Kritische Überlegungen zur chinesischen Sprache
und ihrer Beschreibung aus philosophischer Sicht
Von Mathias Obert, Berlin
Der Titel scheint einen Gegensatz zwischen „philosophischer Sprache" ei¬
nerseits und einem „hermeneutischen Sprechen" andererseits anzuzeigen.
Während der erste Ausdruck offenbar das Gebiet der sprachlichen Mög¬
lichkeiten des Philosophierens umreißt, meint der zweite die Art und Weise
der Verwirklichung von Sprechmöglichkeiten, den konkreten ümgang mit
Sprache überhaupt. Das Sprechen wird charakterisiert als ein auslegendes
Sprechen, das explizit im Hinblick auf vorgegebene Sinnzusammenhänge
und interpretative Sprechsituationen Bedeutung aufweist und neue Bedeu¬
tung stiftet. Stellt nun letzteres eine Eigenheit Chinas dar, während erstere
dem Abendland zukommt? Oder müssen wir doch beides dem chinesi¬
schen Kulturkreis ebenso wie dem europäischen und anderen zuschreiben?
Gleichwohl mag sich am Ende eine gegenüber europäischen Vorstellungen
andersartige „philosophische Sprache" aus einer besonderen Übung herme¬
neutischen Sprechens in China ergeben. Was zeichnet dann aber das Chine¬
sische als eine Sprache der Philosophie aus?
Zumindest im Sinne einer Hypothese mag es gestattet sein, mit Nietz¬
sche das philosophische Denken als einen „Atavismus höchsten Ranges" zu
bezeichnen und den ürsprung der Ideen in einer je geschichtlich gewach¬
senen Sprache zu suchen,' wo nicht von einer „Verführung von seiten der
Grammatik",^ einer „Verführung der Sprache (und der in ihr versteinerten
Grundirrtümer der Vernunft)"' auszugehen. Wenn unsere Sprachlichkeit
also zunächst einmal bedeutet, daß die Erkenntnis immer „über steinharte
verewigte Worte stolpern" muß,"* wenn Sprache und Denken nicht nur un¬
trennbar miteinander verwoben sind, sondern womöglich die gewachsene
' Vgl. Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse I 20, in: Ders.: Werke in drei
Bänden. Hrsg. von Karl Schlechta. Darmstadt 1982, Bd. 2, S. 584.
2 Siehe ebd. die „Vorrede", K. Schlechta 1982, Bd. 2, S. 566.
' F. Nietzsche: Zur Genealogie der Moral 113, in: K. Schlechta 1982, Bd. 2, S. 789.
F. Nietzsche: Morgenröte I 47, in: K. Schlechta 1982, Bd. 1, S. 1045.
Sprache immer schon die Erkenntnis in bestimmte Bahnen lenkt und sie in
je spezifischer Weise hemmt, so läßt sich zu Recht folgende Frage aufwerfen:
Gibt es in China ein eigenes, d. h. ein von der europäischen Philosophie und
ihren Sprachen sowie von Merkmalen anderer Sprach- und Kulturkreise in
bedeutsamer Weise abweichendes „Sprachdenken", d.h. welche Denkfor¬
men finden sich möglicherweise in den Sprachformen des Chinesischen prä¬
formiert - oder widergespiegelt? Läßt sich überhaupt ein Zusammenhang
zwischen sprachphilosophisch bedeutsamen Charakteristika des Chine¬
sischen und Eigenarten wie Präferenzen des Denkens in der chinesischen
Geistesgeschichte erkennen?^ Im folgenden sollen aus der kursorischen
Beschreibung einiger Strukturmerkmale des Chinesischen, die aus meiner
Sicht auffällig werden und philosophisch ins Gewicht fallen müssen, Indi¬
zien gewonnen werden, die in eine ausgeprägte Richtung zu weisen schei¬
nen. Demnach läßt sich die These aufstellen, daß gegenüber der Sprache als
einem logischen und analytischen Instrument des erkennenden Denkens
Sprachlichkeit und Sprachauffassung in China einer Verfeinerung des her¬
meneutischen Bewußtseins ungeheuren Vorschub geleistet haben. Um dies
zu begründen, bedarf es freilich zunächst einer detaillierten Darstellung
bestimmter Kennzeichen des Chinesischen und einer kritischen Auseinan¬
dersetzung mit verbreiteten Verständnismustern zu dieser Sprache.
I. Schrift und Sprache
Altchinesisch, insbesondere klassisches Chinesisch und Mittelchinesisch,
worum es hier primär gehen soll, ist uns nur mehr über eine Schriftsprache
zugänglich, die sich bis ins 20. Jahrhundert hinein als Verständigungsmittel
der Gebildeten fortentwickelt hat und die dem chinesischen Reden und
Schreiben bis heute ihren unverkennbaren Stempel aufdrückt. Für das Al¬
tertum müssen wir die damals gesprochene Sprache also aus der schriftlichen
Überlieferung durch Analogien zu verwandten Sprachen wie dem Tibeti¬
schen, durch syntaktische und semantische Beobachtungen am schriftlich
überlieferten Material sowie durch aus Wörterbüchern des Mittelchinesi¬
schen zu ziehende Schlußfolgerungen rekonstruieren. In diese linguistische
Rekonstruktion des Altchinesischen fließen jedoch wichtige und teils frag¬
würdige Vorannahmen theoretischer Natur ein, wie zu erläutern sein wird.
* Den Boden für diese „vorsichtigere" Ausrichtung der Frage nach dem Zusammen¬
hang von Sprache und Denlien hat sicherlich seit langem Ernst Cassirers kulturphilo¬
sophisches Symbolverständnis und seine Sprachphilosophie im Rückgang auf Herder und
Humboldt geebnet; s. Ders.: Philosophie der symbolischen Formen. 3 Bde. Darmstadt
1953; bes. Bd. 1, S. 47f.; S. 233ff.
In der mehrere Jahrtausende alten chinesischen Zeichenschrift verwei¬
sen die einzelnen Schriftzeichen grundsätzlich auf ein- und mehrsilbige
Ausdrücke der gesprochenen Rede. Aufgrund einer stetigen lautlichen
Verschleifung der Sprache des Akertums neigte das Chinesische jedoch
offensichtlich zu einer radikalen Form der Einsilbigkeit. Im Hinblick auf
eine hypothetisch erschlossene archaische und antike Sprache kommt der
verbreiteten Auffassung, wonach im Chinesischen ein Zeichen für ein eigen¬
ständiges Morphem, zugleich aber für ein Semem genommen wird, keines¬
wegs uneingeschränkte Gültigkeit zu. Angesichts der schriftlich fixierten
Rede des „klassischen" Chinesisch und seiner späteren Umformungen in
der Schriftsprache besitzt diese Auffassung jedoch eine gewisse pragma¬
tische Triftigkeit. Im Blick auf die schriftliche Überlieferung, vor allem
aber im Blick auf den historischen Umgang Chinas mit seiner Schrift kann
- jüngeren Hypothesen zur Sprachstruktur des archaischen und klassischen
Chinesisch^ zum Trotz - immer noch mit einiger Berechtigung von der
traditionellen Formel „ein Zeichen entspricht einem Wort bzw. einem selb¬
ständigen Bedeutungsgehalt" ausgegangen werden.^ Dies gilt in dem Sinne,
daß wir über ein einzelnes Zeichen jeweils den semantischen Zugang zu
einem einzigen, zumeist aber zu mehreren, je nach Kontext zu unterschei¬
denden Sememen oder „Wörtern" erhalten, ünd im äußersten Falle kann
ein Zeichen als Bezeichnung eines gesprochenen „Verbalausdrucks" für eine
vollständige Aussage, für einen ganzen Satz stehen, wie z.B. yän "f, „[ich/
du/er/sie/es/wir/ihr/sie] spricht/sprach/wird sprechen". Zeichenverbindun¬
gen für ursprünglich zweisilbige Wörter wie hüdie „Schmetterling",
sind sehr selten und tun der Faustregel von der Einsilbigkeit chinesischer
Sememe hinsichtlich des hier zu Erörternden keinen Abbruch. Zwei- und
mehrgliedrige Kompositbildungen aus ursprünglich selbständigen, einsilbi¬
gen Bedeutungseinheiten als Mittel semantischer Ausdifferenzierung treten
hingegen im Laufe der Geschichte immer häufiger auf, so etwa nicht erst
modern die Wendung dao de „Weg und Wirkmächtigkeit" / „persön¬
liche Wirkmächtigkeit im Sinne des rechten Wegs" / „Moral". Vielfältig sind
^ Vgl. dazu wenige Hinweise in William G. Boltz: The Origin and Early Develop¬
ment of the Chinese Writing System. New Haven 1994, S. 171.
So auch W. Boltz 1994, S. 18. Dagegen steht die vor allem von Ulrich Unger
verstreut vorgetragene kritische Revision dieses überkommenen Bildes (vgl. etwa Ders.:
Glossar des klassischen Chinesisch. Wiesbaden 1989, S. X). Nicht befriedigend geklärt - und vielleicht nur schwerlich restlos aufzuklären - ist hierbei jedoch, in wie entscheiden¬
dem Maße die für einen archaischen Sprachstand erschlossenen Merkmale des Altchinesi¬
schen im Sprechen der klassischen Zeit, insbesondere aber im bewußten Umgang mit den
Schriftzeugnissen dieser Epoche und in der späteren Schriftsprache durch die Geschichte hindurch lebendig waren.
freilich wiederum die bei diesen Bildungen zur Anwendung kommenden Verfahren der Verknüpfung.
