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Archiv "Autosomal dominant vererbte spinozerebellare Ataxien: Klinik, Genetik und Pathogenese" (08.06.2001)

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Z

ahlreiche Versuche zur Klassifi- zierung erblicher Ataxien auf der Grundlage rein klinischer Daten haben sich in der Vergangenheit als unzureichend herausgestellt. Neuro- pathologische Beschreibungen, wie sie von Friedreich, Marie und Holmes vorgenommen wurden und zu den Be- zeichnungen „olivopontozerebellare Ataxie (OPCA)“, „Marie-Ataxie“

und „Holmes-Ataxie“ führten, muss- ten letztendlich an einer erst jetzt in Anfängen zu erfassenden Heteroge- nität scheitern. Es ist das Verdienst der kürzlich verstorbenen Neurologin Anita Harding, primär ätiologisch-ge- netische Aspekte und erst sekundär klinische und neuropathologische Da- ten für eine Klassifizierung der dege- nerativen Ataxien herangezogen zu haben (7). Ihre Systematik unterschei- det sekundäre Ataxien (zum Beispiel toxisch bedingte) von autosomal re- zessiv vererbten (zum Beispiel Frie- dreich-Ataxie), X-chromosomal ver-

erbten (zum Beispiel Pelizaeus-Merz- bacher-Krankheit) und autosomal do- minant vererbten zerebellaren Ataxi- en (ADCA). Mit der fortschreitenden Identifizierung der molekulargeneti- schen Ursachen der ADCA ist der Be- griff der spinozerebellaren Ataxien (SCA) für die progredient neurodege- nerativ verlaufenden Formen einge- führt worden. Bisher werden 14 Un- terformen der ADCA unterschieden (SCA1 bis 8 und 10 bis 14, zuzüg- lich der dentatorubropallidoluysianen Atrophie, DRPLA) (Tabelle 1);weite- re Heterogenität ist gesichert. Fast al- le bisher bekannten Unterformen werden durch die Expansion von Tri- nukleotidrepeat-Einheiten in den ent- sprechenden Genen oder in deren un- mittelbarer Nähe hervorgerufen. Von

der Gruppe der SCA sind die attackenweise auftretenden Ataxien klinisch meist gut abgrenzbar (episo- dische Ataxien, EA1 und EA2), über die unlängst im Deutschen Ärzteblatt berichtet wurde (19).

Klinisches Bild und

neuropathologische Spezifika

Die Ataxien sind eine klinisch, patho- anatomisch und genetisch heterogene Erkrankungsgruppe, deren Leitsym- ptom eine progrediente Gangunsicher- heit (Gangataxie) durch Degeneration zerebellarer oder spinaler Systeme (Tractus spinocerebellaris, Hinter- strang) ist. Zur Gangunsicherheit treten häufig weitere zerebellare Symptome wie Dysarthrie, Okulomotorikstörung (sakkadierte Blickfolge, dysmetrische Blicksakkaden, Blickrichtungsnystag- mus, mangelhafte Suppression des vesti- bulookulären Reflexes), muskuläre Hy-

Autosomal dominant

vererbte spinozerebellare Ataxien

Klinik, Genetik und Pathogenese Olaf Riess

1

Thorsten Schmidt

1

Ludger Schöls

2

Zusammenfassung

Fast alle bekannten autosomal dominanten spinozerebellaren Ataxien (SCA) werden durch die Expansion von drei Basenpaaren, den Tri- nukleotidrepeat-Einheiten, hervorgerufen, de- ren Länge in der Regel umgekehrt proportional zum Erkrankungsalter ist. Der Pathomechanis- mus, der zum Absterben spezifischer Gehirnbe- reiche meist im Erwachsenenalter führt, ist un- gewiss. Bei der Mehrzahl der betroffenen Gene führt die Verlängerung von einem CAG-Trinu- kleotidrepeat zu einer verlängerten Polygluta- minkette im aberranten Protein mit neuartigen biochemischen Eigenschaften. Kürzlich konn- ten Einschlusskörperchen in den Zellkernen von Neuronen, überwiegend in den betroffe- nen Gehirnarealen, identifiziert werden. Damit haben Polyglutaminerkrankungen zahlreiche Ähnlichkeiten mit neurodegenerativen Erkran- kungen wie Morbus Alzheimer, Morbus Parkin- son und Prionerkrankungen. Zwar wird bei die- sen ebenfalls eine Proteinpräzipitation als Ur-

sache der Erkrankung diskutiert, aber abwei- chend hiervon ist bei CAG-Repeat-Erkrankun- gen der subzelluläre Ort der Pathogenese über- wiegend im Zellkern lokalisiert. Die intranu- kleären Aggregate enthalten neben dem mu- tierten Genprodukt weitere Proteine, wie Hit- zeschockproteine, Ubiquitin und Proteasomen.

Die Rolle dieser Proteinkomplexe für die Er- krankungen ist unklar.

