mortalitätsdaten reicht aus. Einfa- che Rechnungen und plausible An- nahmen legen nahe, daß für die ver- zögerte Übernahme des innovativen Therapiekonzeptes eine Exzeßmor- talität von etwa 1000 Sterbefällen im Altersintervall von 15 bis 45 Jahren angesetzt werden muß.

Mortalitätsdaten zum Hodentumor

In Tabelle 1 sind die Mortalitäts- daten der Stadt München (34) und der Bundesrepublik (32) seit 1973 zusammengestellt. 1973 ist das erste Jahr, für das die Altersverteilung to- desursachenspezifisch für München vorliegt. In der zweiten Spalte stehen die Zahlen der Sterbefälle im Alters- intervall von 15 bis 45 Jahren, in dem die entscheidende Reduktion zu er- warten ist, weil Teratompatienten durchschnittlich 30 Jahre alt sind.

Der Vergleich der Daten von 1973 mit 1989 oder die Betrachtung der beiden Zeitreihen läßt deutlich Veränderungen erkennen. Der Rückgang ist in Abbildung 1 auch graphisch dargestellt. Auf dem lin- ken Teil der Abbildung sind die Ver- änderungen

der altersspezifischen

Mortalität zusammengestellt, auf dem rechten die Zeitreihe der Mor- talitätsraten, bezogen auf die Anzahl der Männer ingesamt beziehungs-

(2)

Tabelle 1: Zeitreihen der durch Hodentumor bedingten Sterbefälle nach der amtlichen Todesursachenstatistik. Die Zahlen in Klammem beziehen sich auf das Sterbealter von 15 bis 45 Jahren, das für Terato- me charakteristisch ist (1990: München 3 (0), BRD noch nicht verfüg- bar)

Jahr München Bundesrepublik

1973-1978 1979-1989

2601 (1792) 3288 (2087) 63 (47)

41 (17) 1973

1974 1975 1976 1977 1978

16 6 11 12 9 9

(10) (5) (7) (9) (9) (7)

452 462 424 380 465 418

(302) (318) (278) (292) (315) (287) 2

5 4 1 7 5 2 5 2 5 3 1979

1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989

372 (267) 372 (242) 364 (233) 329 (221) 325 (209) 288 (179) 317 (205) 248 (152) 251 (149) 209 (121) 213 (109)

Tabelle 2: Mittelwerte zur Zahl der jährlichen Sterbefälle für verschie- dene Zeitintervalle der Daten der Tabelle 1. Relationen dieser Mittel- werte beschreiben die Veränderungen seit der Verfügbarkeit der Cis- Platin-Therapie

Zeitraum Sterbefälle Sterbefälle gesamt/Jahr Alter 15-45 pro Jahr

Anteil in % 15-45/gesamt Ort

München 1973-1978 München 1979-1989 BRD 1973-1978 BRD 1979-1989 BRD 1988-1989

Relationen der Durchschnittswerte München 1973-78/1979-89 BRD 1973-78/1979-88 BRD 1973-78/1988-89

7,8 1,5 299 190 115 gesamt

2,8 1,5 2,1 10,5

3,7 434 299 211

75 41 69 63 55 15-45 Jahre

5,1 1,6 2,6 weise auf die im Alter von 15 bis 45

Jahren. Diese Veränderungen kön- nen unterschiedlich analysiert wer- den.

Modellrechnung I:

Vorher-Nachher- Vergleich

Jede Modellrechnung enthält ei- ne Reihe von Annahmen. Die Zahl der jährlichen Sterbefälle am Ho- dentumor muß korrekt, also ein brauchbares Maß sein. Ein Ver- gleich der Daten der Stadt München mit denen der Bundesrepublik setzt vergleichbare Erkrankungen voraus.

Vergleichbare Sterbewahrschein- lichkeiten und ein gleiches Verhält- nis von Seminomen und Teratomen reichen als Annahmen aus. Die Inzi- denzraten können aber durchaus un- terschiedlich sein.