Es besteht Uneinigkeit darüber, inwieweit die Schriftzeugnisse der klas¬
sischen Zeit, also etwa die von Konfuzius überlieferten „Gespräche" {Lunyu
Sf ), die gesprochene Rede vollständig fixieren. Fraglich ist also, ob damals
in Satzbau und Wortwahl weitgehend so gesprochen wurde, wie wir dies bis
heute lesen können. Denkbar erscheint angesichts der späteren Verselbstän¬
digung der Beamten- und der Schriftsprache gegenüber den volkstümlichen
Umgangssprachen und den lebendigen Sprachen von Erzählung und Theater,
daß schon in dem Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung die Zeichennotie¬
rung in elliptischer Weise vorgenommen wurde und eher wie eine „Merkhilfe"
zur anschließenden „Rekonstruktion" der ursprünglichen Rede beim Lesen
diente. Umgekehrt ist die bis in die jüngere Vergangenheit hinein geläufige
Schriftsprache durchaus nicht einem mathematischen Notationssystem
gleichzusetzen. Ihr stilistischer Facettenreichtum, die ihr innewohnende
semantische Kreativität und ihre geschichtliche Kontinuität durch zahlreiche
Abwandlungen hindurch zeichnen sie vielmehr über ein kommunikatives
Informationsinstrument hinaus als eine koine von eigener Geltung aus. Das
geschriebene Chinesisch stellte zu jeder Zeit und stellt bis heute ohne Zweifel
eine vollwertige „Sprache" dar. Es ist daher ebenso gut denkbar, daß Konfu¬
zius im großen und ganzen so sprach, wie wir es heute lesen.
Daß die chinesische Zeichenschrift sich schon mit ihren Anfängen vor
mehreren tausend Jahren rasch zur komplexen Form einer Lautschrift fort¬
entwickelte, daß sie also früh schon keine „Bilderschrift" mehr darstellte,
sei hier noch einmal betont. Mit ihr werden genau wie mit rein phonetischen
Schriften zunächst gesprochene Wörter, nicht unmittelbar Gegenstände
oder Ideen, bezeichnet. Daher ist - und darauf muß gerade im fiinblick auf
einen bisweilen eher ideographisch zu nennenden Umgang mit den chinesi¬
schen Schriftzeichen in der japanischen Literatur ausdrücklich hingewiesen
werden - die chinesische Zeichenschrift ihrer Verwendung in China gemäß
nicht ideographisch.* Dies ist das erste folgenschwere Mißverständnis Euro¬
pas, das von Leibniz bis Roland Barthes eine nicht geringe Breitenwirkung
entfaltet hat. Freilich ist das Verhältnis zwischen Zeichengestalt und Sinn¬
gehalt, das Verhältnis zwischen einem denotativen „Bildmoment" - in man¬
chen Fällen auf einen „Klassifikator" zur Angabe eines Bedeutungsfeldes
konzentriert -, dem innerhalb des phonetischen Systems näherungsweise
* Vgl. dazu besonders eindringlich die Gesamtintention der Darstellung von Boltz wie besonders die Argumentation für die „Logographie" und gegen die vermeintliche
„Ideographie" oder gar „Piktographie" der chinesischen Zeichen (W. Boltz 1994, S. 5ff.
bzw. 31).
markierten Lautwert - jedes Zeichen kennt grundsätzlich eine oder meh¬
rere festgelegte Lesungen -, dem bezeichneten Ausdruck der gesprochenen
Sprache und schließlich der Bedeutung komplex und variantenreich. In
einer gewissen Zahl können einzelne chinesische Schriftzeichen - vor allem
etwa die Zahlzeichen — ^ die Zeichen Ji T für „oben" und „unten",
aber sicherlich auch das Zählzeichen A für „Mensch", die Zeichen ^ für
„männlich" und für „weiblich" und andere - bis zu einem bestimmten
Grade semantischer Allgemeinheit losgelöst von der gesprochenen Sprache
und einem phonetischen Gehalt als bedeutungtragende Anzeiger für Dinge,
Sachverhalte oder sogar abstrakte Vorstellungen fungieren. Diese „bild¬
ähnliche" funktionale Übertragbarkeit von Schriftzeichen setzt indes das
grundsätzliche Bestehen eines sprachlichen, also sozial und kulturell - und
d.h. eben auch phonetisch - bestimmten Äußerungs- und Verwendungs¬
horizontes voraus. Der bildhafte Gehalt der allermeisten Schriftzeichen
erschließt sich tatsächlich keinesfalls durch unmittelbare Intuition, sondern
nur durch den Rückgang auf die Einbettung der Schrift in eine geschichtlich
gewachsene Sprachlichkeit, durch den Rückgang auf die Ebene der Ver¬
ständigung in einer Sprachgemeinschaft. Überdies ist ein Verständnis des
„bildhaften" Bedeutungsgehalts in hohem Maße abhängig von der geschicht¬
lichen Konventionalisierung des Zeichengebrauchs - darin nicht unähnlich
einer auf komplexe Weise sich wandelnden Ikonographie und Ikonologie
In der abendländischen Kunstgeschichte. Ein des Chinesischen In Schrift
und Sprache nicht mächtiger Leser wird daher In keinem der seit über zwei
Jahrtausenden gebräuchlichen Schriftzeichen rein aufgrund des visuellen
Eindrucks dessen Bedeutung erkennen können.
Es mögen sich zwar Chinesen und Japaner nach deren Übernahme der
chinesischen Zeichenschrift über manche Themen mittels schriftlicher
Kommunikation schlecht und recht verständigen können. M} bedeutet hier
wie dort sicherlich „Pferd", ob nun chinesisch md oder japanisch uma gele¬
sen. Daß der eine hingegen Singvögel meint, wenn er Mj sieht und niao liest,
der andere jedoch zumeist ein gebratenes Hühnchen von der Speisenkarte,
wenn er in Japan tori liest - worauf hinwiederum der chinesische Leser des
Zeichens niemals kommen würde -, beleuchtet schon die engen Grenzen der
Bildhaftigkeit chinesischer Schriftzeiehen. Unschwer läßt sich aus diesem
Beispiel ablesen, wie weit die chinesische Zeichenschrift von jeder sinnvollen
„Ideographie" - der bildhaften Wiedergabe von „Ideen" und übersprachlich
allgemeinen Sinngehalten - entfernt Ist. Zwar verweisen die meisten, aus
mehreren Grundelementen zusammengesetzten Zeichen durchaus In bild¬
hafter Weise mit einem „denominativen" Bestandteil, mitunter auch Im Gan¬
zen, auf ein Bedeutungsfeld oder auf eine bestimmte Art von Gegenständen,
Zuständen oder Tätigkeiten. Überwiegt hingegen in der Semantik der „pho¬
netische" Bestandteil eines Zeichens oder geht dessen aktuelle Verwendung
auf einen historischen Ableitungsprozeß und eine Sinnübertragung zurück,
so kann der alleinige Blick auf das „Bildelement" sogar zu groben semanti¬
schen Irrtümern führen. Abgesehen von einer Handvoll mehr oder minder
spektakulärer Ausnahmen, die meist nur als Beleg für eine irrtümliche
„Volksetymologie" dienen können - etwa: -k (nu.) für „Frau", also ^ (jiän)
für „Ehebruch" -, wird die genaue Bekanntheit des Bezeichneten daher
ebenso vorausgesetzt wie die der konventionellen Zeichenverwendung,
um ein Zeichen im jeweiligen Kontext richtig zu deuten. Deshalb haben
ja unterschiedlich ausgebildete Formen von Alltagsgegenständen in China
und Japan auch zu unterschiedlichen Verwendungen derselben Zeichen, vor
allem aber zu einer Varianz im Schriftgebrauch geführt. So versteht man in
Japan die Zeichen ^ oder # für chin. zhuö, „Tisch", heute nicht mehr, weil
man entweder gleich T — y iV teburu (von engl, table) sagt oder noch am
flachen Tisch ^JL tsukue festhält. Den wiederum kennt man in China eher als
JL jl, während man hier das in Japan verwendete Zeichen i^l leicht als ^ ji
für „Webstuhl" oder „Mechanik" mißdeuten wird.
Das Spiel mit dem Bildwert und den figurativen Eigenschaften bildet
sicherlich ein wichtiges Moment des ümgangs mit Schrift und Sprache In
China selbst wie im chinesisch beeinflußten Kulturkreis. ünd bemerkens¬
wert ist, wie tief in die Ausdrucksmöglichkelten der gesprochenen Rede hin¬
ein umgekehrt die Beherrschung schriftlicher Sprachformen zurückwirkt.'
Die gehörten Worte werden nicht selten zum besseren Verständnis vom
Hörer In Schriftzeiehen umgesetzt, was der Sprecher seinerseits sich
durchaus zunutze machen kann. Sprachspiele werden somit oft zu „Zeichen¬
spielen" in gedanklicher Form. Auch kündet andererseits nicht zuletzt der
hohe Stellenwert der Kalligraphie von dieser eigentümlichen Bildhaftigkeit
des chinesischen Schreibens und Sprechens. Jedenfalls aber erschließt sich
der volle semantische Gehalt eines Zeichens erst unter Berücksichtigung sei¬
nes Lautwertes und der allusiv konventionalisierten Verwendung bestimm¬
ter Zeichen in bestimmten Schrift- und Redekontexten. Als klarster Beleg
für diesen Umstand mag die Dichtung gelten, wo das phonetische Spiel
nicht allein „ästhetische", sondern eben eminent semantische Auswirkun¬
gen hat. Sowohl die Tonalität und der Reimlaut wie auch die phonetische
' Boltz weist ausdrücklich darauf hin, daß die für die Entwicklung anderer phone¬
tischer Schriften kennzeichnende „desemanticization" im Falle Chinas nur sehr bedingt stattgefunden habe (s. W. Boltz 1994, S. 12f. bzw. 168fT.). Die „indirekte Bildhaftigkeit"
der Zeichen, die Wörter der Rede und gewissermaßen „direkt" deren Bedeutung anzeigen, über ihren indiziellen Wert hinaus, ist in ihrer Verwendung im kaiserzeitlichen China oflensichtlich nie ganz geschwunden.
