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A3068 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 46½½½½17. November 2000 er Medizinische Dienst der Kran-
kenkassen soll die „Fehlbelegung in Krankenhäusern . . . nach inter- national anerkannten präzisen Beurtei- lungskriterien“ bewerten.
Es fragt sich, ob es überhaupt präzise Beurteilungskriterien gibt, die für die Belegung von Krankenhausbetten inter- national anerkannt werden könnten.
Sind nicht Krankenversorgung und Ge- sundheitswesen in den Kulturen, in den Ländern dieser Erde, sogar in den Re- gionen Europas so grundverschieden, dass es „präzise Beurteilungskriterien“
überhaupt nur regional, allenfalls natio- nal und immer nur auf das kulturelle Umfeld bezogen, geben kann?
Freiheitliche Verfassungssysteme un- terstellen die Mündigkeit des Bürgers und die Zielvorstellung individualmedi- zinischer Behandlung der Patienten.
Systemimmanente stationäre Versor- gung hat demgemäß zu berücksichtigen,
dass bei naturwissenschaftlich-medizi- nisch gleichen Befunden das Befinden ebenso ungleich sein kann wie das soziale Umfeld von Patienten mit vergleichbarer medizinischer Prognostik. Kann man mit präzisen Beurteilungskriterien die grund- verschiedenen sozialen Umwelten der Patienten erfassen, die stationär aufge- nommen oder aus stationärer Behand- lung in ihr häusliches Milieu entlassen werden, in dem sie liebevolle Pflege emp- fängt oder die Leere eines Ein-Personen- Haushaltes inmitten gleichgültiger oder zerstrittener Nachbarschaft?
Schließlich bleibt immer noch der mentale Faktor in der oft erheblichen Diskrepanz zwischen Befunden und Be- finden. Kann ein planwirtschaftliches Sy- stem individuellen Bedürfnissen über- haupt kasuistisch gerecht werden, in- dem es versucht, kollektiv Bedarf zu planen, statt individuell Bedürfnisse zu
befriedigen. ✮
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GL LO OS SS SE EN N
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P O L I T I K
Präzise Fehlbelegung
ie sich ohne rechtes öffentliches Interesse dahinschleppende Dis- kussion zur Gleichberechtigung von jungen Frauen und Männern im Dienst mit der Waffe wird jetzt von einer populistisch dominierenden Diskussion um zivile und militärische Dienstpflich- ten überlagert. Den Befürwortern einer nur aus Freiwilligen zu bildenden Be- rufswehr wird als immer gewichtigeres Argument der Gemeinwohlverpflich- tung entgegengehalten, die Abschaffung der Wehrpflicht gefährde die Gesund- heits- und Sozialversorgung durch die Zivildienstleistenden.
Tatsächlich: Ohne die meist engagier- ten jungen Männer des Zivildienstes wäre das Desaster des Sozialsystems noch ka- tastrophaler. Es geht um Milliarden DM.
Müssen nicht schon heute frühberufli- che und gewerbliche private Pflegedienste mit den Dumpingentgelten des großen Kartells der Übereinkünfte des Bundes- amtes für Zivildienst mit Wohlfahrts- verbänden, Kirchen und anderen Lei- stungsträgerorganisationen konkurrie- ren? Hat die Pflegeversicherung zur Lin-
derung oder zur Verschärfung dieses Marktkampfes auf dem Rücken der Pfle- gebedürftigen beigetragen?
Gehören nicht schon heute die „Zi- vis“ wie viele Tausende junger Ärztin- nen und Ärzte in den Kliniken und Krankenhäusern – auch hier geht es um Milliarden DM – zu den Ausgebeuteten des realen Sozialismus im Sozialsystem?
Warum werden die Kassenärzte und Kassenärztlichen Vereinigungen krimi- nalisiert und nicht die Kartelle der Lei- stungsträger der stationären und pflege- rischen Versorgung.
Warum scheuten die Bundesfamilien- ministerin und die von ihr eingesetzte Arbeitsgruppe „Zukunft des Zivildien- stes“ ebenso wie Politiker aller Parteien und die populistischen Massenmedien offene Diskussionen, geschweige denn offene Bekenntnisse zur Gleichberech- tigung für Frauen und Männer in der so- zialen und militärischen Dienstpflicht für das Gemeinwohl unter Beachtung der Wettbewerbsordnung und der Si- cherstellung notwendender existenziel-
ler Mindestversorgung? VD