Schlüsselwörter: spinozerebellare Ataxie, in- tranukleärer Einschlusskörper, Neurodegene- ration, Polyglutaminerkrankung

Summary

Clinic, Genetics, and Pathogenesis of Auto- somal Dominant Spinocerebellar Ataxias Almost all known autosomal dominant spino- cerebellar ataxias (SCA) are caused by the expansion of trinucleotide repeats. The length of the expanded CAG-stretch is conversely pro-

portional to the age of onset of the disease. The pathomechanism which leads to degeneration of specific brain regions in adults is unclear. It is likely that a “gain of function” of the affected proteins subsequently causes aggregation of toxic metabolites. Recently, inclusion bodies we- re identified in the nuclei of neurons of affected brain regions. Therefore polyglutamine diseases have numerous similarities with other neurode- generative diseases such as Alzheimer’s disease, Parkinson’s disease and prion diseases where protein precipitation is also discussed to be pathogenetic. In contrast to these other dis- eases, in SCA the precipitation takes place in the nucleus. Among the mutated gene product these intranuclear inclusions contain additional proteins such as heat shock proteins, ubiquitin or proteasomes. The role of these protein com- plexes for the diseases remains unknown.

Key words: spinocerebellar ataxia, intranuclear inclusion body, neurodegenerative disease, poly- glutamine disease

1Abteilung für Medizinische Genetik (Leiter: Prof. Dr.

med. Olaf Riess) der Universität Rostock

2Neurologische Universitätsklinik, St. Josef-Hospital (Leiter: Prof. Dr. med. Horst Przuntek) der Ruhr-Univer- sität Bochum

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potonie, Rumpfataxie, Extremitätenata- xie, Dysmetrie, Dysdiadochokinese und Intentionstremor. Neben dem Kleinhirn können je nach Subtyp der Ataxie auch verschiedene weitere Neuronensysteme von der Degeneration betroffen werden.

Häufig sind Beteiligungen extrapyrami- dalmotorischer Systeme mit Hypomi- mie, Rigor, Akinese und Bradykinesie sowie der Pyramidenbahnen (Spastik, gesteigerte Reflexe, spinale Automatis- men, Babinski-Zeichen), des periphe- ren Nervensystems (Polyneuropathie) mit atrophischen Paresen, Reflexab- schwächung und Dysästhesien und auto- nomer Systeme mit Leitsymptomen wie imperativer Harndrang, Urge-Inkonti- nenz, Impotenz oder orthostatischer Dysregulation.

Nosologisch werden sekundäre Ata- xien mit bekannter Ursache von here- ditären Ataxien und idiopathischen Ataxien unterschieden. Die Ätiologie sekundärer Ataxien kann toxisch (zum Beispiel Alkohol), metabolisch (zum Beispiel Vitamin B12), autoimmun (zum Beispiel Gliadin-Antikörper) oder paraneoplastisch (zum Beispiel gynäkologische Tumoren, Bronchial- karzinom, Morbus Hodgkin) sein.

Eine erbliche Ataxie ist vor allem dann zu vermuten, wenn mehrere Mit- glieder einer Familie betroffen sind.

Es kann jedoch insbesondere bei auto- somal rezessivem Erbgang auch nur ein einzelnes Familienmitglied er- krankt sein, obwohl die Ataxie gene- tisch bedingt ist. Hier ist oft die Kennt-

nis eines Spezialisten erforderlich, um hinter dem Krankheitsbild die typi- sche Symptomkonstellation einer spe- ziellen hereditären Ataxieform zu er- kennen.

Leitsymptom der spinozerebellaren Ataxien ist die progrediente Ataxie ohne Remissionen. Nur anfangs kommt es gelegentlich zu phasenweise auftretender Gangunsicherheit oder Dysarthrie. Erstes Symptom ist in der Regel die Gangunsicherheit, bezie- hungsweise eine reduzierte Alkohol- toleranz. Seltener bestehen bereits vor der Gangataxie Doppelbilder; dann handelt es sich meist um eine SCA3 oder SCA6.

Klinisch werden die so genannten

„rein“ zerebellaren Ataxien (ADCA

A

A1548 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 23½½½½8. Juni 2001

´ Tabelle 1C´

Genetische Klassifikation spinozerebellarer Ataxien

Erkrankung Vererbung Genname Chromosomale Repeat- Repeat-Anzahl

Lokalisation Sequenz normal expandiert

Typ 1

DRPLA Ad Atrophin-1 12p13 CAG 3–36 49–88

SCA1 Ad Ataxin-1 6p23 CAG 6–39 40–83

SCA2 Ad Ataxin-2 12q24.1 CAG 14–32 33–77

SCA3 Ad Ataxin-3 / MJD-1 14q32.1 CAG 12–40 55–86

SCA6 Ad CACNL1A4 19q13 CAG 4–18 21–30

(P/Q Calciumkanal)

SCA7 Ad Ataxin-7 3p12-13 CAG 7–17 38–130

TATA-BP Ad TATA-Binde-Protein 6q27 CAG 25–42 54–63

(Transkriptionsfaktor) Typ 2

SCA8 Ad Ataxin-8-Gen 13q21 (?) CTG, 16–91 107–127

3’-UTR (?) (?)