Assoziation nicht eingesetzter Zeichen und deren Sinngehalt spielen eine
wichtige Rolle im Verstehen des dichterischen "Wortes. Umgekehrt ist die je
bestimmte schriftliche Fixierung der Dichtung in dem ihr eigenen Reichtum
an „bildhaften" Zeichenassoziationen und Anspielungen keineswegs sekun¬
där; sie ist zumeist als Ausfluß eines klar berechneten Ausdruckswillens zu
lesen. - Aber auch in Europa liegen die Dinge bei der Schriftlichkeit ja nicht
so einfach, wie uns eine naivere Zeichentheorie oft weismachen will.'°
II. "Wort, Satz und das Problem der "Wortklassen im Altchinesischen
Über das gesprochene Wort im Altchinesischen ist längst keine unmittelbar
empirisch gewonnene Aussage mehr zu treffen. Alle Erkenntnisse dazu er¬
wachsen einer mehr oder weniger spekulativen Rekonstruktion. Sie lassen
'° Die fraglose Übernahme der klassischen aristotelischen Formel, wie das gespro¬
chene "Wort auf die Bedeutung, so verweise das schriftliche Zeichen auf das Wort der Rede, in vorherrschende zeichentheoretische Strömungen innerhalb der zeitgenössischen Kommunikationstheorie wirkt bis in die linguistische Erforschung des Altchinesischen fort und verstellt hier infolge einer übermäßigen Simplifizierung offenbar entschieden den Blick für die spezifischen Sachverhalte. Siehe dazu etwa die vehemente Zurückwei¬
sung der Piktographie in den chinesischen Schriftzeichen bei Boltz, wo von vorneherein die chinesische Schrift quasi axiomatisch als „bloßes" Abbild der gesprochenen Rede statuiert und somit die Alternative zwischen „Bilderschrift" und „phonetischer Schrift"
gar nicht zugunsten weiterer Möglichkeiten differenziert wird (s. W. Boltz 1994, S. 3f., 16f.). Eine zeichentheoretische Trivialität verhindert hier wie bei anderen Autoren
schon im Ansatz - und unter Mißachtung sprachphilosophischer Argumentationen der
letzten hundert Jahre - den angemessenen Blick auf das von historischen Parallelfällen abweichende, komplexere Phänomen der chinesischen Schrift. Deren Schriftzeichen sind
zweifelsfrei primär im Sinne der Funktion einer Anzeige des gesprochenen Worts, d.h.
als ein phonetisches Schriftsystem entwickelt worden (vgl. dazu die aufschlußreichen Fallbeispiele in W. Boltz 1994, S. 90fT.). Dies bedeutet sicherlich, daß sie nicht in der Art
abbildhafter Hinweise auf Gegenstände oder Bedeutungen verstanden werden dürfen.
Gleichwohl ist jedes Zeichen, vermutlich weil es entgegen den alphabetischen Buchstaben in einer synthetisch selbständigen Wahrnehmung sogleich für ein ganzes Wort steht, reich an assoziativen Verknüpfungen zu anderen Zeichen. Mögen diese wiederum alle in ihrer Anzeige eines Lautwertes und somit erst über dessen Vermittlung in ihrer Bedeutsamkeit
gemeint sein, so operiert doch diese assoziative Anreicherung eines Kontextes mit Bedeu¬
tungen zunächst schon auf der Ebene der visuellen Zeichenwahrnehmung. Die besondere Komplexität der „Wortassoziation" wird im Chinesischen gerade vermittelt durch die spezifische „Bildhaftigkeit", die sich seine Schrift gegen alle Ansätze zu einer radikalen Phonetisierung oder gar „Alphabetisierung" bis heute zu erhahen wußte. Vgl. in diesem
Sinne auch die knappen Bemerkungen eines in den jüngsten linguistischen Debatten
durchaus informierten philosophischen Beobachters wie Ge Zhaoguang % ^ gegen
eine einseitige Verkennung, wo nicht „Verteufelung", der Bedeutsamkeit der Bildhaftig¬
keit der chinesischen Schrift (s. Ders.: Zhongguo sixiang shi t Sl S- [Geschichte des
Denkens in China]. Einführung und 2 Bde. Shanghai 2001, Bd. 1, S. 43ff.).
sich vor aUem auf dem Wege der Induktion aus dem seinerseits nur struk¬
tural erschlossenen mittelchinesischen Lautstand, aus syntaktischen Beob¬
achtungen an Schriftquellen sowie aus der fragwürdigen Projektion allge¬
mein bekannter Sprachmuster auf jene verschollene Rede des Altertums
gewinnen. Das einzig überlieferte und bis heute zugängliche chinesische
Zeichen-Wort - im Hinblick worauf wir das „Wort" nur rekonstruktiv er¬
fassen können" - kennt in seiner seit rund 3000 Jahren etablierten Gestalt
kein Geschlecht; es weist keinen Unterschied von Singular, Dual oder Plu¬
ral, keine Zeitmarkierung und keine Aspektualität, keine Differenzierung
in Transitiva und Intransitiva, ebensowenig eine mediale Form oder den
Gegensatz von Aktiv und Passiv auf. Weder wird es gemäß seiner syntak¬
tischen Anbindung dekliniert noch kennt es eine Beugung im Hinblick auf
ein grammatisches oder logisches Subjekt der Rede oder Redeperspekti¬
ven. Eine für das Altertum durchaus plausibel erschlossene Morphologie,
etwa „Präfixe", „Suffixe" oder sogar „temporale" Beugungen'^, muß sich
schon vor unserer Zeitenwende nahezu verloren haben. Auch fand sie seit
jeher in den Zeicheneinheiten selbst keinen Niederschlag. Die spätestens
seit der Schriftstandardisierung der Han-Zeit weitgehend als Anzeige für
monosyllabische Sememe gebrauchten Schriftzeiehen wären unter diesem
Gesichtspunkt als reduktiv gegenüber einem hypothetisch komplexeren
phonetischen Befund seitens der gesprochenen Sprache des Altertums
anzusehen. Schriftlich unmarkierte Morpheme nach Art unserer Beu¬
gungsendungen wären demnach schon im Altertum allmählich aus der
chinesischen Sprache verschwunden, zu nicht länger bedeutsamen phoneti¬
schen Merkmalen erstarrt oder mit den bedeutungstragenden Grundmor¬
phemen der Wörter zu neuen phonologischen und lexikalischen Einheiten
verschmolzen. Infolgedessen ist die Anzeige der syntaktischen Funktionen
der einzelnen Wörter schon im Falle der ältesten Textzeugnisse ausschlie߬
lich der Wortstellung im Satz im Verein mit lexikalischen Festlegungen zu
möglichen Wortbedeutungen zu entnehmen.
" Wenn im folgenden daher konsequent von „Zeichen-Wörtern" und nicht von
„Wörtern" des Altchinesischen die Rede ist, so wird damit sehr wohl angenommen, daß die greifbaren Zeichen für phonetisch so gut wie nicht mehr faßbare Wörter der gespro¬
chenen Rede stehen. Zugleich soll damit jedoch genau dieser Umstand der notwendi¬
gen Rekonstruktion der Rede aus den Zeichen unterstrichen werden. Insbesondere in
philosophischer Hinsicht kann, anders als im Falle der europäischen Geistesgeschichte, primär gar nicht die - jedenfalls nur schlecht und recht rekonstruierbare - Aussage eines Philosophen des Altertums, sondern lediglich die schriftlich überlieferte, in der gesamten Kommentartradition zugrundegelegte Form dieser Aussage relevant sein.
'2 Vgl. zu dieser wichtigen Frage etwa: Ulrich Unger: „Zur Morphologie des altchi¬
nesischen Verbs." In: Hao-ku, Nr. 20 (Münster 28.3.1983).
Ein Ergebnis der mangelnden morphologisch-syntaktischen Kennzeich¬
nung ist eine ausufernde „fiomographie". Dasselbe Zeichen kann mitunter
als Lehnzeichen für ganz verschiedene Wörter - mit klar eigenständiger
Wortbedeutung - verwendet werden. Darüber hinaus gilt jedoch für die
meisten Schriftzeichen, was in Anlehnung an uns geläuflge Merkmale im
Wortschatz indoeuropäischer Sprachen zumeist als „fiomophonie" inter¬
pretiert wird: Ein und dasselbe Zeichen steht ohne Distinktion für mehrere,
wenigstens aus unserer Sicht funktional und semantisch unterscheidbare
Ausdrücke in der gesprochenen Rede, die sich von demselben Bedeutungs¬
kern ableiten lassen und in den meisten Fällen denselben phonetischen
Wert besitzen. Ob von diesen in den distinkten Wortfunktionen erkenn¬
bar werdenden, ob von den syntaktischen „Kategorien" sogleich auch auf
„Wortkategorien", also auf die Zugehörigkeit der mit einem Homographen
angezeigten Wörter zu unterschiedlichen „Wortklassen" zurückgeschlossen
werden darf und ob dieser Schluß notwendig für die Beschreibung der Spra¬
che ist, bedürfte wohl erst noch der Klärung. Die durchgängig identische
Schreibweise bei unterschiedlicher Funktion macht eine unseren streng
markierten Wortklassen vergleichbare, auf logisch-kategorialen Grund¬
lagen des Denkens ausgeprägte Distinktion an den Wörtern selbst jedenfalls
auch nicht ansatzweise plausibel. Daher erscheinen Rekonstruktionen von
Wortbildungen" - so wahrscheinlich die Annahme solcher Prozesse in der
Sprachgeschichte zweifellos ist - insofern als fraglich, als die zugrunde ge¬
legten Derivationsmuster einem europäisch-grammatikalischen, stark aus¬
differenzierten Vorverständnis entspringen, das im Falle indoeuropäischer
Sprachen in einem variablen Umfang in der Morphologie in Schrift und
Rede jederzeit „eintrainiert" und „aufgewärmt" wird. Genau diese omni-
präsente Bestätigung einer logischen Kategorisierung des Wortschatzes
fehlt in der chinesischen Schrift völlig. Und wo wir diese Kategorien in
die syntaktischen Gegebenheiten einzelner Textbeispiele hineinprojizieren,
muß doch stets notwendig ein bestimmtes Maß an Spekulation mitspielen -
Spekulation hinsichtlich der genauen Deutung von „Valenzen" oder Be¬
zügen als „Objektbezüge" und dergleichen mehr. Die funktionale Aus¬
differenzierung der Zeichen-Wörter je nach Satzkontext ist greifbar; ihre
grammatikalisch-logische Kategorisierung ist dies hingegen nicht. Sie wird
" Robert Gassmann Überheß mir freundhcherweise das Manuskript eines Gastvor¬
trages vom Juni 2002 in München mit dem Titel „Vom Versuch, dao it. und de wieder
auf die Füsse zu stellen. Derivationsmuster als Schlüssel zur Entschleierung der Schrift¬
zeichen", das hierzu methodologisch ausgereifte Fallbeispiele und aus rein philologischer
Sicht, d.h. auf der Grundlage ganz bestimmter Vorannahmen zu den möglichen Katego¬
rien, überzeugende Argumente bietet.