Die Zahl der jährlichen Sterbe- fälle S ergibt sich dann aus den Neu- erkrankungen (Neuerkr.) und den Sterbewahrscheinlichkeiten (Ster- bew.) als S = Neuerkr. se„, x Ster- bew. se„, + Neuerkr. Ter x Sterbew .Ter (5 = Ns x qs + NT X

ch).

Bei be- kannter Seminom-Teratom-Propor- tion und gesicherten Überlebensra- ten ergibt sich aus bekanntem S die Zahl der Neuerkrankungen oder umgekehrt die Zahl der Sterbefälle.

Ändert sich nur eine Variable - hier

worden (Tabelle 2), 7,8 im Alter von 15 bis 45 Jahren. Dies entspricht ei- nem Anteil von zirka 75 Prozent am Gesamtkollektiv. Die vergleichbaren Zahlen für die Bundesrepublik erge- ben 69 Prozent. Dieser geringe Un- terschied ist fast ganz durch die Un- terschiede in der Altersstruktur zu erklären. In München sind zirka 51 Prozent der Männer 15 bis 45 Jahre alt, in der Bundesrepublik nur 47 Prozent (auch vor 10 Jahren). Die Änderungen dieser Durchschnitts- werte sind nach 1979 dramatisch. Ei- ne Änderung von 10,5 Sterbefällen auf 3,7 in der Stadt München würde einem Rückgang von 434 auf 154 in der Bundesrepublik entsprechen.

Wie die Tabellen 1 und 2 zei- gen, ist die Änderung in München sprunghaft, praktisch mit der Ver- fügbarkeit der neuen Therapie 1979 erfolgt. Für die gesamte Bundesre- publik zeigt sich jedoch ein verzöger- ter Rückgang seit 1979 auf 211 Ster- befälle in 1988/89. Selbst wenn nur dieses Ergebnis schon 1979 erreicht worden wäre, würde die Exzeßmor- talität bei zirka 1000 liegen.

die Sterbewahrscheinlichkeit des Te- ratoms im Jahre 1979 -, so lassen sich eine Reihe von Verhältniszah- len bilden, die vor und nach 1979 vergleichbar sein müssen.

Vor 1979 sind in München jähr- lich zirka 10,5 Sterbefälle registriert

A-4124 (44) Dt. Ärztebl. 88, Heft 47, 21. November 1991

(3)

Zahl der Sterbefälle je 1 Mio.

35

30

25

20

7 //

15 /'

•—.

i .• a

10 ./

fb / ./

g

0

15 20 25 30 35 40 45

Alter

1977 (n=315/465) --- 1985 (n=205/317) 1979 (n=267/372) --- 1987 (n=149/251) 1981 (n=233/364) 1989 (n=109/213) - - - - 1983 (n=209/325)

—Alter 15-45 insgesamt — - insgesamt ideal 10

Zahl der Sterbefälle je 1 Mb.

25

20

15-

\ ...

••• ........

0 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 Jahr

Abbildung 1: Rückgang der Zahl der Sterbe- fälle (je 1 Million) am Hodentumor in den 5-Jahres-Altersklassen zwischen 15 und 45 Jahren im Zeitraum von 1977 bis 1989 (n = Zahl der Sterbefälle im Alter von 15 bis 45 Jahren/Gesamtzahl der Sterbefälle am Ho- dentumor in der Bundesrepublik, siehe Ta- bellel)

Modellrechnung II:

Inzidenz- und

Mortalitätsschätzungen

Die Nutzung von Mortalitäts- zahlen setzt eine gute Qualität der Todesursachenstatistik voraus. Ist diese Annahme aber berechtigt?

Obige Gleichung entält vier Varia- ble, die Anzahl der Neuerkrankun- gen beziehungsweise die Inzidenzra- ten und die Sterbewahrscheinlich- keiten. Neuerkrankungszahlen hat bisher regelmäßig nur das Tumorre- gister Saarland vorlegen können.