SCA10 Ad E46 22q13-qter ATTCT, 10–22 800–4600

intronisch

SCA12 Ad Proteinphosphatase 5q13-33 CAG, 7–28 66–78

PP2A-PR55b 5’-UTR

Typ unbekannt

SCA4 Ad – 16q22.1 – – –

SCA5 Ad – 11 – – –

SCA11 Ad – 15q14-q21.3 – – –

SCA13 Ad – 19q13.3-q13.4 – – –

SCA14 Ad – 19q13.4-qter – – –

DRPLA, Dentatorubropallidoluysiane Atrophie; SCA, Spinozerebellare Ataxie; Ad, Autosomal dominant; UTR, Untranslatierte Region;

(?), Trinukleotidexpansionen als Ursache der Ataxie nicht gesichert

(3)

Typ III) von den systemübergreifen- den Formen unterschieden. Bei letz- teren unterscheidet man nochmals zwischen solchen, die mit pigmentö- ser Retinadegeneration einhergehen (ADCA II) und der Hauptgruppe der ADCA I, bei der in variabler Weise verschiedene neuronale Systeme mit betroffen sind, unter anderem mit Op- tikusatrophie, Blickparesen, extrapyra- midalmotorischen Symptomen, Spastik, Polyneuropathie, Inkontinenz und in seltenen Fällen Demenz.

Die „rein“ zerebellaren Formen (ADCA III) können auch gelegentlich eine milde Polyneuropathie oder Py- ramidenbahnzeichen aufweisen, diese sind jedoch regelhaft leicht ausgeprägt und prägen den Verlauf nicht. Jüngst wurde eine Form mit fakultativer Epi- lepsie, die SCA10, beschrieben (23).

Das zerebellare Syndrom steht mit Okulomotorikstörung (sakkadierter Blickfolge, Blickrichtungsnystagmus, reduzierter Suppression des vestibulo- okulären Reflexes und reduzierter optokinetischer Nystagmus), Dysar- thrie, Gang-, Stand- und Extremitäten- ataxie im Vordergrund. Der Verlauf ist insofern „benigne“, als diese For- men in der Regel nicht lebensverkür- zend sind. Aber auch die ADCA III kann zu schwerer Behinderung bis hin zum Angewiesensein auf einen Roll- stuhl, Verlust der feinmotorischen Fähigkeiten, Sehproblemen durch die mangelhafte Augenkoordination und eingeschränkter Artikulation aufgrund der Dysarthrie führen.

Diesen drei klinisch definierten Gruppen lassen sich folgende geneti- sche Unterformen zuordnen:

❃ADCA I: SCA1, SCA2, SCA3, SCA4, SCA8, SCA12, SCA13, TATA-BP

❃ADCA II: SCA7

❃ADCA III: SCA5, SCA6, SCA10, SCA11, SCA14

Die bildgebenden Verfahren (MRI, CT) spiegeln die makroskopisch-pa- thoanatomischen Befunde wider. Es finden sich Formen mit vorwiegend zerebellarer Atrophie (CA) und Formen, bei denen der Hirnstamm in die Degeneration mit einbezogen ist (OPCA). Diese pathoanatomische Ein- teilung besitzt jedoch nur einen be- grenzten Wert, da sowohl Übergänge

zwischen den Formen bestehen, eine Erkrankung von einer CA zu einer OPCA fortschreiten kann, und weil Klinik und Genetik nur bedingt mit den makroskopischen Befunden kor- relieren.

Letztlich ist die klinische Variabi- lität aber auch innerhalb einer gene- tisch definierten SCA-Form so groß, dass die exakte genetische Diagnose nur in einem Teil der Fälle von klini- scher Seite vorherzusagen ist. Häufige klinische Symptomkonstellationen für die einzelnen genetischen Unterfor- men sind in Tabelle 2 zusammenge- stellt.

Molekulare Grundlagen

Nahezu alle bekannten SCA, wie auch die Friedreich-Ataxie, die Chorea Huntington, die myotonische Dystro- phie und das Fragile-X-Syndrom, wer- den durch die Expansion von DNA- Einheiten hervorgerufen, die aus drei Basen bestehen, den so genannten Trinukleotidrepeats. Dabei kann man gegenwärtig die Trinukleotidrepeat- Erkrankungen in zwei Gruppen ein- teilen (28).

Zu einer (als Typ 2 bezeichneten) Gruppe gehören Erkrankungen, bei denen das expandierte Repeat in der 5’-untranslatierten Region eines Gens (CAG-Repeat als Ursache der SCA12), in der 3’-untranslatierten Re- gion (CTG-Repeat-Expansion bei der myotonischen Dystrophie oder der SCA8) oder auch in intronischen Be- reichen (GAA-Repeat bei der Frie- dreich-Ataxie) lokalisiert ist. Stark verallgemeinernd kann man sagen, dass bei dieser Erkrankungsgruppe keine mRNA und damit kein Protein gebildet wird. Es handelt sich daher um einen Funktionsverlust des betrof- fenen Genprodukts.

In dieselbe Gruppe kann wahr- scheinlich auch die SCA10 eingeglie- dert werden, für die kürzlich ein in- tronisch lokalisiertes ATTCT-Penta- nukleotidrepeat als Ursache identi- fiziert werden konnte. Der endgülti- ge Beweis, dass die CTG-Expansion im 3‘-untranslatierten Bereich des SCA8-Gens Ursache einer spinozere- bellaren Ataxie ist, steht noch aus, da

Expansionen auch bei Patienten mit Schizophrenie und manisch depres- siver Erkrankung nachgewiesen wur- den (37).