den Redebeispielen aus indoeuropäischer Perspektive unterlegt, nicht einem
empirischen Befund an den Wörtern selbst entnommen. Im Altchinesischen
steht dort jeweils ein und dasselbe, gänzlich undifferenzierte Zeichen-Wort
in wechselnden syntaktischen „Anbindungen", wo der abendländische Lin¬
guist nach Wortklassen zu unterscheidende Wörter - mehrere semantisch
differente, völlig selbständige Wörter also - aus den funktionalen Diffe¬
renzen erschließt. Er erkennt so erst in einem „versteckten Subtext" im alt¬
chinesischen Wortschatz wieder, was ihm aus europäischen Sprachen allzu
vertraut ist.
Die tonale Differenzierung in der Aussprache bietet zwar in einigen Fäl¬
len selbst noch in den Umgangssprachen der Gegenwart eine semantische
Stütze. So heißt für uns dasselbe Zeichen 't^, wird es ebenmäßig zhöng gele¬
sen, „Mitte", wird es hingegen fallend zhöng gelesen, „(in die Mitte) treffen";
während das steigend ndn gelesene |^ „schwierig sein" bedeutet, ergibt sich
für die Lesung im fallenden Ton, ndn, traditionell die Bedeutung „Schwie¬
rigkeit" oder aber „Einwände vorbringen"; und bis in die heutige Verkehrs¬
sprache, das Pekinesische oder „Hochchinesische", hinein wird unter be¬
stimmten Umständen bei H zwischen einem aufsteigend gelesenen xtng für
„gehen/tun" und einem fallenden xtng für „das Getane / das Verhalten" un¬
terschieden. Als klassisches Beispiel für die ältere Schriftsprache dient häufig
p^. Im fallend-steigenden Tonyü gelesen, bedeutet es „Regen", im fallenden
aheryü, "es regnet (...) herab". Was wir da als „Nomen" verstehen, wäre von
dem, was wir als „Verbum" zu bezeichnen geneigt sind, im Schriftbild von
vornherein nicht, allenfalls in der gebildeten Lesung zu unterscheiden. Bis¬
weilen wird aber auch nur eine Bedeutung von einer anderen - funktional,
nicht aber wortklassenmäßig abweichenden - unterschieden, wie etwa bei yii
tf , „sprechen" gegenüber tf , „mitteilen". Diese Lesevarianz kann jedoch
angesichts der weit verbreiteten mittelalterlichen Glossen, die ofTenbar ein
notwendiges Verständnismittel bereitstellen sollten, schon um den Beginn
unserer Zeitrechnung nicht mehr selbstverständlich gewesen sein, dürfte
also bereits im Altertum ihre Bedeutsamkeit für das gelingende Verstehen
eines Textsinnes eingebüßt haben. Und selbst wenn auch in all jenen Vor¬
kommnissen, in denen keine etwa nach „Nominal-" und „Verbalgebrauch"
eines Zeichen-Worts unterschiedene Lesung überliefert ist, von einer sol¬
chen Variation auszugehen wäre, kann daraus allein noch nicht auf ein klar
ausgeprägtes kategoriales Verständnis für den Unterschied zwischen genau
diesen unterschiedlichen Wortklassen zugehörigen Wörtern und den aus
dieser Zugehörigkeit abgeleiteten Funktionen geschlossen werden. Dazu
müßte erstens eine systematisch einheitliche Regel der lautlichen Abwand¬
lung Im Einklang mit kategorialen semantischen Differenzen erkennbar sein.
was bereits für die oben angeführten Beispiele nicht durchweg gelten dürfte.
Zweitens sollte zumindest der Seinsstatus all jener, etwa von einer resultati-
ven „Perfektform" der „Verba" gebildeten „Nomina"'"* logisch durchgängig derselbe sein - das „Nomen" also etwa das aus einer „verbalen" Tätigkeit
hervorgehende „Produkt" derselben. Ließe sich diese Forderung noch am
sprachlichen Befund erhärten, so könnte gleichwohl aus dem Vorkommen
dieser bestimmten Art von „nominalisierten Verbalausdrücken" noch nicht
auf das allgemeine Zugrundeliegen einer „nominalen" Wortklasse von dem¬
selben weiten Umfang der Geltung und von derselben Flexibilität wie etwa
in der altgriechischen Sprache geschlossen werden. Drittens sollte doch,
gesetzt den Fall, daß im Altchinesischen die angenommenen Wortklassen¬
unterschiede bewußt zum Einsatz kamen und konsequent ihren adäquaten
Niederschlag in den Aussprachevarianten einzelner Zeichen-Wörter fanden,
seitens der antiken und mittelalterlichen Kommentatoren eine klare Er¬
klärung der jeweils vom Standard abweichenden Lesung im Rekurs auf fest¬
stehende und allgemein bekannte logische Unterscheidungen zu erwarten
sein - was nirgendwo geschieht. Und schließlich sollte der chinesischen
Philologie in ihrer langen Geschichte zumindest der Ansatz einer Reflexion
auf die systematischen Zusammenhänge zwischen den Aussprachevarianten
einzelner Zeichen und den logisch-kategorialen, etwa ontologischen, Unter¬
scheidungen in ihrem Bedeutungsgehalt zuzutrauen sein. Auch der Nach¬
weis dieses sprachphilosophischen Nachdenkens steht indes bis heute aus.
Daß phonetische Differenzierungen sich schon im Mittelalter in so hohem
Maße verlieren konnten und daß von jeher auf die systematische schrift¬
liche Markierung von kategorialen Differenzen durchweg Verzicht geleistet
wurde, spricht andererseits schon für das chinesische Altertum überdeutlich
gegen die Existenz logisch-kategorialer Differenzierungen nach dem Vor¬
bild der in indoeuropäischen Sprachen anzutreffenden.
Wenn Christoph Harbsmeier, dessen Darstellungen ich in meiner
Beschreibung erheblich verpflichtet bin, daher von einem „Kontinuum von
Wortarten" spricht,'^ bleibt dieser Ansatz möglicherweise noch einer zu
engen eurozentrischen Erwartungshaltung verhaftet. Wie selbstverständ¬
lich analysieren wir ja selbst den Wortschatz des alten Chinesisch noch vor¬
rangig im Hinblick auf die uns vertrauten Wortarten, die wir damit entgegen
zahlreichen empirischen Erkenntnissen der allgemeinen und vergleichenden
In der bereits erwähnten Schrift „Zur Morphologie des altchinesischen Verbs" von
U. Unger wird diese Ableitung mit guten Gründen vorgetragen (s. U. Unger 1983,
S. 166) - wobei freilich der logische Status eines „Nomens" je schon vorausgesetzt wird.
Siehe Christoph Harbsmeier: Wilhelm von Humboldts Brief an Abel Remusat und
die philosophische Grammatik des Altchinesischen. Stuttgart/Bad Cannstatt 1979, S. 156f.
Sprachwissenschaft hinsichthch des ungeheuer variantenreichen „Sprach¬
baus" der Sprachen dieser Weh ohne Umschweife universaUsieren. Setzt
man für das hohe chinesische Akertum die Existenz einer morphologisch
markierten Unterscheidung von Wortklassen voraus, so gälte doch zumin¬
dest auch hier der Vorbehalt von Ferdinand de Saussure, daß die gram¬
matikalischen Kategorien selbstverständlich einer Entwicklung im Rahmen
der phonetischen Veränderungen durch die Zeit unterworfen sind.'^ Wo die
Markierung unterschiedhcher Wortklassen frühzeitig verschwunden ist,
müßte demzufolge mit der Zeit auch die Grenze in der Wortverwendung
aufgeweicht und zum Schluß der grammatikalische BegrifT selbst von einer
solchen Unterscheidung verwischt worden sein. Und hinsichtlich der Re¬
konstruktion früher Wortklassenmarkierungen im Chinesischen erheben
sich sogleich zwei prinzipielle Fragen: Welche Wortklassen sind es genau,
die die Sprachstruktur des Altertums erkennen läßt - und dürfen wir hier¬
bei unsere ontologischen und grammatikalischen Kategorien unbefragt zum
Vorbild nehmen? Warum ferner entwickelte sich die lautlich markierte Wort¬
klassendifferenz nicht wenigstens in einzelnen Fällen weiter, um schließlich
auch in der schriftlichen Fixierung ihren unleugbaren Niederschlag zu fin¬
den? Warum ging sie statt dessen im phonetischen Sprachwandel schon sehr
früh fast gänzlich verloren - ganz als wäre sie bereits mit dem Eintritt in die
Epoche des klassischen Chinesisch (5. bis 3. Jh. vor unserer Zeitrechnung),
aus der die wichtigsten Schriftzeugnisse zur Sprache des Altertums stam¬
men, weitgehend für überflüssig gehalten worden?