Von 1979 bis 1988 wurden im Mittel 6,6 Neuerkrankungen je 100 000 Männer im Saarland registriert (33).

Im Münchner klinisch-epide- miologischen Tumorregister konnten erstmalig für 1988 bevölkerungsbe-

zogene Werte ermittelt werden, nachdem sich alle urologischen Kli- niken an der Dokumentation betei- ligt hatten (1). In München wurden 1988 40 und 1989 41 Neuerkrankun- gen oder zirka 7,1 je 100 000 Männer registriert. Als klinisch-epidemiolo- gische Kenngröße ergab sich für das Seminom ein Anteil von 47 Prozent bei einem Altersmittelwert von 37 Jahren, für Teratome 41 Prozent und 29 Jahre sowie für Mischtumoren 12 Prozent und 34 Jahre.

Die Mortalitätszahlen in Mün- chen stimmen sehr gut mit den Er- wartungswerten überein, wie sie sich aus Literaturdaten ergeben. Auf- grund der Versorgungssituation und der Erfahrung mit der Dokumentati- on ist eine Inzidenz von 7,1 als unter- ste Grenze zu werten (fünf Patienten zusätzlich würde eine Zunahme auf 7,8 bedeuten und die durchschnittli- che Überlebensrate beim Teratom rechnerisch auf zirka 90 Prozent an- heben, Tabelle 3 Spalte 1; die Un- vollständigkeit der bisherigen Erfas- sung ist bekannt)

Wenn die Zahlen nach 1979 plausibel erscheinen, wie ist es vor

Abbildung 2: Rückgang der Zahl der Sterbe- fälle am Hodentumor in der Bundesrepublik von 1977 bis 1989.—= Zahl der Sterbefälle (je 1 Million) im Alter von 15 bis 45 Jahren, bezogen auf die Zahl der Männer in diesem Altersintervall (siehe Tabelle 1, Fallahlen der Bundesrepublik in Klammem). ... = Gesamtzahl der Sterbefälle (je 1 Million), bezogen auf die jeweils durchschnittliche männliche Bevölkerung. - - - = Idealer Rückgang der Mortalität bei einer breiten Anwendung von Cis-Platin nach der Zulas- sung 1979 auf ca. 170 Sterbefälle jährlich (Annahme von Tabelle 3, Spalte 3). - Die Differenz zwischen gestrichelter und ge- punkteter Linie beschreibt die mögliche Ex- zeßmortalität.

1979? Für die Erklärung der Verän- derung von 10,5 auf 3,7 Sterbefälle (Tabelle 2) sei zuerst angenommen, daß sich die Inzidenzen nicht sprunghaft 1979 veränderten. Dies bedeutet, daß sich in obiger Glei- chung für die Zahl der Sterbefälle nur die Sterbewahrscheinlichkeit für Teratome (q-r) 1979 geändert hat.

Aus der Änderung von S folgt damit eine Reduktion von ch von 55 Pro- zent vor 1979 auf 15 Prozent nach 1979.

Eine durchschnittliche Sterbe- wahrscheinlichkeit von 50 Prozent für Nicht-Seminome vor 1979 er- scheint etwas zu gering. In der Lite-

(4)

434

3,7 3,7

Sterbefälle insgesamt (beobachtet, Mittelwert)

299 299

(213') (213')

10,5 Inzidenz je 10 5

(geschätzt, *beobachtet)

München 1979-89

(1) 7,1*

BRD BRD

1979-89 1979-89

(2) (3)

5,8

BRD München 1973-78 1979-89

(4) (5)

5,8

München 1973-78

(6) 6,8

6,8 7,8

Neuerkrankungen n 50% Seminome

Überlebenswahrscheinlichkeit in % (konstant 95%)