Bei der zweiten Gruppe kodiert der expandierte Repeat-Abschnitt einen Teil des Proteins, das heißt, er wird in sich wiederholende Aminosäuren über- schrieben. Meist handelt es sich dabei um CAG-Repeats, die auf Proteinebe- ne zu einer verlängerten Glutaminsäu- rekette führen. Man spricht daher auch von Polyglutaminerkrankungen, auf die sich der vorliegende Artikel kon- zentriert. Zur Gruppe der Polygluta- minerkrankungen gehören die SCA1, 2, 3, 6 und 7, aber auch der Morbus Hun- tington (MH), die spinobulbäre Mus- kelatrophie (SBMA oder auch Kenne- dy-Erkrankung) und die DRPLA (Ta- belle 1).

Die eigentliche Funktion der je- weils betroffenen Proteine ist bislang unbekannt. Eine Ausnahme bildet die SCA6, bei der sich der Polyglutamin- bereich in einer Untereinheit eines Calciumkanals befindet. Unklar ist die Situation bei TATA-BP: Zwar wurde in dem TATA-Bindeprotein, einem Transkriptionsfaktor, eine CAG-Ex- pansion nachgewiesen, allerdings nur bei einem einzelnen Ataxie-Patienten (17).

Die Patienten entwickeln in der Regel erste Symptome zwischen der dritten und vierten Lebensdekade, obwohl es für die einzelnen Erkran- kungen starke Unterschiede gibt (Ta- belle 2). Der neurodegenerative Pro- zess ist bei den meisten Polyglutamin- erkrankungen progredient und führt oft zum vorzeitigen Tod, wobei die SCA6 eine Ausnahme darstellt. Für keine der Erkrankungen gibt es mo- mentan eine effektive medikamentöse Therapie.

Die klinische Symptomatik dieser Erkrankungen wird bestimmt durch die vom Nervenzellverlust betroffe- nen Gehirnbereiche. Sowohl der Pa- thomechanismus des Zelltods als auch der Weg, der zu einem je nach Er- krankung unterschiedlichen selekti- ven Neuronenuntergang führt, blie- ben lange Zeit unbekannt. Interessant ist jedoch, dass die jeweiligen Gene sowohl im gesamten ZNS als auch in nicht betroffenen Körpergeweben ex-

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A1552 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 23½½½½8. Juni 2001

´ Tabelle 2C´

Klinik der neurodegenerativen spinozerebellaren Ataxien

Erkrankung Erkrankungsalter Charakteristische Symptome CCT / MRI Lokalisation patho-

logischer Veränderungen

SCA1 37 (5–65) A, D, N OPCA Purkinjezellen

Wechselnd: supranukleäre N. dentatus

Okulomotorikstörung, Spastik, PNP Inferiore Oliven

MEP: periphere und zentrale Pontine Kerne

motorische Leitungszeiten verlängert Tractus spinocerebellaris Hinterstrang

SCA2 32 (1–65) A, D OPCA Purkinjezellen

Verlangsamte Blicksakkaden (früh) Inferiore Oliven (Arm)muskeleigenreflexe abgeschwächt Substantia nigra

Tremor Pontine Kerne

Hinterstrang

SCA3 36 (5–70) A, D, N (ausgeprägt) 4. Ventrikel N. dentatus

Pseudoexophthalmus erweitert Substantia nigra

Dystonie (selten) milde OPCA Vorderhorn

Restless-Legs-Syndrom Tractus spinocerebellaris

Früher Beginn: Ataxie u. Spastik Hinterstrang

Später Beginn: Ataxie u. PNP

SCA4 39 (19–59) A, D unbekannt unbekannt

sensible axonale PNP Pyramidenbahnzeichen

SCA5 30 (10–68) A, D CA unbekannt

Normale Lebenserwartung

SCA6 52 (30–71) A, D, N (deutlich) CA Purkinjezellen

Später Beginn

Normale Lebenserwartung Familienanamnese oft negativ

SCA7 35 (1–60) A, D, langsame Sakkaden, OPCA Pigmentöse Retinadegeneration

Pyramidenbahnzeichen Purkinjezellen

Früher Beginn: Visusverlust vor A N. dentatus

Später Beginn: A vor Visusverlust Inferiore Oliven

SCA8 40 (1–73) A, D, N CA unbekannt

SCA10 36 (12–45) A, D, N CA unbekannt

Epilepsie

SCA11 25 (15–43) A, D, N CA unbekannt

Muskeleigenreflexe gesteigert Normale Lebenserwartung

SCA12 35 (8–55) A, N CA unbekannt

Tremor Globale Atrophie

SCA13 Kindheit A, D, N Wurmbetonte unbekannt

(<1–45 (?)) Retardierung motorisch u. geistig CA Muskeleigenreflexe gesteigert Atrophie der Sehr langsame Progredienz Brückenhaube

SCA14 27 /12–42) A, bei frühem Beginn auch Kopftremor / Wurmbetonte unbekannt

-myoklonus CA

langsame Progredienz

TATA-BP 6 (nur 1 Fall) A, D CA (?) unbekannt

Spastik, Demenz

DRPLA 30 (1–62) A, D, Demenz OPCA N. dentatus

Früher Beginn: Myoklonusepilepsie N. ruber

Später Beginn: Choreoathetose Pallidum

N. subthalamicus

A, Ataxie; CA, zerebellare Atrophie; D, Dysarthrie; DRPLA, dentatorubropallidoluysiane Atrophie; MEP, Motorisch evozierte Potenziale; N, Nystagmus; OPCA, olivopontozerebellare Atrophie; PNP, Polyneuropathie;

SCA, spinozerebellare Ataxie.