Auf der anderen Seite gibt es den bedeutsamen und in China früh reflek¬
tierten Klassenunterschied zwischen sogenannten syntaktischen Partikeln,
die als solche keine selbständigen lexikalischen Einheiten darstellen, und
vollwertigen inhaltsvollen Wörtern. Diese Unterscheidung fällt teilweise
überein mit der traditionellen chinesischen Einteilung des Lexikons in volle
und leere Zeichen {shi zt ^ ^ und xü zi ^ ^), womit mal „kategoremati-
sche" und „synkategorematische" Ausdrücke, dann aber auch Gegenständ¬
liches und Ereignishaftes oder Bezeichnungen von Belebtem und Nichtbe¬
lebtem voneinander abgehoben wurden.''' Weil sich aber die Zugehörigkeit
der einzelnen Ausdrücke zu diesen wie zu anderen möglichen Wortarten
weder lautlich noch im Schriftzeichen systematisch regelhaft markiert
findet, muß aus dem syntaktischen Verhalten von Zeichen und Wörtern
- jenen semantisch eigenständigen Morphemen, die hinter den allein zu-
Sielie Ferdinand de Saussure: Cours de linguistique generale. Publie par Chr.
Bailly/A. Sechehaye. Paris 1995, S. 194.
Siehe dazu Christoph Harbsmeier: Language and Logic. Cambridge 1998 (Sci¬
ence and Civüization in China. VII, 1), S. 88fT.
gänglichen Schriftzeichen des Altchinesischen zu erschließen sind -, d.h.
aus ihrer funktionalen Ausdifferenzierung im Gebrauch, auf Klassen- und
Bedeutungsunterschiede zurückgeschlossen werden. Diese gibt es zweifel¬
los. Sie sind jedoch schwerlich, wie dies gleichwohl bis heute aus einem
Mangel an methodisch-kritischer Reflexion heraus getan wird, mit unseren
■Wortklassenunterschieden gleichzusetzen.
Robert Gassmann hat einmal'* neun Grundbedeutungen anhand von
mindestens acht kategorial verschiedenen Verwendungsweisen des Wortes,
genauer des Zeichen-Worts däo it., unterschieden. Je nach syntaktischer
Einbettung und Sinnkontext können wir dasselbe Zeichen demzufolge ver¬
stehen als:
1. Weg/Straße 2. Methode/Verfahren
3. x macht Gesprochenes zum Weg / x hält y für den Weg
4. x macht Person y zum Weg / x läßt sich von y führen
5. Führender
6. X benimmt sich als Führender
7. X benimmt sich als Führender für y / x führt y
8. das Führen
9. die Fähigkeit zu führen.
In unserer Übertragung eines einzigen Wortes wirbeln je nach Kontext die
Wortklassen bunt durcheinander. Müßte uns diese häufig wiederholte Er¬
fahrung nicht nachdenklich stimmen?
Die Annahme, unsere Wortklassen müßten im Altchinesischen natürlich
ihre Entsprechung finden, kommt zunächst einmal einer reinen ünter-
stellung gleich, da sie unsere ontologischen Grundunterscheidungen und
denotativen Präferenzen voraussetzt. Im Altchinesischen sind „Nomina"
von „Verba" gar nicht zu unterscheiden. Mit Harbsmeier kann lediglich
von „flexiblen grammatikalischen Tendenzen" der Wörter" gesprochen
werden, über deren Semantik zumeist allein im Hinblick auf ihre jeweilige
Funktion im syntaktischen Gefüge entschieden werden kann. Die konven-
tionalisierte, jedoch mit gravierenden stilistischen Freiheiten ausgestattete
Wortstellung im Satz fällt letztlich die Entscheidung zwischen Alternativen
der Artzugehörigkeit und Wortbedeutung eines Zeichens. Daher dürfen
wir der verhältnismäßig starken „grammatikalischen ünbestimmtheit" des
chinesischen Wortschatzes^" nicht mit unserem aus ganz anderen Wurzeln
Vgh das bereits erwähnte Vortragsmanuskript von R. Gassmann, dem ich die we¬
senthchen Hinweise und Übersetzungsvorschläge für die folgende Liste verdanke.
" Siehe Chr. Harbsmeier 1998, S. 139fr.
2° Siehe Chr. Harbsmeier 1998, S. 142.
erwachsenen Begriff der „Wortklasse" zuleibe rücken. Zumindest Jedoch
muß, wie Harbsmeier zu Recht betont, etwa in unserer Rede von „Ver¬
ben" die „Verbalität", also der Charakter von Vollzugsausdrücken, unseren
„Zeitwörtern", für das Altchinesische anders bestimmt werden als dies im
Hinblick auf indoeuropäische Sprachen geschehen ist.^' Erst wenn wir zu¬
gleich bereit sind, über das, was „Verbalität", genauer: den Geschehnis-, Zeit¬
oder Vollzugscharakter, in einer Sprache überhaupt ausmachen kann, von
der konkreten Verkörperung dieses Begriffs in chinesischen Ausdrücken
einiges zu lernen, sind wir berechtigt, in unserer Analyse zunächst einmal
hypothetisch von einer Klasse der „Verben" auszugehen.
Dem altchinesischen Lexikon sind tatsächlich weitestgehend gramma¬
tikalische, also graphisch und phonetisch fest markierte Strukturanlagen
nicht zu entnehmen. Die an den Regelungen des Sprachgebrauchs zutage
tretenden semantischen Ordnungen weichen offensichtlich von europä¬
ischen Modellen ab. Das Wörterbuch kann streng genommen lediglich mög¬
liche Verwendungsweisen ein und desselben Wortes oder Zeichen-Worts
- im Kontext der chinesischen Sprache - auflisten. Wo eine grammatikalisch
motivierte Zeichendifferenzierung vollständig und eine Lautabwandlung
weitgehend fehlen, kann die genauere Semantik einzelner Einheiten nur mit
einem gehörigen Maß an Spekulation aus dem Sinn eines ganzen Satzgefüges
und dessen funktionaler Struktur erschlossen werden. In einem Nachschla¬
gewerk kommen daher weder „Nomina" noch „Verba" oder „Adjektive" vor.
Wir finden darin vielmehr Ausdrücke mit einfacher oder mehrfacher seman¬
tischer „Aufladung", die unter Umständen mit einer einfachen oder mehr¬
fachen funktionalen Wertigkeit desselben Zeichen-Worts zusammenfällt.
Dessen Bedeutung kann mit enormer Freiheit, gezügelt nur durch faktische
Präferenzen im Gebrauch und deren stilistische Konventionalisierung, zwi¬
schen Gegenständlichkeit, Vollzugscharakter und attributiver Spezifikation
bis hin zur syntaktischen Hilfsfunktion schwanken.^^
2' Siehe Chr. Harbsmeier 1998, S. 129f. VgL in diesem Sinne auch den für die Be¬
trachtung des Ahchinesischen geradezu umzultehrenden Leitsatz von F. de Saussure:
„Mais l'essentiel est que les entites abstraites [de l'analyse grammaticale, M.O.] reposent toujours, en derniere analyse, sur les entites concretes [c'est ä dire les elements materiels de la parole, M. O.]." (F. de Saussure 1995, S. 190). Wo die grammatikalische Analyse be¬
stimmte Merkmale nicht wirklich aus dem konkreten Befund heraus auffindet, sind diese auch in der gesprochenen Sprache nicht anzunehmen.
22 Wenn Ulrich Unger aufgrund ähnlicher Beobachtungen zu dem Schluß gelangt, es
bedürfe zur Beschreibung der - die Grammatik zu einem guten Teil noch umfassenden -
Stilistik, der Konventionen dieser Sprache, „einer sehr detaillierten Kasuistik" (s. Ders.:
Einführung in das Klassische Chinesisch. 2 Bde. Wiesbaden 1985, Bd. 2, S. 104f.), so wäre hier zu fragen, inwieweit einer solchen Musteraufstellung sinnvoller Redebeispiele über¬
haupt der Status eines Regelwerks, also einer „grammatikalischen" Beschreibung zukäme.
Von der sichtbaren syntaktischen Ordnung darf sicherlich auf eine seman¬
tische Ordnung zurückgeschlossen werden. In europäischen Darstellungen
des Altchinesischen ist der Rekurs auf eine hypostasierte grammatikalische
Ebene jedoch allgegenwärtig. Von dieser Ebene einer lexikalisierbaren, gleich¬
wohl verborgenen Differenzierung des Wortschatzes aus bezögen - so die
Annahme - die festgesteUten funktionalen Ordnungsmuster ihre Legitimation.
Weil beispielsweise im Falle von yän 't der „grammatikalische" Unterschied
zwischen Verbum und Nomen wirksam werde, ergebe sich die lexikalische
Bedeutungsdifferenz zwischen „reden" und „das Geredete / das Wort"; daraus
wiederum leite sich die allein sichtbare funktionale Differenz in der Verwen¬
dung ab - je nach Bedeutung steht das Zeichen z. B. bald ohne Bezugswort, bald
vor einem solchen als seinem „Objekt", bald nach einem solchen, nun seinerseits
„in der Objektposition" befindlich. Der altchinesische Sprecher weiß also - so
wird unterstellt - um den grammatikalisch-semantischen Wortklassenunter¬
schied zwischen verbalem yän 't „reden" und nominalem yän 't „Rede".