41* 1990 1700 1700 45 39

95 95 95 95 95 95

50% Teratome

Überlebenswahrscheinlichkeit in %

Sterbefälle seminombedingt Sterbefälle teratombedingt Sterbefälle insgesamt (geschätzt)

85 85 85 50 90 50

4,1 3,0 1,0

149 199 50

127 170 43

425 467 43

2,3 3,4

1,1 0,98

9,75 10,0 Tabelle 3: Modellrechnungen (1) bis (6) zu den beobachteten Sterbezahlen der amtlichen Todesursachen- statistik. Ein Seminom-Teratom-Verhältnis von 1:1 und Überlebenswahrscheinlichkeiten von 95 Prozent be- ziehungsweise 85 Prozent sind vielfach belegt. In (1) wurden 40/41 Neuerkrankungen 1988/89 in der Stadt München beobachtet. Die Inzidenzraten von (2-6) sind Modellannahmen - (Einwohner männlich München/

BRD in Mio. 0,574/29,32)

* 1989 in München beobachtet, + 213 Sterbefälle 1989 in der BRD registriert)

ratur schwanken zwar die Ergebnisse von 30 bis 60 Prozent in Abhängig- keit von der Verteilung der Stadien, der Histologie, dem Umfang der Lymphadenektomie und dem zuneh- menden Einsatz der Chemotherapie (4, 5, 17, 19, 22, 28, 29). Aber der Grund könnte auch einfach in der Annahme einer konstanten Inzidenz liegen. Denn weltweit wird ein steti- ger Anstieg der Inzidenz des Hoden- tumors beobachtet (zum Beispiel Skandinavische Register, Dänemark, England, Saarland; 9, 12, 18, 33).

Werden deshalb für die Zeit vor 1979 5,8 Neuerkrankungen und 50 Prozent Seminome (1, 14, 26, 27) mit 95 Prozent Überlebenswahrschein- lichkeit für München angenommen, so ergibt sich eine durchschnittliche Überlebenswahrscheinlichkeit bei Teratomen von zirka 45 Prozent (Tabelle 3, Spalte 4).

Wie sind nun die Daten für die Bundesrepublik zu interpretieren?

Wird für die Zeit nach 1979 von 211 Sterbefällen, das heißt von dem Durchschnitt der letzten beiden Jah- re, ausgegangen und werden zusätz- lich 50 Prozent Seminome und die anerkannten Überlebenswahrschein- lichkeiten angenmommen, so ergä- ben sie 2100 Neuerkrankungen oder 7,1 je 100 000 für die Bundesrepu- blik. Diese Größenordnung würde wiederum zu Widersprüchen für die Zeit vor 1979 führen beziehungswei- se durch eine starke Zunahme der Inzidenz nach 1979 plausibel wer- den.

Eine Reihe von Beobachtungen belegen nun eine höhere Inzidenz in städtischen Regionen, zum Teil wird auch ein Anstieg der Inzidenz mit der sozialen Schicht aufgezeigt (7, 9, 15, 23, 25). Bei einer Inzidenz von 5,8 beziehungsweise 1700 Neuer- krankungen für die Bundesrepublik würden sich zirka 170 Sterbefälle jährlich ergeben, in Übereinstim-

mung mit den Modellrechnungen I und II (Tabelle 3, Spalte 3).

Unterschiedliche Inzidenzen zwischen 1975 und 1988 und zwi- schen Stadt und Land sind mit der Literatur vereinbar. Sie lassen die Veränderung der Mortalitätszahlen der Bundesrepublik plausibel er- scheinen. Mit unterschiedlichen An- nahmen variieren zwar die Ergebnis- se etwas, aber die in Tabelle 1 bezie- hungsweise der Abbildung durch den langsamen Rückgang dargelegte Ex- zeßmortalität wird dadurch nicht er- klärbar.