(5)

primiert werden. Neueste genetische und neuropathologische Erkenntnisse ermöglichen nun erste Einblicke in den Pathomechanismus von Poly- glutaminerkrankungen.

Länge der CAG-Repeats und Erkrankungsalter

Der als „normal“ beziehungsweise

„expandiert“ definierte Bereich vari- iert von Gen zu Gen, besonders deut- lich im Vergleich zwischen SCA6 und SCA3 (Grafik 1). So ist zum Beispiel ein Allel mit 25 CAG-Einheiten im Ataxin-3-Gen im Normalbereich, ein Allel mit der gleichen Repeat-Zahl im SCA6-Gen bereits mit der Er- krankung assoziiert. Während bei DRPLA, SCA3, SCA6 und SCA7 die Repeat-Längen bei Gesunden und Be- troffenen deutlich voneinander abge- grenzt sind, ist die phänotypische Aus- wirkung bei SCA2 zum Teil nicht si- cher vorhersagbar.

Für SCA2 wurde der Bereich zwi- schen 32 und 34 CAG-Einheiten als Region reduzierter Penetranz defi- niert. Darunter versteht man, dass nicht alle Individuen mit einer Re- peat-Länge in diesem Bereich klini- sche Symptome entwickeln und somit erkranken.

Die Anzahl der CAG-Einheiten hat auch einen direkten Einfluss auf das Erkrankungsalter. Grafik 2 macht deutlich, dass bei allen bekannten Po- lyglutaminerkrankungen das Erkran- kungsalter mit zunehmender CAG- Anzahl abnimmt. Dies gilt jedoch nur als statistische Aussage und kann nicht verwendet werden, um bei einer getesteten Risikoperson auf den Zeit- punkt erster Symptome zu schließen.

So schwankt zum Beispiel der Erkran- kungsbeginn bei SCA6-Patienten mit 22 CAG-Repeats zwischen dem 45.

und 70. Lebensjahr. Dafür werden ne- ben Umwelt- und Ernährungsfaktoren weitere modifizierende Gene verant- wortlich gemacht, für SCA2 beispiels- weise die CAG-Repeat-Länge des RAI1-Gens, welches für weitere vier Prozent der Variabilität des Erkran- kungsalters bei einer entsprechenden Zahl von CAG-Repeats verantwort- lich zu sein scheint (8).

Im Gegensatz zu den normalen Re- peat-Längen bei Gesunden, die stabil von Generation zu Generation weiter- gegeben werden, verhalten sich ex- pandierte Repeat-Einheiten in der Vererbung meist instabil (Ausnahme SCA6). Je größer die Repeat-Expansi- on für die jeweilige Erkrankung ist, desto früher erkranken die betroffe- nen Personen, meist einhergehend mit einem schwerwiegenderen Krank- heitsverlauf. Dieses klinische Phäno- men bezeichnet man als Antizipation (Grafik 3).

Neuronale intranukleäre Einschlusskörper

Eine pathologische Proteinaggregati- on konnte bei mehreren neurodegene- rativen Erkrankungen nachgewiesen werden, einschließlich der Alzheimer- Krankheit, der Parkinson-Krankheit und Prionerkrankungen. Erste Hin- weise auf eine Proteinaggregation durch verlängerte Polyglutaminket- ten fanden sich in Zellkulturexperi- menten (30).

Letztendlich konnten Proteinaggre- gationen in den Zellkernen neurona- ler Zellen bei Huntington-Patienten (6), in SCA1- (33), SCA3- (26, 31), SCA7- (10) und in SBMA-Patienten (20) sowie in transgenen Tieren für SCA1 (33) und für MH (5) nachgewie- sen werden. Interessanterweise findet man die neuronalen Einschlusskör- perchen überwiegend in den Gehirn- bereichen, die bei der jeweiligen Er- krankung besonders stark neurodege- nerativen Prozessen unterliegen, ob- wohl die Genprodukte von Polygluta- minerkrankungen meist ubiquitär ex- primiert werden.

Man nimmt an, dass diese Regio- nen- und Zellspezifität durch die Ver- teilung von interagierenden Proteinen bestimmt wird. Tatsächlich hat man ein leucinreiches saures Kernprotein (LANP) isoliert, welches Ataxin-1 be- sonders effizient bindet, wenn dieses eine verlängerte Polyglutaminkette trägt (22) und überwiegend in den Ge- hirnregionen exprimiert wird, die bei SCA1-Patienten betroffen sind. Auch für Ataxin-2 (SCA2) und Atrophin-1 (DRPLA) konnten interagierende

Proteine mit RNA-bindenden Pro- teindomänen (A2BP1), mit der SH3- Domäne eines Substrates der Tyrosin- kinase des Insulinrezeptors bezie- hungsweise mit Arginin-Glutamatdi- repeats nachgewiesen werden, welche verstärkt mit dem jeweils expandier- ten Protein interagieren (24, 32, 40).

