Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 98½½Heft 15½½13. April 2001 AA945
S E I T E E I N S
Pflegeversicherung
Brisante Folgen
D
ie Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVG) vom 3. April zur Verfassungsmäßig- keit der 1995 eingeführten Pflege- versicherung hat es in sich: Zwar be- stätigten die Karlsruher Richter, dass die Pflegeversicherung als Pflichtversicherung, der 98 Prozent der deutschen Bevölkerung an- gehören, verfassungskonform und auch „verhältnismäßig“ ist im Hin- blick auf die Versicherungspflicht privat Krankenversicherter. Doch monierte das Gericht die Beitragser- hebung, wonach Eltern ebenso wie Kinderlose einkommensproportio- nal den gleichen Beitrag (bis zu ei- nem monatlichen Höchstbeitrag von rund 110 DM) zahlen. Das höchste Gericht forderte den Gesetzgeber auf, die Benachteiligung der Eltern bei der Beitragsgestaltung späte- stens ab 2005 zu beheben und „die Bedeutung der Entscheidung auch für andere Zweige der Sozialversi- cherung zu prüfen“.Bisher hatte die Bundesregie- rung stets darauf hingewiesen, dass die Pflegeversicherung familien- freundlich sei, weil Ehegatten und Kinder kostenfrei mitversichert sind. Das Verfassungsgericht be- tonte jetzt aber, dass dadurch der
„systemspezifische Vorteil“ der Kinderlosen quantitativ nicht aus- gewogen sei. Allerdings hält das BVG eine völlige Beitragsbefrei- ung für Eltern und Kinderreiche nicht für notwendig. Die Familien- komponente müsse jedoch bei den Beiträgen für die Pflegeversiche- rung durch entsprechende Staffe- lung ab dem ersten Kind berück- sichtigt werden. Es sei nicht auszu- schließen, dass das Urteil auch Aus- wirkungen auf die Rentenversiche- rung habe.
Für die private Pflegepflichtversi- cherung, in der 13 Prozent der Er- werbstätigen erfasst sind, wird die Familienkomponente übrigens nicht gelten. Denn in der privaten Kran- ken- und Pflegeversicherung gilt das Prinzip der Risiko-Äquivalenz und der Kapitaldeckung.
Verfassungswidrig hingegen ist die Regelung, mit der bisher Bürger ohne Krankenversicherungsschutz vom Zugang zur Pflegeversicherung ausgeschlossen wurden. Sie betrifft rund 1,5 Millionen. 90 Prozent da- von sind Sozialhilfeempfänger. Wei- tere 150 000 Bürger sind weder krankenversichert noch leistungsbe- rechtigt. Ihnen muss der Gesetzge- ber bis zum 31. Dezember 2001 „zu- mindest ein Beitragsrecht“ einräu- men.
Karlsruhe gibt dem Gesetzgeber unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit und der großen Tragweite der Entscheidung eine Karenzzeit bis zum 31. Dezember 2004, um eine relative Entlastung Kinder erziehender Beitragszahler in der Pflegeversicherung in das Gesetz einzuarbeiten. Keinesfalls könne der Ausgleich durch unter- schiedliche Leistung im Falle der Pflegebedürftigkeit erfolgen. Es sei jedoch erforderlich, bereits die Unterhaltspflicht gegenüber einem Kind zu berücksichtigen.
Das Urteil, das vom Deutschen Familienverband e.V. und den Grü- nen als ein „Sieg für Familien und Kinder“ begrüßt wurde, kann die künftige Finanzierung der noch im finanziellen Lot befindlichen Pflege- versicherung zusätzlich erschweren.
Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt hatte kürzlich Beitragssta- bilität bis 2005 zugesagt. Anderer- seits kann das Urteil Auswirkungen auf die noch nicht beschlossene Ren- tenreform 2001 haben. Schmidt, die auf die beitragsfreie Mitversiche- rung von Kindern in der Kranken- versicherung hinweist, hätte sich ei- nen weitergehenden Familienlasten- ausgleich über andere Formen der Familien- und Steuerpolitik ge- wünscht. Jedenfalls dürften aufkei- mende Hoffnungen und Wünsche durch das Urteil jetzt durchkreuzt werden, die GKV-Finanzierung auf eine breitere Basis zu stellen und In- dividualbeiträge auch für die bisher
„mitversicherten“ Familienangehöri- gen zu erheben. Dr. rer. pol. Harald Clade