Diskussion

Erstmalig wurde in einer Studie zwischen 1974 bis 1976 bei 50 Patien- ten mit metastasierten Hodentumo- ren eine Überlebensrate von 85 Pro- zent erreicht (10). Die Mortalitäts- daten der Bundesrepublik stützen in A-4128 (48) Dt. Ärztebl. 88, Heft 47, 21. November 1991

(5)

Verbindung mit gesicherten Überle- bensraten die Hypothese, daß diese 1977 erstmalig publizierte und mit der Cis-Platin-Zulassung 1979 in der BRD verfügbare Therapie zu einer Exzeßmortalität geführt hat. Theore- tisch wäre bei einer breiten soforti- gen Anwendung wegen der Wirk- samkeit bei Primär- und Rezidivthe- rapie ein nahezu sprunghafter Rück- gang der Mortalität spätestens 1980 möglich gewesen. Diese Hypothese wurde zum einen durch den Ver- gleich der Mortalitätsdaten der Stadt München mit denen der Bundesre- publik begründet. Insbesondere läßt sich aber die gleiche Behauptung auch mit den nach 1977 anerkannten Therapieergebnissen errechnen und belegen. Es gibt keine andere schlüs- sige Begründung für den zeitlichen Verlauf der Mortalität. Selbst die bisher niedrigste Zahl der Sterbefäl- le im Jahr 1988 mit 209 erscheint noch zu hoch.

In bedeutenden Zeitschriften wurden die Erfolge der innovativen Therapie beschrieben (11, 21), über eine NIH-Konferenz wurden die Fortschritte propagiert (3). Unter der Rubrik Medical Progress endete ein Übersichtsartikel im New Eng- land Journal of Medicine 1979 mit folgenden Sätzen: „Testicular tu- mors are among the most curable of cancers in human beings; in some series, the longterm survival rates now exceed 90 per cent for both seminomas and nonseminomatous tumors. It ist important that the cau- ses of failure be analyzed carefully in any patient who dies of testicular cancer. Even higher cure rates may be possible" (11).

Eine dänische Hodentumorstu- die, in die von 1976 bis 1980 1058 Pa- tienten aufgenommen wurden, er- reichte bei Seminomen 96 Prozent und bei nicht seminomatösen Tu- moren noch 80 Prozent. Dabei wur- de erst im März 1979 die neue The- rapie verbindlich (16, 27). Einen sol- chen Rückgang zeigt die Mortalitäts- statistik der Stadt München. In der Bundesrepublik sank die Mortalität von 1979 bis 1981 jedoch nur um et- wa 15 Prozent, was auf einen Einsatz der innovativen Therapie in vier bis sechs großen Zentren schließen läßt (13). Eine Ausschöpfung der thera-

peutischen Möglichkeiten scheint auch 1989 noch nicht erreicht zu sein, auch wenn die Gründe mehr bei der Nachsorge als bei der Pri- märtherapie zu suchen sein dürften (6). Trifft diese Aussage zu, daß das Gesundheitssystem in der Bundesre- publik auf eine so markante Innova- tion sehr verzögert reagiert, so stel- len sich unter anderen zwei Fragen:

(D Wie können innovative An- sätze effektiver im Sinne eines zügi- gen Wissenstransfers propagiert wer- den?

(D Gibt es Möglichkeiten, den Erfolg der Wissensverbreitung zu messen?

Zur ersten Frage sind am Bei- spiel des Hodentumors die histologi- sche Vielfalt, die notwendige inter- disziplinäre Kooperation und die Seltenheit der Erkrankung als zu- sätzliche Hürde für eine schnelle Umsetzung hervorzuheben. Auch wenn es sich hier um einen dramati- schen Effekt handelt, so gibt es zum Beispiel allein in der Onkologie auf vielen Ebenen innovative Ansätze im diagnostischen Bereich, bei der The- rapie etwa durch Rücknahme der Radikalität von Therapiemaßnah- men oder bei der Nachsorge durch risikoadaptierte Strategien. Einer so- fortigen Umsetzung sind praktische Grenzen gesetzt, die aber beeinfluß- bar sind. Die modernen multimoda- len Therapiekonzepte werden heute in gemeinsamen Konferenzen, zum Beispiel der AIO oder der AUO (Ar- beitskreise internistischer/urologi- scher Onkologie) vorgestellt und dis- kutiert.