Zellkern als subzellulärer Ort der Pathogenese

Das Entstehen von neuronalen Ein- schlusskörperchen scheint jedoch ein komplexes Geschehen zu sein. So konnte man nachweisen, dass der pa- thologische Prozess hauptsächlich im Zellkern stattfindet: Wird aus der Ata- xin-1-cDNA eine DNA-Sequenz ent- fernt, die ein Kerntransportsignal des Proteins kodiert, so entwickeln trans- gene Tiere trotz einer verlängerten Po- lyglutaminkette keine Zeichen einer Neurodegeneration (16). In Zellkul- turexperimenten koppelte man ein nukleäres Exportsignal an ein Hun- tingtin-Fragment, was trotz eines ver- längerten CAG-Repeats weder zu nu- kleären noch zu zytoplasmatischen Aggregaten führte (29).

Die neuronalen Zellen zeigten keinerlei Hinweise für einen Zellun- tergang. Für die SCA2 und die SCA6 ist eine nukleäre Lokalisation des aberranten Proteins möglicherweise keine Voraussetzung für die neuro- degenerativen Prozesse (11, 13). Bei diesen Erkrankungen konnten Ag- gregate im Zytoplasma nachgewiesen werden.

Chaperone und Proteasomen

Von besonderer Bedeutung ist die Frage, ob intranukleäre Aggregate Ursache oder Folge der Neurodegene- ration sind oder gar Teil eines zel- lulären Abwehrmechanismusses dar- stellen.

Sowohl bei Patienten als auch im Tiermodell und in Zellkulturexperi- menten sind intranukleäre Einschluss- körperchen mit Antikörpern gegen Ubiquitin anfärbbar, was ein Hinweis auf eine Beteiligung des proteolyti- schen Abbauweges der Zelle ist. Der

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Ubiquitinierungsmechanismus mar- kiert Proteine für eine ATP-abhängi- ge Hydrolyse durch die 26S-Proteaso- men (Proteasomen sind multikataly- tische Proteinase-Komplexe) (Grafik 4). Eine Hemmung der Ubiquitinie- rung aberranter Huntingtin-Proteine mit verlängerten Polyglutaminketten führte zu einer drastischen Reduktion der Einschlusskörperchen (29). Er- staunlicherweise war die Zelltodrate der Kulturen stark erhöht. Obwohl präliminar, kann man daraus schluss- folgern, dass die Einschlusskörper- chen Teil eines zellulären Abwehrme- chanismus der Zelle sind, um toxische nukleäre Polyglutaminproteine abzu- bauen. Andererseits sind die zytoplas- matischen Aggregate bei SCA2 und SCA6 nicht ubiquitiniert (11).

Die intrazelluläre Anhäufung von Proteinen mit einer verlängerten Poly- glutaminkette müsste eine Überex- pression von Chaperonen (Proteine, die die Faltung und Aufrechterhal- tung der Konformation anderer Pro- teine unterstützen) zur Korrektur der fehlgefalteten Proteine nach sich zie- hen, um diese dem Abbau per Ubi- quitinierung zuzuführen. Tatsächlich wurde eine Klasse von Chaperonen, die Hitzeschockproteine (Hsp70), in den Einschlusskörperchen nachgewie- sen (2). Eine Überexpression von Chaperonen führte in Zellkultur so- wohl zu einer verminderten Anzahl an Aggregaten als auch zu einem vermin- derten Absterben von Zellen (4).

Rolle der Caspasen

Es zeigte sich bei der SCA3, dass in den intranukleären Einschlüssen nur der C-Terminus von Ataxin-3, der den Polyglutaminbereich enthält, nachzu- weisen ist (31). Genauso wurde in Zellkulturexperimenten beobachtet, dass sich mit verkürzten Huntingtin-, Ataxin-3- und Atrophin-Fragmenten, die den verlängerten Polyglutaminbe- reich enthielten, deutlich mehr und größere Einschlüsse erzeugen ließen, als mit dem jeweils vollständigen Pro- tein mit gleich vielen Glutaminen (21, 39) (Grafik 4). Es liegt daher der Schluss nahe, dass die entsprechenden Proteine vor der Bildung von Ein- A

A1556 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 23½½½½8. Juni 2001

Grafik 1

Varianzen der CAG-Repeat-Längen bei den spinozerebellaren Ataxien. Als Typ-1-Erkrankungen wer- den die Ataxien mit CAG-Expansionen in der proteinkodierenden Region unterschiedlicher Gene be- zeichnet, unter Typ-2-Expansionen fasst man die Erkrankungen zusammen, bei denen sich das Trinukleotidrepeat in einer nichtkodierenden Region befindet. Die Ziffern bezeichnen die Anzahl der CAG-Repeat-Einheiten. Normalbereiche sind als grüne Balken dargestellt, Zwischenbereiche, für die keine Angaben vorliegen, als blaue Bereiche und Expansionen mit Krankheitsfolge als rote Balken.

Bei der SCA10 liegt die Ursache der Erkrankung in einer Verlängerung des Pentanukleotidrepeats ATTCT. Der Bereich mit mehr als 250 CTG-Einheiten (grauer Balken) bei der SCA8 wird in der Litera- tur als nicht penetrant angegeben. Die CTG-Expansion im SCA8-Gen ist wahrscheinlich ein krank- heitsunabhängiger Polymorphismus.