Deshalb versteht er den Satz wäng yän i iT als „der König spricht", den Satz
wängyänzhi i.'t „der König sagt es", dÄe^endungwängzhiyän S-Z.^
aber als „Worte des Königs". Weil er in Kenntnis des Wortklassenunterschiedes
die je verschiedene Funktion des Wortes yän "t" richtig deutet, versteht er diese
Sätze mit dem homophonen yän stets in der richtigen Weise - so die Behaup¬
tung. Je nach Kontext sieht er in dem Homographen 't also zwei verschiedene
Wörter, hört er in dem homophonen yän zwei wohlunterschiedene Ausdrücke.
Während dieser verwirrende Fall in unseren Sprachen freilich nur ganz ver¬
einzelt vorkommt wie etwa bei dem berüchtigten Wort „Zug", und während
Homophonie hier nur sehr selten einen Wortklassenunterschied impliziert wie
etwa bei engl, meat und [to] meet, soll diese beinahe ausnahmslos „versteckt"
bleibende Bedeutungsdifferenzierung im Altchinesischen die Regel sein! Der
ontologische und der grammatikalische Unterschied würden nach dieser gängi¬
gen Auffassung zwar auf der lexikalischen Ebene so gut wie nie markiert, doch
werden sie im Sprachgebrauch natürlich stets vorausgesetzt und mitgedacht. So
wenigstens scheint in aller Regel die unbefangen universalistische These des
herkömmlichen wie des strukturalistischen Linguisten zu lauten.^' Welche
2' Bemerkenswert ist immerhin der frühe Einwand von Ferdinand de Saussure,
Wortklassenunterschiede seien keine brauchbare Bestimmung auf der Ebene der lingui¬
stischen „Werte" und dürften daher nicht zur Einteilung der Wörter verwendet werden (s. F. de Saussure 1995, S. 152f.). Gleichwohl bleibt die strukturahstische Vorliebe, auch
funktionale Wertigkeiten nach dem Muster der im Abendland etablierten Wortklassen zu
unterscheiden und zu benennen, davon unberührt, wie folgende Darstellungen des alten Chinesisch belegen: Harold Shadick: A First Course in Literary Chinese. 3 Bde. Ithaea 1968; Robert H. Gassmann: Antikchinesisch in fiinf Elementargängen. Bern 1997; Ders.:
Grundstrukturen der antikchinesischen Syntax. Bern 1997.
Mühe, im Verborgenen ein grammatikahsches Modell von der Sprache stets
mitzudenken, ohne dafür die geringste Merkhilfe nach Art unserer Mor¬
phologie im aktuellen Sprechen und Lesen zu erhalten! Welch eine Zumu¬
tung trägt man damk an die aken Chinesen heran!
Die stillschweigende „Europäisierung" der chinesischen Sprachstruktu¬
ren seitens der Sprachwissenschaft übersieht, wie tief sie in abendländischen
Sprachstrukturen verwurzelt ist und wie sehr sie auf bestimmten Weltausle¬
gungen im Zuge der europäischen Philosophiegescbichte fußt. Ebensowenig
bedenkt sie, wie einschneidend sie auf einer argumentativen Ebene die philo¬
sophische Relevanz chinesischer Weltauslegungen schlicht ignoriert. Das
oftmals als „unphilosophisch" gescholtene Denken Chinas offenbart seiner¬
seits bestimmte methodologische und thematische Grundentscheidungen
und füllt bestimmte Aufgaben aus. filer kann selbst ein oberflächlicher
Vergleich zwischen Europa und China analoge Differenzen auf der Ebene
des Denkens und der der Sprachlichkeit aufdecken, und die Beachtung der
philosophischen Überlieferung Chinas muß unweigerlich den Blick des
Linguisten für grundlegende Merkmale des Sprachbaus schärfen. Zu fragen
ist ja umgekehrt angesichts einer ausschließlich funktionalen Ausdifferen¬
zierung des chinesischen Lexikons, was für ein Unterschied damit auf der
semantischen Ebene überhaupt markiert werden kann und welche lexika¬
lische Ausdifferenzierung hieraus allenfalls zu erschließen ist. Zu untersu¬
chen wäre beispielsweise, wie denn überhaupt ontologisch die vermeinte
Gegenständlichkeit, die sich ja sprachlich in „Substantive" oder „Nomina"
kleidet, wie also die Sache „Wort" beschaffen ist und was demgegenüber
unter einem lebendigen Vollzug „reden", unter einem „Verbum" verstanden
werden kann. Zu untersuchen ist dies aber allein im Ausgang von der syn¬
taktisch markierten Performanz des Ausdrucks yän "J" sowie von expliziten
Stellungnahmen der chinesischen Geistesgeschichte aus. Die uns geläufigen
Kategorien besitzen in dieser Untersuchung nicht mehr als lediglich heuri¬
stischen Wert. Sie mögen als Hypothesen dienen, um der Analyse bestimmte
Perspektiven zu eröffnen und konkrete Fragehorizonte abzustecken.
Da die Sinnrelation zwischen einzelnen Einheiten ausschließlich durch
die Satzstellung, nur bisweilen noch durch die bereits erwähnten Hilfs¬
partikeln kenntlich gemacht wird, muß der Charakter von Wörtern oder
Sinneinheiten, im besonderen aber die Stellung und der Wert der von uns
so genannten „Nomina" oder Gegenstandsbezeichnungen ins Zwielicht ge¬
raten. Dies gilt umso mehr, wenn im Sprachgebrauch der Vollzugscharakter
solcher Ausdrücke den einer statischen Dingbeschreibung überwiegt. Ent¬
gegen unserer ontologisch geprägten Denkgewohnheit ist vermutlich eher
von einer „verbalen" als von einer „nominalen" Bedeutung auszugehen. Daß
mit „Verbalität" hier indes nicht der Charakter unserer stets personal und
temporal determinierten „Zeitwörter" umschrieben werden kann, versteht
sich von vorneherein. Denn aufgrund der fehlenden Morphologie, in Erman¬
gelung personaler, temporaler, aspektualer oder sonstwie flektionaler Kenn¬
zeichen gibt sich kein chinesisches Wort per se und unabhängig vom syntak¬
tischen Umfeld als irgendwie zeitlich konnotierter Ausdruck zu erkennen.
Es kann also im Altchinesischen nicht um die Bestimmung von Wortklassen,
sondern allenfalls um Gebrauchsklassen gehen. Ein Ausdruck fungiert
„ähnlich wie ein Verbum", wenn durch ihn eine vollständige Aussage gemacht
werden, wenn er für sich genommen einen vollständigen Aussagesatz bilden
kann. Und entgegen unserem Ausgang von den Dingbezeichnungen könnte
das im altchinesischen Sprachdenken wirksam werdende Anschauungsmu¬
ster dann eher wie folgt aufzufassen sein: Nur weil jemand das Königsamt als
Befehlsgewalt immerzu ausübt {wäng i), das Mandat also aktiv innehat und
darum für den König gehalten wird (ebenfalls wäng i), „ist" er zuguterletzt
ein König (immer noch wäng i) und kann mit diesem Titel (jetzt wäng i)
bezeichnet werden - solange bis ihm diese fortgesetzte Kraftanstrengung
fehlschlägt und ihm mit dem Mandat auch der Titel entzogen wird. Hiermit
wird nicht versucht, eine historische Etymologie oder ein sprachlogisches
Derivationsmuster zu liefern! Viel eher geht es um das Anstoßen einer philo¬
sophischen Reflexion auf den Charakter des Wortes im Altchinesischen.
Das Abendland ist geprägt von einer ontologischen Voreingenommenheit,
von einem Logozentrismus, der vom Vorrang des isoliert seienden Dinges
und dessen logos ausgeht. Besonders deutlich wird dies gerade dort, wo das
Seiende zuerst als pragma, d. h. als Gegenstand eines Machens und als Her¬
gestelltes verstanden wird. Das mit sich identisch verharrende, substanziell
seiende Etwas und seine rechtmäßige Benennung liefern den Ausgangspunkt
für Denken und Sprechen in Europa. Demgegenüber steht vermutlich ein
auf Relationen und Geschehnisse gerichtetes Denken dem altchinesischen
Sprechen in seinen Ursprüngen wie gerade in seiner philosophischen Rele¬
vanz näher. Nicht verwunderlich ist es da, daß linguistisch concreta nicht
von abstracta zu sondern sind, wenngleich schon im Altertum ein scharfes
Bewußtsein für abstraktive Vorstellungen in rhetorisch verfeinerten Streit¬
gesprächen, etwa den im Buch Meng Zi Si ^ überlieferten, unzweideutig
seine Spuren hinterlassen hat. Auch spätere Kompositbildungen - nicht zu
verwechseln mit abstraktiven Wortneuschöpfungen und Suffixbildungen in
indo-europäischen Sprachen - sollten uns nicht über den Umstand hinweg¬
täuschen, daß Abstraktion und Rationalität in der Überlieferung chinesi¬
schen Denkens durchaus mit dem ofTensichtlich motivierten Verzicht auf
die Ausbildung einer besonderen abstrakten Begrifflichkeit einhergehen.
Manchen Zweifeln zum Trotz muß nach den bisher vorgebrachten prinzi¬
piellen Einwänden gegen gängige Beschreibungsmuster des Altchinesischen
namentlich durch westliche Linguisten doch einmal mehr festgestellt wer¬
den: Gegenüber unserer geistesgeschichtlich so mächtigen und identitätsphi¬
losophisch begründeten Subjekt-Prädikat-Struktur von Aussagesätzen und
Urteilen stellt offensichtlich eine „ontologisch" losere Verknüpfung nach Art
von Thema-Rhema-Sätzen im Altchinesischen die Regel dar. Dies macht uns
den Zugang nicht leichter. Daß oft genug ein grammatikalisches Subjekt ent¬
behrlich scheint, gerade weil Im Satzsinn das Subjekt eine, mit Harbsmeier
zu sprechen, „präzise unbestimmte" Funktion erfüllt, daß das Subjekt also
weder fakultativ stehen oder entfallen kann noch als „implizites" oder „lo¬
gisches Subjekt" einfach Opfer einer Tilgung geworden Ist,^"* erhöht darüber
hinaus den Leidensdruck des europäischen Ubersetzers und Philosophen.