Aus der Sicht des Arztes stellt sich aber bei der bekannten Innova- tionsflut in der Medizin insbesonde- re bei seltenen Ereignissen das Pro- blem, sich in der konkreten Ent- scheidungssituation über Neuerun- gen informieren zu können. Da sich vergleichbare Fragen für nahezu je- de ärztliche Entscheidung stellen, ist eine stärkere Zentralisierung der Versorgung kein gangbarer Lösungs- weg. Chancen bietet die moderne In- formationstechnologie, wenn sie zum Beispiel von den Fachgesellschaften gezielt genutzt wird. Die notwendi- gen Entwicklungen finden aber nur unzureichende Unterstützung und kommen deshalb zu langsam voran.

Die zweite Frage ist problemab- hängig unterschiedlich zu beantwor- ten. Schlägt sich eine Innovation in der Mortalitätsstatistik nieder, so ist, wie hier gezeigt, ein Qualitätsmoni- toring mit Routinedaten durchaus möglich und notwendig. Die härteste Maßzahl in der Medizin ist die Mor- talität. Es ist ein Anachronismus, daß in der Bundesrepublik als wohl einzigen entwickeltem Land eine aufwendige Todesursachenstatistik geführt wird, die Daten verfügbar sind, aber eine Nutzung für die Ge- sundheit der Bevölkerung rechtlich unterbunden ist. Der Zugang zur To- desursachenstatistik kann zwar nicht beliebig frei sein. Aber es ist notwen- dig, jährlich die Daten regional wis- senschaftlich auf Trends, Auffällig- keiten analysieren zu lassen, um Fra- gen zu stellen, die die Gesundheit der Bevölkerung betreffen. Dies wä- re eine Aufgabe einer auf die öffent- liche Gesundheit ausgerichteten Epidemiologie (30). Aufgrund der Rechtslage kann zum Beispiel keine Gesundheitsbehörde einer Groß- stadt der Frage nachgehen, wer an was in welchem Alter in einem Stadt- bezirk stirbt. Vor 100 oder 150 Jah- ren war man diesbezüglich weiter.

Die Analyse der verfügbaren Mortalitätsdaten ist der erste Schritt.

Auf diesem könnten zum Beispiel für Krebserkrankungen bevölkerungsbe- zogene Register aufsetzen, wie sie vom Bundesgesundheitsamt (BGA) in einer aufwendigen Sekundärpubli- kation gefordert werden (24). Solche Register müssen aber eine Versor- gungsnähe bewahren, klinisch-epide- miologische Ergebnisse verfolgen, um Veränderungen sensibel registrieren und kompetent beurteilen zu können.

Die Feststellung des BGA zum Ho- dentumor, daß in dem hier beschrie- benen Zeitraum die Inzidenz leicht zunimmt und die Mortalität abnimmt, zeigt eine gewisse Distanz zur Versor- gung. Notwendig ist die detaillierte Erfassung der Histologie, der post- operativen Stadien und wichtiger Tu- mormarker. Gerade beim Hodentu- mor sind klinisch-epidemiologische

Fakten besonders wichtig, weil für ei-

ne

optimale Therapie sehr verschie- dene, von den Primärbefunden ab- hängige Versorgungswege einge- schlagen werden müssen.