Grafik 2

Abhängigkeit des Erkrankungsalters von der CAG/Polyglutamin-Anzahl bei den spinozerebellaren Ataxien. Eine indirekte Korrelation zwischen Repeat-Länge und Erkrankungsalter ist trotz erhebli- cher Variabilität für alle SCA-Formen ersichtlich.

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schlüssen proteolytisch gespalten wer- den und so nur kurze Proteinfragmen- te, die den verlängerten Polyglutamin- bereich enthalten, die Einschlüsse bil- den.

Für diese Spaltung der Proteine werden Caspasen verantwortlich ge- macht. Bei Caspasen handelt es sich um eine große Familie von Cystein- proteasen, die beim apoptotischen Zelltod aktiviert werden. Durch Hem- mung der Caspase-1 konnte bei trans- genen Tieren für den MH die Krank- heitsprogression und Mortalität ge- hemmt werden (25). Dennoch erwies sich die Effizienz dieser proteolyti- schen Spaltung in vitro unabhängig von der Anzahl der Glutamineinhei- ten. Es bleibt die Frage, wie die über- wiegend zytoplasmatisch vorkommen- den Proteine in den Zellkern gelan- gen. Kerntransportsignale wurden im Huntingtin-Protein, Atrophin-1 und Ataxin-1 nachgewiesen. Es ist denk- bar, dass diese Signale für den Kern- transportmechanismus durch verlän- gerte Polyglutaminketten stärker akti- viert werden können. Andererseits könnten auch andere Transportme- chanismen genutzt werden, beispiels- weise für Transkriptionsfaktoren, die zum Teil ebenfalls Polyglutaminket- ten enthalten. Generell wird die Be- einträchtigung der Transkription als eine mögliche Ursache der Pathoge- nese bei Polyglutaminerkrankungen diskutiert (34).

Hemmung der Neurodegeneration

In Zellkulturexperimenten (12, 29), transgenen Tieren (27) und Hunting- ton-Patienten (1) gibt es verstärkte Hinweise für apoptotischen Zelltod als Ursache der Neurodegeneration bei Polyglutaminerkrankungen, auch wenn andere Autoren diese Daten nicht bestätigen konnten (36). Als si- cher gilt jedoch, dass durch Überex- pression von Apoptosehemmern, wie Bcl-2 und Bcl-XL, diese Prozesse in Zellkulturen gehemmt werden kön- nen. Außerdem schützen die neu- rotrophen Faktoren Brain-derived Neurotrophic Factor (BDNF) und Ci- liary Neurotrophic Factor (CNTF) die

Grafik 4

Schematische Darstellung der Pathogenese von Polyglutaminerkrankungen und möglicher Therapie- ansätze: Transkriptionshemmung des betroffenen Gens mit der CAG-Expansion, Blockade der Caspase-Spaltung von Ataxin, Blockade des Zellkerntransports von Ataxinfragmenten mit expan- dierten Polyglutaminsträngen, Aktive Ausschleusung von Ataxinfragmenten mit expandierten Po- lyglutaminsträngen Blockade der Selbstaggregation von Ataxinfragmenten mit expandierten Po- lyglutaminsträngen, Hochregulation von Chaperonen zur Stabilisierung der nativen Proteinkon- formation, Hemmung des apoptotischen Zelltods durch Hochregulation anti-apoptotischer Protei- ne beziehungsweise durch Hemmung pro-apoptotischer Vorgänge.

Grafik 3

Stammbaum einer SCA3-Familie. Kreise stehen für weibliche Personen, Quadrate für männliche.

Schwarze Symbole repräsentieren klinisch betroffene Patienten. Rote Zahlen geben die CAG-Re- peat-Länge bei genetisch getesteten Personen an (erst ab Generation IV möglich), blaue Zahlen das Erkrankungsalter, schwarze Zahlen das Sterbealter. Mit römischen Ziffern werden die Genera- tionen angegeben, mit arabischen Ziffern die einzelnen Personen des Stammbaumes. In den ein- zelnen Familienzweigen kann es zur Antizipation kommen (zum Beispiel III/4 – IV/3 – V/1 und V/2), dies muss jedoch nicht immer der Fall sein (zum Beispiel III/12 – IV/12).

(8)

Zellen ebenfalls vor dem Zellunter- gang (29), was vielleicht einen zukünf- tigen therapeutischen Ansatz dar- stellt.

Möglicherweise sind auch Chapero- ne und Hitzeschockproteine aufgrund ihrer Funktion bei der Proteinfaltung in Zukunft therapeutisch nutzbar (Grafik 4), scheinen sie doch sowohl die Aggregatbildung von Polygluta- minproteinen zu verhindern, als auch die Toxizität dieser Proteine zu redu- zieren. Hierzu wurden speziell Versu- che mit den Chaperonen HDJ-1, HDJ- 2, Hsp70 und Hsp104 durchgeführt (2, 4, 14, 15, 29, 35, 38).

Möglich scheint auch die Hemmung von Caspasen zu sein, die durch die proteolytische Spaltung der betroffe- nen Proteine den Kerntransport der Polyglutaminfragmente erst ermögli- chen (25). So führte die Hemmung der Caspase-1 durch das Tetrazyklinderi- vat Minozyklin, welches beim Men- schen unter anderem zur Behandlung der Akne Anwendung findet, zu einer deutlichen Verzögerung des Erkran- kungsausbruchs und der Mortalität in einem transgenen Tiermodell für den MH (3).

