André Kieserling: Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktions- systeme. F r a n k f u r t a. M.: S u h r k a m p 1999.
Heiko Hausendorf
Die Arbeit von André Kieserling, die aus einer soziologischen Dissertation an der Universität Bielefeld hervorgegangen ist, stellt den Versuch dar, die neuere Luh- mannsche Systemtheorie für den Gegenstandsbereich der Interaktion fruchtbar zu machen. Zwar hat Luhmann selbst diesen Fall der Bildung sozialer Systeme von Beginn an in seiner Theorie vorgesehen und auch vereinzelt im Hinblick auf die Spezifik dieses Systemtyps thematisiert, doch im Gegensatz zu den anderen Teilbereichen der Theorie ist die Theorie der Interaktionssysteme auffallig blass geblieben - ein „Missverhältnis", das der Autor zum Anlass nimmt, um die vorliegenden Hinweise und Anknüpfungspunkte aufzugreifen und weiterzuent- wickeln (s. Vorwort). Dieser Versuch wird in größtmöglicher Engführung an das allgegenwärtige Vorbild der Luhmannschen Theorieproduktion konzipiert und durchgeführt, wobei dem Autor die profunde Kenntnis dieses ebenso umfangreichen wie theoretisch anspruchsvollen Werkes zugutekommt - manchmal aber wohl auch im Wege steht, was die Eigenständigkeit der Argumentation betrifft.
Interaktion wird in der Schrift als „Kommunikation unter Anwesenden" betrach- tet, wobei diese Anwesenheit nicht als eine kommunikationsexterne Bedingung verstanden wird, sondern als ein „Erzeugnis der Interaktion" selbst (S. 66) - eine Blickrichtung, die den mit der linguistischen Interaktionsanalyse vertrauten Leser an die Perspektive der Konversationsanalyse erinnern mag. Und in der Tat kann man viele Teile der Schrift als Darstellung einer alternativen und oftmals komplementären Annäherung an ein sehr ähnliches Gegenstandsverständnis betrachten: z.B. im Hinblick auf die allgemeine Konstitution des Gegenstandes ,Interaktion' als einer eigenständigen Ebene der sozialen Realität (Kap. 3 - 5 ) , die Verortung des Hand- lungsbegriffes im Bereich der „Selbstbeobachtung" des Systems (Kap. 6), das Verständnis von Interaktion als „Mitvollzug von Gesellschaft" (Kap. 8) oder die Darstellung des Sonderfalls der „Interaktion in Organisationen" (Kap. 11).
Eine solche Lektüre erfordert gleichwohl hartnäckig interessierte Leser, die sich nicht leicht abschrecken lassen: weder von der für diese Theorie typischen Neigung zu Abstraktionen noch von der allgegenwärtigen Anlehnung an die spezifisch Luh- mannsche Diktion, die diese gerade dort besonders gewahr werden lässt, wo sie am wenigsten überzeugt: in der großen Geste, mit der komplexe Forschungsbereiche von oben herab auf die Plätze verwiesen (z. B. mit Bezug auf die empirische Organisa- tionsforschung: S. 342ff.) oder aber pauschal instrumentalisiert werden (z.B. im Kontext des Zusammenhangs von Gedächtnis, Narration und Interaktion: S. 386);
in der durchgängigen Vorführung eines begrifflichen Auflösungs- und Verfremdungs- vermögens, das nicht auf empirisch gestützte Belege, sondern auf Wiedererkennbar- keit und Aha-Erlebnis vertraut. Leidet die „mit konversationsanalytischen oder ethnomethodologischen Mitteln instrumentierte" empirische Forschung unter ei- nem Theoriedefizit, so „laboriert die vorliegende Arbeit an der komplementären
Zeitschrift für Sprachwissenschaft 20.1 (2001), 162-163
© Vandenhoeck & Ruprecht, 2001 ISSN 0721-9067
Kurzrezensionen 163
Einseitigkeit", wie der A u t o r selbstkritisch einräumt (S. 7). Stellt m a n diese Einschränkungen in Rechnung, finden sich in der Schrift zahlreiche Anregungen auch für solche Leser, die nicht primär an der Systemtheorie, sondern an der Theorie und Methodologie der linguistischen Interaktionsanalyse interessiert sind.
Heiko Hausendorf, Bielefeld