(6)

Neben dieser Auswertung ver- fügbarer Daten zur Kontrolle der Veränderung des Gesundheitsstatus der Bevölkerung sind auch Lösungen im Einzelfall überfällig, wie es bei- spielsweise im Sozialgesetzbuch V

§§ 136, 137 mit dem Stichwort Quali- tätskontrolle im Einzelfall gefordert wird. Auch heute ist es einem Arzt oder einer Klinik in der Bundesrepu- blik noch nicht möglich, im Einzelfall die Todesursache oder zumindest den zuletzt behandelnden Arzt über die Todesbescheinigung vom Staat zu erfahren, auch wenn für aufwen- dige Therapien die Verantwortung nachgewiesen, ja das Einverständnis des Patienten, an einer Studie teilzu- nehmen, vorgelegt werden kann. Sol- che Hürden motivieren nicht zur Langzeitqualitätskontrolle mit der Konsequenz, daß wissenschaftliche

Beiträge zu aktuellen Versorgungs- fragen aus der Bundesrepublik in der Literatur sehr selten zu finden sind.

Diese Ansätze zeigen, daß ne- ben der Therapieforschung mit randomisierten Studien die bevöl- kerungsbezogene Evaluationsfor- schung zur Effektivität und Qualität der anerkannten Interventionen ent- scheidend auszubauen ist. Die Nut- zung und Verknüpfung verfügbarer Daten, ihre regionale Analyse und regionale Vergleiche sind ein Ansatz für Outcome-Bewertungen (35). Ei- ne solche Förderung der öffentlichen Gesundheit ist, wie beispielhaft auf- gezeigt wurde, von großem Allge- meininteresse. Eine adäquate Nut- zung verfügbarer Daten erfordert aber eine entsprechende Interpreta- tion bestehender Datenschutzge- setze.

Für kritisch konstruktive Anregungen sind wir Prof. J. Michaelis, Mainz, Prof. J.

Sökeland, Dortmund, und Prof. K. Überla, München, zu Dank verpflichtet.

Die Zahlen in Klammem beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonder- druck, anzufordem über die Verfasser.

Anschriften der Verfasser

Prof. Dr. rer. biol. hum.

Dieter Hölzel

Klinikum Großhadern/IBE Marchioninistraße 15 W-8000 München 70

Prof. Dr. med. Jens E. Altwein Urologische Abteilung

Krankenhaus der Barmherzigen Brüder

Romanstraße 93 W-8000 München 19

Häufiger

Schnupfen bei Streß

Um zu klären, ob zwischen psy- chologischem Streß und der Anfäl- ligkeit für Schnupfen ein Zusam- menhang besteht, führten die Auto- ren eine prospektive Studie bei 420 Probanden durch. Nachdem anhand von Fragebögen das individuelle psy- chologische Streßprofil erstellt war, wurde bei 394 Probanden eine Virusexposition (RS-Viren, Rhinovi- ren, Coronaviren) mit Nasentropfen durchgeführt. Als Kontrolle dienten 26 Probanden mit Placebo-Nasen- tropfen. Sowohl für die Infektionsra- te (positiver Virusnachweis) als auch für die Rate der klinischen Erkran- kungen (positiver Virusnachweis plus Symptome) ließ sich mit stei- gendem Streß eine signifikante Zu- nahme nachweisen. Die Infektions- rate rangierte zwischen 74 und 90 Prozent, die Rate der klinisch Er- krankten zwischen 27 und 47 Prozent in Abhängigkeit vom Streßprofil.

Dieser Zusammenhang konnte we- der durch epidemiologische noch durch soziale oder medizinische Fak- toren erklärt werden. Die Autoren folgern, daß die Anfälligkeit für Schnupfen mit wachsendem Streß

zunimmt, und daß dies primär durch höhere Infektionsraten bedingt ist und nicht durch eine Zunahme der klinischen Symptomatik nach Infek- tion. acc

Cohen S., D. A. Tyrrell, A. P. Smith: Psy- chological Stress and Susceptibility to the Common Cold. N. Engl. J. Med. 325 (1991) 606-12.

Dr. Cohen, Dept. of Psychology, Carnegie Mellon University, Pittsburgh, PA 15213, USA.

