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Archiv "Einheit statt Ausbeutung" (01.06.2001)

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P O L I T I K

Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 98½½Heft 22½½1. Juni 2001 AA1449

104. DEUTSCHER ÄRZTETAG

A

ufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst- verschuldeten Unmündigkeit.“

Immanuel Kants Diktum prägte den Weg aus dem Mittelalter in die moder- ne Gesellschaft. Kritisches Denken, Wissenschaft und Freiheit statt Dog- men, Ausbeutung und Feudalismus.

Auch die medizinische Welt ist ein Kind dieser Entwicklung. Fragt man, wie weit sie es mit ihrer Modernität, ih- rer Aufgeklärtheit, ihrer Mündigkeit gebracht hat, tritt eine eigenartige Spal- tung, eine tiefe Ambivalenz hervor.

Einerseits ist der harte technisch- wissenschaftliche Kern der ärztlichen Welt rund, schön und vorzeigbar. Die Entschlüsselung des humanen Ge- noms ist der Kristallisationspunkt für Hoffnungen auf ein echtes Verständnis pathophysiologischer Vorgänge auf molekularer Ebene und die Entwick- lung neuartiger, kausal wirksamer Therapien gegen die alten, bitteren Krankheiten. Gewiss, der medizini- sche Fortschritt triumphiert.

Ganz anders hingegen ist die menschliche Wirklichkeit in den deut- schen Krankenhäusern. Hier ist die mittelalterliche Sozial- und Führungs- struktur oft noch sehr präsent. Insbe- sondere die jungen Ärztinnen und Ärzte sind unzufrieden. Ihre Situation ist inzwischen so problematisch, dass der Deutsche Ärztetag schon früher darauf hinwies, dass „die Ausbeutung insbesondere der jungen angestellten Ärztinnen und Ärzte zu unterbinden“

sei.

Die Phase des Arztes im Praktikum (AiP) wurde 1988 gesetzlich einge- führt. Seitdem sind nach Abschluss des sechsjährigen Studiums diese einein- halb Jahre in der Billiglohngruppe, die BAT 10 entspricht, Pflicht für jeden, der auf dem Weg zum Arzt vorankom- men will. Die größten Leidtragenden in dieser Gruppe der „working poor“

sind junge Familien. Sie werden durch die AiP-Tarifverträge zu Sozialhilfe- empfängern degradiert, weil weder Kinderzuschläge noch die Ortszuschlä- ge für die Partner gezahlt werden. Die- se massiven Ungerechtigkeiten sind

Teil der Lebenswirklichkeit junger Ärzte. Keine andere Berufsgruppe duldet eine solche Behandlung ihrer jungen Kollegen. Auch im europäi- schen Vergleich ist das System AiP entweder nicht etabliert – wie in der Schweiz –, oder es wird wenigstens besser bezahlt.

Fast gleichzeitig mit dem AiP wurde in den Tarifverträgen die Möglichkeit verankert, Ärzte in befristeten Verträ- gen zu beschäftigen. Viele Ärzte han- geln sich von Vertrag zu Vertrag. Eine längerfristige Lebensplanung findet nicht statt. 80 Prozent der jungen ange- stellten Ärzte sind nach Schätzungen des Marburger Bundes befristet be-

schäftigt. Hier liegt für die Arbeitge- ber eines der Instrumente, mit dem sie auf ihre Angestellten den Druck auf- bauen können, um zum Beispiel unbe- zahlte Überstunden durchzusetzen.

Am 3. Oktober 2000 hat der Eu- ropäische Gerichtshof mit seinem Ur- teil zum Bereitschaftsdienst im Kran- kenhaus Wellen geschlagen. Der Be- reitschaftsdienst in Form persönlicher Anwesenheit sei als reguläre Arbeits- zeit zu werten, urteilten die Richter und stellen damit klar, dass die gängige Praxis in deutschen Krankenhäusern rechtswidrig sei. Wie dieses Urteil um- gesetzt wird, bleibt abzuwarten. Es ist aber ein bedeutendes Signal der Judi- kative, dass die gegenwärtige Situation unhaltbar ist.

Das Elend des AiP hat zwei Seiten:

seine Existenz und seine Bezahlung.

Die Abschaffung wird noch länger dauern, weil sie zwar mittlerweile auch politisch von den Verantwortlichen ge- wollt wird, aber an die noch immer ausstehende 8. Novelle der Approbati- onsordnung für Ärzte geknüpft ist. Für die Zwischenzeit muss also die finanzi- elle Seite verbessert werden. Wo leben

wir, dass die Ärzteschaft es duldet, dass Kollegen in der eigenen Abtei- lung unter dem Existenzminimum be- zahlt werden. Würden Juristen, Leh- rer, Bankfachleute oder Piloten sich so auseinander dividieren lassen? Hat es der Ärzteschaft in der Bilanz genützt oder ihren Status oder ihr Ansehen ge- hoben, dass sie der Konstruktion eines Billiglohnsektors zugestimmt hat?

Die Weiterbildungsverträge sollten für die gesamte Weiterbildungszeit, mindestens für die Dauer der Weiter- bildungsbefugnis des Chefarztes, hin ausgelegt sein. Ferner müssen die Wei- terbildungsordnungen auf den realisti- schen Gehalt ihrer Anforderungskata- loge hin überprüft werden und in der Durchführung einer Qualitätskontrol- le unterliegen.

Die Ärztekammern sollten der Ga- rant dafür sein, dass die feudalen Ab- hängigkeiten dort, wo sie noch existie- ren, durch moderne Arbeitsbedingun- gen auf rechtsstaatlicher Basis ab- gelöst werden. Es müssen dringend ge- eignete Instrumentarien entwickelt werden, um die Missstände im Hin- blick auf die Weiterbildung und die Einhaltung der Arbeitszeitgesetze zu unterbinden. Die Kammern sind de- mokratisch legitimiert und politisch dieser Aufgabe gewachsen.

Im Übrigen darf eine ebenenge- rechte Analyse die Rolle der Gesell- schaft nicht vernachlässigen. Es ist ein Irrtum zu glauben, den medizinischen Fortschritt nutzen zu können, ohne die Rechnung zu bezahlen. Es kann nicht ewig so weitergehen, dass Ärzte mit ihren kostenlosen Überstunden diese ökonomische Illusion decken. Wir brauchen auch eine Debatte über die Verteilung der Ressourcen. Die jun- gen Ärzte sind müde, als einfach ver- fügbare Rationalisierungsreserve her- zuhalten.

Sie erhoffen sich keine roten Teppi- che, aber sie fordern konkrete schnell umsetzbare Verbesserungen, um sich ohne existenzielle Sorgen um ihre Patienten kümmern zu können. Davon würden alle Ärzte profitieren.

Ove Schröder, Berlin, AiP in der Unfallchirurgie

KOMMENTAR

Einheit statt

Ausbeutung

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