Bei all diesen Versuchen darf man nicht außer Acht lassen, dass die Hem- mung des apoptotischen Zelltods be- ziehungsweise von Caspasen oder auch die Überexpression von Cha- peronen schwerwiegende Eingriffe in zahlreiche Stoffwechselwege der Or- ganismen darstellen. Diese können nur dann am Menschen angewendet werden, wenn es möglich wird, selek- tiv in die bisher noch nicht vollständig aufgeklärten Pathomechanismen der SCA einzugreifen. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Ver- suche der Gruppe um E. Wanker, che- mische Substanzen zu finden, die die Proteinaggregation von Polyglutamin- ketten verhindern beziehungsweise reduzieren. Für das aberrante Hun- tingtin konnten beispielsweise Kongo- rot, Thioflavin S und Chrysamin G er- folgreich zur Hemmung der Fibrillo- genese eingesetzt werden (9). Auch für diese Substanzen ist zunächst zu testen, ob sie in vivo in wirksamen Konzentrationen das Gehirn errei- chen können, ohne unvertretbare Ne- benwirkungen hervorzurufen.

Molekulargenetische Diagnostik

Zur Sicherung der klinischen Diagnose eines Patienten sollte stets eine mole- kulargenetische Diagnose angestrebt werden, da

❃sie die Diagnose untermauert und eine weitere differenzialdiagnostische Abklärung überflüssig macht,

❃sie eine spezielle Beratung der Familie erlaubt, unter anderem auch hinsichtlich des bestehenden Risikos für die Nachkommen des Patienten und eventueller weiterer Familienpla- nung,

❃sie eine gezieltere symptomati- sche Therapie auf dem Erfahrungs- hintergrund molekular und patho- genetisch gleichartiger Erkrankun- gen ermöglicht (zum Beispiel können Schlafstörungen bei der SCA3 in der Regel gut mit L-Dopa, Dopaminergi- ka oder Tilidin behandelt werden, da häufig eine zum Teil subklinische Restless-Legs-Symptomatik vorliegt), und

❃in Zukunft auch auf spezifische, in den Pathomechanismus eingreifen- de Therapien zu hoffen ist, wie zum Beispiel durch Modulationen der Leit- fähigkeit des neuronalen spannungs- abhängigen Calciumkanals bei der SCA6.

Es ist zu beachten, dass eine geneti- sche Bestätigung der Verdachtsdia- gnose „SCA“ nicht nur den Indexpati- enten betrifft, sondern immer auch seine Familie. Die Kinder eines be- troffenen Elternteils haben dann ein 50-prozentiges Risiko, den Gendefekt geerbt zu haben und daher ein hohes Risiko, ebenfalls zu erkranken. Eine gründliche Beratung und Aufklärung über die Bedeutsamkeit des Befundes für die Familie sollte durch den Arzt generell vor der Blutabnahme erfol- gen.

Grundsätzlich kann man davon aus- gehen, dass bei negativer Fami- lienanamnese der Nachweis einer der bisher bekannten Mutationen eher selten ist. Eine Ausnahme hiervon stellt die SCA6 dar, die sich oftmals im späteren Lebensalter manifestiert, so- dass mutationstragende Elternteile bereits vor dem Ausbruch erster Krankheitszeichen verstorben sein

könnten. Generell sind Neumutatio- nen bei den SCA eher selten. Die DRPLA kommt in Deutschland fast nicht vor, die SCA12 wurde weltweit bisher nur in einer einzigen Familie und die SCA10 ausschließlich in mexi- kanischen Familien nachgewiesen.

Die diagnostische Wertigkeit des Nachweises der CTG-Repeat-Expan- sion als Ursache der SCA8 ist gegen- wärtig noch stark umstritten. Es häu- fen sich Meinungen, dass diese Re- peat-Expansion eher ein irrelevanter Polymorphismus als die krankheits- auslösende Mutation ist.

Die präsymptomatische molekular- genetische Diagnostik bei klinisch nicht betroffenen Risikopersonen (Kinder beziehungsweise Geschwister von Patienten mit molekulargeneti- scher Diagnosesicherung) darf nach den Empfehlungen der „Gesellschaft für Humangenetik“ und der „Deut- schen Heredoataxiegesellschaft“ nur nach einer vorherigen ausführlichen humangenetischen Beratung durch ei- nen dafür ausgebildeten Facharzt durchgeführt werden. Diese erfordert – in Analogie zur Vorgehensweise bei der prädiktiven Diagnostik von Risi- kopersonen für den MH – ein mehr- stufiges Beratungsprogramm mit psy- chotherapeutischer Begleitung und basiert auf der freiwilligen Entschei- dung der Risikoperson für den Gen- test.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 2001; 98: A 1546–1558 [Heft 23]

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literatur- verzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser und über das Internet (www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.

Anschrift für die Verfasser:

Prof. Dr. med. Olaf Riess Abteilung für Medizinische Genetik Kinderklinik

Universität Rostock Rembrandtstraße 16/17 18055 Rostock

E-Mail: Olaf.Riess@med.uni-rostock.de

A

A1558 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 23½½½½8. Juni 2001

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