Skelettszintigraphie in der Nachsorge des Mamma-Ca

Das Mamma-Ca ist nach der Pri- märbehandlung durch eine frühzei- tig beginnende und lang andauernde Metastasierungstendenz gekenn- zeichnet. Zum Nachweis von Kno- chenmetastasen ist die Skelettszin- tigraphie nach wie vor eine unver- zichtbare Basisuntersuchung in der Nachsorge des Mammakarzinoms.

In einer retrospektiven Studie wurden 2161 Patientinnen mit einem histologisch gesicherten Brustkrebs bis maximal 61/2 Jahre nach der Pri- märbehandlung kontrolliert. Kno- chenmetastasen sind mit 11,5 Pro- zent am häufigsten nachzuweisen.

FÜR SIE REFERIERT

Bei 55 Prozent dieser Patienten lie- gen gleichzeitig extraossäre Metasta- sen vor, bei Patientinnen ohne Ske- lettbefall haben nur sieben Prozent Weichteilmetastasen. Die Studie stellt weiter fest, daß der Lymphkno- tenstatus neben der Tumorgröße das entscheidende Prognosekriterium für die ossäre Metastasenfreiheit ist.

Bei Patientinnen mit „low-risk"

(pT1pNO) kann auf die routinemä- ßige Skelettszintigraphie verzichtet werden. Bei einem sogenannten

„medium-risk" (pt1pN1, pT2pNO) ist eine fakultative Durchführung zu diskutieren. Bei „high-risk"-Patien- tinnen (pN1 und größerer Primärtu- mor, pN2-3) ist auf jeden Fall eine regelmäßige Skelettszintigraphie in halb- bis mindestens einjährigen Ab- ständen indiziert. mle

Langhammer H. R.: Die Skelettszintigra- phie in der Nachsorge des Mammakarzi- noms unter dem Gesichtspunkt des lokore- gionalen Tumorstadiums. Tumordiagn. u.

Ther. 12 (1991) 89-96

Prof. Dr. H. R. Langhammer, Nuklearme- dizinische Klinik und Poliklinik rechts der Isar der Technischen Universität Mün- chen, Ismaninger Straße 22, D-8000 Mün- chen 80

A-4130 (52) Dt. Ärztebl. 88, Heft 47, 21. November 1991

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Im Anschluss wird der Teilnehmer per E-Mail be- nachrichtigt, dass er in der Ru- brik „Meine Daten“ seine Teilnahmebescheinigung als PDF-Datei zur Vorlage bei der Landesärztekammer

Darüber hin- aus gibt es aber sowohl im plasmatischen Bereich (z. Interferone, Interleukine, Kom- plement) als auch besonderes im zellulären Bereich (Makro- phagen,

Die Medizini- sche Hochschule Hannover hat zusammen mit dem Zen- tralinstitut für die kassenärzt- liche Versorgung (ZI), Köln, eine Machbarkeits- und Eva- luationsstudie zum

Es wird die Hodentumor-be- dingte Mortalität in der BRD den publizierten Remissionsraten und Langzeitergebnissen bei der Be- handlung der malignen Keimzelltu- moren des

50prozentiger Rückgang der Mortalität des Hodentumors in den nächsten Jahren möglich sein, das heißt wenn die Daten vergleichbar sind, könnten jährlich etwa 60 bis 70

Er widersprach damit der brandenburgischen Ge- sundheitsministerin Regine Hildebrandt (SPD), die nach seiner Darstellung erklärt hat, eine gemeinsame Kran- kenhausplanung werde es

Zwischen zwei Zahlengrößen besteht ein umgekehrtes Verhältnis (= ungerades Verhältnis), wenn die eine Zahlengröße größer, die andere Zahlengröße zugleich entsprechend kleiner

halten Sie einen festen Unterrichtsablauf ein (z. fachliches Warm-up zu Stundenbeginn, Fachbegriffe-Quiz am Ende der Stunde), um gerade unsicheren Schülern einen festen Rahmen