Ausdrücke, die Im Rahmen von Situationen auf Vollzüge und Gescheh¬
nisse verweisen, ohne ein handelndes Subjekt anzugeben, haben in unseren
Augen oftmals etwas „Atmosphärisches" an sich und mögen unterbestimmt
wirken. Genausogut kann dieser bestimmungsfreie Grundzug jedoch als
abstraktive Reduktion, die gerade der Unterstreichung des wesentlichen
Sinngehaltes zuarbeitet, verstanden werden. Entscheidend Ist vielleicht, daß
„es regnet" und ob es „Schnee regnet" (etwa yu xue ^ 'S ) oder Geld, nicht
„wer oder was" da regnen läßt. Und entscheidend ist vielleicht, ob das Ver¬
hältnis zu etwas oder jemand mit „Vertrauen" {xin it) einhergeht statt mit
„Mißtrauen" (yi M), so daß „vertrauenswürdig" {xin \t) genannt wird, wem
wir „vertrauen" {xin it) können, wobei es dann zu „Vertrauen" {xin it) zwi¬
schen uns kommt, woraus sich eine „Sicherheit" {xin it) für alle Beteiligten ergibt. „Es herrscht Vertrauen" - Vertrauen und Sicherheit durchherrschen
die Beziehungen. Darauf kommt alles an.^^
Es ist Im übrigen zu bezweifeln, daß der Charakter zahlreicher Aus¬
drücke des Altchinesischen - In Analogie etwa zu frühen Stufen des Alt-
griechischen und des Altjapanischen - als „medial" bezeichnet werden kann.
Denn die Dichotomie von Aktiv und Medium bzw. Passiv als Dichotomie
von transitiver und intransitiver Verbalfunktion dürfte doch eine klare
Subjektvorstellung und eine festgelegte Zeltfolge Implizieren. In allen drei
Genera verbi wird klar die Richtung einer in der Zeit vollzogenen Handlung
oder Wirksamkeit hinsichtlich des „von wo aus" und des „woraufhin" an¬
gegeben. Altchinesische Ausdrücke dürften In ihrem relationalen oder pro¬
zessualen Charakter ursprünglich noch außerhalb dieser grammatlkalisch-
2^ Siehe Chr. Harbsmeier 1979, S. 229fT.
2' Auch zu diesem Bei-Spiel verdanke ich dem erwähnten Vortrag von R. Gassmann
die Anregung und die entsprechenden Textbelege.
logischen Alternativen anzusiedeln sein. Diese prinzipielle Feststellung zum
unsicheren Charakter der Wörter bleibt davon unbeeinträchtigt, daß an der
Oberfläche des Sprechens doch häufig die syntaktische Einbettung einen
Ausdruck wie jian ^, „sehen", als Handlungswort mk klarer Richtung auf
ein Objekt verstehen läßt. Denn solche uns geläufigen, handlungstheore¬
tisch relevanten Subjekt- und Objektmarkierungen sind im Akchinesischen
offensichtlich in hohem Maße entbehrlich. Und nur bisweilen kommt dann
einem situativen Sinnhorizont in sprechpragmatischer Weise das entschei¬
dende Gewicht für die für notwendig befundene Klärung der Verhältnisse
zu. Im philosophischen Stil hingegen werden solchermaßen „abstraktiv"
wirkende „Rumpfausdrücke" unter Verzicht auf jegliche „Überbestimmung"
geradezu gesucht und mit gedanklichem Gewinn zum Einsatz gebracht.
Nach dieser kritischen Beschreibung wesentlicher Sprachmerkmale
kann nunmehr zusammenfassend festgehalten werden: Der Rückschluß
von der Sprachstruktur auf eine spezifische Theorie vom Aufbau der Welt
drängt sich hinsichtlich zahlreicher indo-europäischer Sprachen geradezu
auf. So erscheint das Altgriechische wie ein mustergültiger Spiegel und wie
eine Bestätigung der aristotelischen Ontologie. Eine analoge Verknüpfung
verbietet sich im Falle des Altchinesischen aufgrund fehlender Markie¬
rungen der entsprechenden Art. Selbst wenn hinsichtlich altchinesischer
Weltauffassungen zu Recht von „Ontologien" die Rede sein sollte, kann
jene Sprache, in welcher dieses Denken seinen Niederschlag gefunden hat,
jedenfalls nicht als anschauliches Abbild solcher Strukturen oder als Beleg
dafür herangezogen werden. Die „Grammatik" des Altchinesischen - wenn
von einer solchen nach dem bisher Ausgeführten überhaupt noch sinnvoll
gesprochen werden kann - liefert keine ausreichenden Anhaltspunkte zur
Charakterisierung fundamentaler Denkstrukturen von der Art antiker
Weltmodelle in deren naher Entsprechung zur Sprachlichkeit wie zu den
diese wiederum erfassenden grammatischen Modellen der Geschichte. Bei¬
nahe ebenso unsicher ist im Altchinesischen der Rückschluß auf die logische
Regelhaftigkeit möglicher Aussagen angesichts einer begrenzten Anzahl von
faktischen Redebeispielen im Verein mit einem hohen Maß an semantischer
Unfixiertheit und syntaktischer Freiheit der einzelnen Ausdrücke. Die be¬
obachtbaren syntaktisch-funktionalen Ordnungsmuster auf eine invariante
grammatikalisch-ontologische Struktur zurückzuführen, setzt eine Reihe
eurozentrischer Unterstellungen in der Beschreibung der Sprache voraus.
Im Altchinesischen scheint tatsächlich der Wittgensteinsche Fall wahr zu
werden, daß nicht bloß historisch niemals ein normatives grammatikali¬
sches Modell aufgestellt wurde, sondern daß es jenes Regelwerk der Sprache
so gar nicht gibt, daß vielmehr der bloße Gebrauch im geschichtlich offenen
Sprechen schon die ganze Regel ist. Muß nicht vielleicht sogar festgestellt
werden: Gegenüber jenen „etats de langue" die Ferdinand de Saussure
als Gegenstand der synchronen Linguistik herauszuheben sucht,^^ erweist
sich die chinesische Rede mk ihrer Präferenz der Stilkategorie weithin als
zu „fließend", als zu „diachron"? Setzt nicht „die Sprache" als „Zustand"
im Chinesischen als je individuell aktualisierter Sprechakt, als Verwirkli¬
chung einer geschichtlich konventionalisierten, nicht jedoch im strengen
Sinne „regelhaften" und „normativen" Sinngestak ein solches Maß an krea¬
tiver Offenheit in der Sprachlichkeit selbst notwendig voraus, daß von dem
Ideal einer geregelten und linguistisch zu rekonstruierenden langue hier
nicht länger ausgegangen werden sollte? Während sich bei uns mit unserer
Gewöhnung an „grammatikalisierte" Sprachen^'' das sinnvolle Sprechen
vor allem als ein Regelbefolgen darstellt, während bei uns der lokutionäre
Akt einer illokutionären oder perlokutionären Leistung theoretisch vorge¬
ordnet ist, wäre den Verhältnissen des Chinesischen vielleicht eine Theorie
angemessener, die den regelgeleiteten lokutionären Akt grundsätzlich der
illokutionären und perlokutionären Performanz, d.h. aber letztlich die
Synchronie der Diachronie und die langue der parole unterordnet. Bei der
Erfassung des Chinesischen hat offensichtlich gegenüber dem einfachen
Grundmuster des „Aussagesatzes" die Rede- und Textpragmatik eine viel
stärkere Berücksichtigung verdient - soll nicht immerzu in einem quid pro
quo der Sinn einzelner Redebeispiele aus der rhetischen „Bedeutung" eben
jenes minimalen lokutionären Aktes abgeleitet werden, den man zuvor
künstlich gewonnen, d. h. aus der konkreten Rede durch Abstraktion und
Reduktion auf das bloße Regelwerk der „Sprache" konstruiert hat. Unser
Problem mit der angemessenen Beschreibung und Bestimmung der chinesi¬
schen Sprachstrukturen wurzelt vermutlich tiefer, nämlich in unserer sprach¬
philosophischen Grundeinstellung.^*
2* Siehe F. de Saussure 1995, S. 117, 127fr., 138fr., 142f.
2^ Vgl. F. DE Saussure 1995, S. 183. Saussure erkennt den krassen Gegensatz in der Grammatikalität zwischen indoeuropäischen Sprachen und dem „ultra-lexikologischen"
Chinesischen ohne weiteres an. Gleichwohl bleibt offen, inwieweit er als „Motivation"
des Sprechens neben oder sogar noch vor den historisch verfestigten Regeln der Sprache jener in der chinesischen Geistesgeschichte so eminenten Rolle der Bildung, die Sprach¬
konventionen stiftete, den ihr gebührenden Rang zusprechen würde. Für China mag mehr als anderswo zu fragen sein, wie bedeutsam für die Sprachentwicklung die geschichtliche
Sedimentierung von einzelnen Sprechakten gegenüber normativen Sprachregeln war.
2* Vgl. etwa den Zweifel an jener sprachphilosophischen Grunddisposition des
Abendlandes, den John L. Austin am wirksamsten namhaft machte (s. Ders.: How to
Do Things With Words. Cambridge, Massachusetts ^1972, S. Iff., 72f.). Die linguistisch relevante Ebene der "Sprache" (langue), d.h. aber auch der Grammatik und des Lexikons,
erscheint demnach ebenso wie die wissenschaftliche Reduktion des Sprechens auf ein
III. Kritische Zwischenbetrachtung zum Philosophiebegriff
Die von Epigonen der abendländischen Philosophiegeschichte häufig wieder¬
holte Behauptung, China kenne die Philosophie nicht, ist im Hinblick auf
die große Bandbreite europäischer Traditionen des Philosophierens offen¬
sichtlich unsinnig. Sie dient immerhin einer Klärung, welche Orientierung
das Philosophieren in China gewiß nicht gewählt hat. Bemängelt wird ja,
daß weithin die klassische Bestimmungsfrage des Sokrates, die Frage „was
ist ...", nicht gestellt, daß auch nicht nach Anfang, Grund oder Wesen des
Seins, nach einer arche gefragt wird. Ebenso vermißt man die Begründungs¬
frage, das „warum und das rationalistische Verfahren des logon didonai,
rationem reddere. Kurzum, man findet in China das analytische Argument
nicht wieder. Daß die parmenideisch-platonische Zwei-Welten-Theorie der
abendländischen Metaphysik so nicht ausgebildet wurde, daß die ontologi¬
sche Grundfrage des Aristoteles nach dem „Seienden als solchen" oder nach
dem Sein nie formuliert und auch ein Katalog des Seienden und seiner Kate¬
gorien nie aufgestellt wurde, daß daher die Voraussetzungen für die klassi¬
sche Identitätsphilosophie, für eine Substanzmetaphysik wie für eine analy¬
tische Logik gar nicht gegeben waren, scheint dabei nur wenigen aufgefallen
zu sein. Umso schwerer wiegt, daß Europa zumeist die philosophischen
Qualitäten des chinesischen „Pragmatismus" übersieht, wenn etwa statt
einer methodischen Lösung der Was-Frage durch Analyse und Negation
die Wie-Frage bezüglich eines Verhaltens in den Vordergrund tritt.^' Und
gerade dem Grammatiker müßte zu denken geben, wie im chinesischen
Denken Komplementaritäten, Ubergänge, Bezüge und Zusammenhänge
- unabhängig von einem Kausalitätsgedanken - in den Vordergrund treten,
reines „Aussagen" als ein abstraktives - historisch spätes - Konstrukt, dem notwendig immer der Gebrauch der Sprache in einer ursprünglichen „Rede" (parole) mit allen darein involvierten performativen Charakteren vorhergeht. Daher stellte bekanntlich Austins einflußreicher Schüler Searle sogar gegen die künstliche Distinktion einer Rede- und einer Sprachebene - und d. h. auch gegen die einseitige Ubergewichtung der linguistischen Sprachbeschreibung in einer Reflexion auf die Sinnstiftung alias Handlung der lebendi¬
gen Rede als eines Sprechaktes - mit noch größerer Entschiedenheit fest: „[...] an adequate study of speech acts is a study of langue." (s. John R. Searle: Speech acts. An Essay in the Philosophy of Language. Cambridge 1969, S. 17).
2' Die ernüchternde Antwort auf die Frage „Was ist menschliche Güte?" {ren zhe he ye -f—^ f^T -<!l) mag in der berühmten Formulierung des Zhongyong t (Abschn. 20), „Was die menschliche Güte betrifTt, so ist sie der Mensch/ so hat sie mit dem (anderen) Men¬
schen zu tun." {ren zhe ren ye i:^^ K beinahe tautologisch anmuten. In den ebenso
bekannten Antworten des Konfuzius in Lunyu IkÜ XII: 1-3/22/24 werden in einer ana¬
logischen Rhetorik die ethischen Voraussetzungen für eine menschlich gütige Haltung und ein dementsprechendes Verhalten in concreto geklärt, womit der Moralphilosophie womöglich ein besserer Dienst erwiesen wird als mit sokratischen Aporien.
wie immer wieder „atmosphärische Phänomene" und solche einer nicht
physikalischen Wirksamkeit, auch Probleme des Ausdrucks und des Stils
in einer Schärfe reflektiert werden, wie sie Europa vielleicht erst im 20.
Jahrhundert überhaupt zugänglich scheint. Schließlich läßt man in jenem
vernichtenden Urteil über die chinesische Geistesgeschiehte allzu gerne
jene verfeinerte Tradition einer dialektischen Hermeneutik unter den Tisch
fallen, wie sie Im Altertum durch konfuzianische Autoren begründet, Im
Mittelalter durch buddhistische Schulen zu reicher Blüte entfaltet und im
Neo-Konfuzianismus der Song-Zeit als methodologische Grundlage des
Denkens fest etabliert wurde.
Dem offenkundigen Parallelismus von europäischer Grammatik und ari¬
stotelischer Ontologie wäre erst noch der - bislang ausstehende - Nachwels
einer theoretisch ausformulierten Ontologie im strengen Sinne innerhalb
der chinesischen Überlieferung an die Seite zu stellen. Erst dann dürften
wir vielleicht den faktischen Reichtum altchinesiseher Sprechmöglichkelten
auf ein grammatikalisches Regelwerk „der Sprache" - nach dem Muster
eines ontologischen Abbildes von „der Welt" - reduzieren. Wenn freilich
im Zusammenspiel einer solchen anders „freien" wie ebenso anders „präzi¬
sen" Sprachstruktur mit dem Denken und womöglich aufgrund bestimmter
Grunderfahrungen und Einsichten die Vorstellung von einer kontextunab¬
hängigen Bedeutung von Sätzen Im alten China nicht verbreitet war, konnte
sich das - von der zeitgenössischen Philosophie mit Husserl, Wittgenstein
und anderen längst als Irrweg entlarvte und aufgegebene - Ideal einer ma-
thematlsierten Fassung philosophisch-logischen Sprechens erst gar nicht
ausbilden. Wenn nicht die Satzbedeutung, sondern die Sinnintention des
Sprechers das maßgebliche semantische Konzept darstellte, wie Harbs¬
meier betont,'" dann kann die Philosophie offensichtlich nicht im Gewand
des neuzeitlichen Rationalismus, dann kann sie nicht als mathesis universalis
auftreten. Wenn mithin auch noch im philosophischen Sprechen und Schrei¬
ben die aus unserer Gewohnheit „unterbestimmt" sinnstiftende Eigenart des
altchinesischen Sprachbaus einer situativen Sinnbildung entgegenkommt
und somit durch die gesamte Geistesgeschiehte hindurch die Textpragmatik
ein gesteigertes Gewicht besaß, dann scheinen für ein auf „allgemeingültige
Aussagen" gerichtetes Denken schlicht die Voraussetzungen und die Moti¬
vation zu fehlen. Das geläufige Abbildschema, wonach ein lineares und lo¬
gisch regelhaftes Ableitungsverhältnis zwischen Weltwirklichkeit, Denken,
Sprechen und Schreiben besteht, wurde Im Verständnishorizont unserer
Sprachen wenigstens wiederholt für plausibel und philosophisch einsetzbar
Siehe Chr. Harbsmeier 1979, S. 115; Ders. 1998, S. 185f.
gehalten." Auf dem chinesischen Sprachgebiet versagt es indes - oder es
muß doch einschneidend angepaßt werden. Zumindest entspricht die chi¬
nesische Sprachstruktur nicht unserem europäischen Weltbild, dem unsere
grammatikalischen Bilder von der Sprache so getreu nachgebildet scheinen.
Bedeutet dieser Umstand schon die Fehlgeburt der chinesischen Philo¬
sophie aus dem Geiste der altchinesischen Sprache? Diesem verbreiteten
Vorurteil möchte ich folgende These entgegensetzen:
In der altchinesischen Sprachlichkeit kommt die Distanz zwischen ge¬
lebter Wek, Denken und Rede in einer komplexen Bezugnahme zwischen
diesen Gliedern zu einem angemessenen Ausdruck. Und das reflektierte
Bewußtsein von der sozialen Situativität allen Sprechens findet darin seinen
Niederschlag.
Was zunächst als Mangel erscheinen mag, kann positiv gefaßt werden.
Gerade aufgrund der Eigenart des Altchinesischen, der es sich nicht nur
nicht zu entziehen suchte, der es sich vielmehr in großer Fruchtbarkeit
verschrieben zu haben scheint, zeugt das Denken im alten China vielfach
von einem weniger „logisch" wie vielmehr „hermeneutisch" zu nennenden
Verständnis seines Geschäfts. Stets wird da „etwas als etwas" gedeutet - und
diese Auslegungsbemühung vollzieht sich immer vor dem Hintergrund
einer konkreten geschichtlichen und lebensweltlichen Dialog-Situation und
vor allem im Hinblick auf diese Situiertheit. Das Denken fußt nicht in einer
theoretischen Disposition, d.h. in einer distanzierenden eidetischen Schau
des gegenständlich Gedachten. Es spricht grundsätzlich weniger in abstrak¬
tiv verallgemeinernder, sondern in dialogischer und hermeneutischer Weise,
wo es altchinesisch spricht. Um diese Feststellungen zu veranschaulichen,
sollen nunmehr noch einige wenige Blicke auf Merkmale einer „philosophi¬
schen Sprache" in der chinesischen Geistesgeschichte geworfen werden.
IV. Eine philosophische Sprache
Das Altchinesische kennt keine Kopula. Es kommt zumeist mit reinen Aus¬
drücken des Vollzugs oder sogenannten „Eigenschaftsverben" aus. Der klas¬
sische „Aussagesatz" enthält mindestens einen Bedeutungsgehalt - ein Wort,
Vgl. etwa Platons Dialog Kratylos, in dem - freilich in polemischer Absicht - vom
Vorrang der onomata, der (ontologischen) Benennungen zur Anzeige und Mitteilung des
Wesens des Seienden, ausgegangen wird; s. bes. 388b/c, 390e, 422d. Vgl. ebenso Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. 2.1-2.161, 4.03-4.06, 5.6-5.62. Vgl. ferner
den fraglos eingeführten Parallelismus zwischen dem Diiferenzsystem der sprachlichen
„Werte", der signifiants und dem konzeptuellen der signifies bei F. de Saussure 1995, S. 99, 146, 158f., 167.