Zur Geschichte der Schrift
Von Helmut Arntz, Honnef (Rhein)
I. Gebrauohsschrift und Kultschrift
Auf die reichen Anregungen, die von Alfred Schmitt's
,, Untersuchungen zur Geschichte der Schrift" (Leipzig 1940)
ausgegangen sind, hat J. Friedrich (ZDMG. 95, 1941, S. 374
bis 414) mit eingehenden Darlegungen geantwortet. Sie gelten
vor allem den Übereinstimmungen, die sich zwischen der
Alaskaschrift und Schriften des Alten Orients fmden, und dem
Entwicklungsgang im einzelnen, wie er sich aus der Schritt
für Schritt verfolgbaren ,, Schriftschöpf ung" der Eskimos auch
für die alten Völker, bei denen der Gang der Entwicklung ver¬
schüttet ist, wahrscheinlich machen läßt.
Friedrich's Ausgangspunkt bildet, wie es natürlich ist, das
alte Vorderasien und Ägypten, und auch die andern Darstel¬
lungen der Schriftgeschichte ruhen — wie H. Jensen, Die
Schrift (1935) — mit ihrem Schwerpunkt in diesem Gebiet.
Dadurch tritt die Schrift als Gebrauchsschrift aufs stärkste
hervor; wir verwenden sie heute so, die gleiche Anwendung
fmden wir bereits durchgängig bei den alten Völkern, und es
ist aus sich selbstverständlich, daß auch die Alaskaschrift um
der praktischen Anwendung willen geschaffen wurde.
Von der Gebrauchsschrift gilt, daß sie der Erinnerung (tür
den Schreiber) und der Mitteilung (an andere Menschen) dient.
Sie schafft damit die Grundlage für Handel, Verkehr und Ver¬
bindung sUer Art über ausgedehnte Gebiete und für eine Fest¬
legung von Rechts- und Verwaltungsnormen, von Leitsätzen
der Staatsführung, Aufzeichnung geschichtlicher Begeben¬
heiten und von Erzeugnissen der Dichtung u. dgl. Sie ist also
eng mit einer bestimmten Zivilisationsstufe verknüpft,
H. Abntz, Zur Geschichte der Schrift 69
deren Steigerung sie ermöglicht, und schafft auch politische
Macht, indem sie den Zerfall großer Reiche in Dialektgebiete
verhindert.
Schon die Größe mancher antiken Staatsgründungen er¬
gab Entfernungen, deren Überbrückung auf dem Weg nur
mündlicher Nachrichtenübermittlung nicht mehr möglich war.
In unserm Kulturbereich waren z. B. das ägyptische, das sume-
risch-assyrisch-babylonische und das hethitische Reich auf
dieser Stufe angelangt. In solchen organisierten Staatswesen
mit weltweiter Wirtschaft, Wehrhoheit und Gesetzgebung
wurde Gebrauchsschrift erfunden und ausgebildet (den Weg
betrachten wir im einzelnen später).
Gebrauchsschrift führt uns also in den Bereich der Han¬
delsvölker und der städtischen Kulturen. Sie umfaßt Bilder
oder Zeichen, deren Aneinanderreihung einen bestimmten und
ins einzelne gehenden sprachlichen Sinn gibt. Es genügt nicht,
daß lediglich gewisse Vorstellungsinhalte zu einem ungefähren
Ausdruck gebracht werden; sondern dieser Ausdruck muß so
klar und bestimmt sein, daß er jeweils nur eine Auslegung ge¬
stattet; und die Zahl der Möglichkeiten des schriftlichen Aus¬
drucks muß so groß sein, daß allen in Politik, Verwaltung und
Wirtschaft auftretenden Bedürfnissen durch diese Schrift mit
erforderlicher Genauigkeit genügt werden kann.
Zur Vermeidung von Mißverständnissen im folgenden soll
gleich betont werden, daß sich die Gebrauchsschrift im Dienst
von Wirtschaft und Politik nicht erschöpft. Die Dichtung, die
mit ihr aufgezeichnet wird, umfaßt auch religiöse Texte, und
heilige Lieder und Sprüche werden zur Gedächtnisstütze für
den Priesterstand schriftlich niedergelegt. Ehe Schriftkennt¬
nis allgemein ist, muß die Fähigkeit, einen Gedanken auch
über Raum und Zeit dem Auge sichtbar zu machen, dem
Schriftunkundigen als wunderbar und übernatürlich erschei¬
nen; daher liegt bei der Niederschrift eines Zauberspruchs die
Einbeziehung der Schriftzeichen in den Zauber nahe. Dieser
„Alphabetzauber" war neben der Zahlenmystik und zusammen
mit ihr bei allen Völkern des Altertums lebendig. Es kann so¬
gar eine Gebrauchsschrift, die im täglichen Leben nicht mehr
70 H. Akstz, Zur Geschichte der Schrift
benötigt wird, ganz in den religiösen Bereich übergehen; ihre
Zeichen werden „Hieroglyphen".
Eine solche Schrift nennen wir Kultschrift. Der geschil¬
derte Vorgang bietet nicht die einzige und nicht einmal die
wichtigste Möglichkeit ihrer Entstehung.
Zweck der Gebrauchsschrift, sagten wir, ist die Mitteilung
an andre. Ihre Entwicklungsstufe wird danach beurteilt, mit
welcher Deutlichkeit und wie ins einzelne gehend sie sich an¬
dern verständlich machen kann. Ihr Ziel fmdet sie in höchster
Vollkommenheit der Wiedergabe von Gedanken oder Worten
für ein Auge, das wieder eine Umsetzung in Worte und Ge¬
danken vornimmt. Ihr Gipfel ist die Laut- und schließlich die
Buchstabenschrift.
Die ,, andern", denen etwas mitgeteilt werden soll, brau¬
chen aber nicht durchweg Menschen zu sein. Älter als das
organisierte Staatswesen sind Glaube und Kult, und ehe das
Bedürfnis nach Nachrichtenübermittlung zu wirtschaftlichen
und politischen Zwecken eine Schrift notwendig machte,
fühlte die Menschheit das Bedürfnis, mit der übernatürUchen
Welt in Verbindung zu treten.
Besonders deutlich wird das an den Völkern, die überhaupt
kein „Schreibbedürfnis" in dem Sinn, der uns aus der Alten
Welt gewohnt ist, haben. Die Germanen z. B. gerieten erst
mit der Ausdehnung des Imperium Romanum in den Macht¬
bereich einer Staatsgründung, die bereits auf schriftliche Nie¬
derlegung angewiesen war. Aber den Germanenstämmen, die
in das Römische Reich eingeführt wurden, ersparte die römi¬
sche Verwaltung mit ihrer lateinischen Amtssprache alles, was
schriftlicher Festlegung bedurft hätte.
Und doch haben diese Germanen nicht nur in den Runen
eine zu Gebrauchszwecken taugliche Schrift besessen, sondern
vor der Aufnahme der Runen (im 2. Jahrh. v. Ztr.) gab es eine
ausgeprägte germanische Schrift, die schon in der Bronzezeit
(um 1500 v. Ztr.) blühte. Alle Versuche, die Runen oder gar
noch andere Schriften der Erde formal aus dem Germanischen
herzuleiten, mußten aber hoffnungslos fehlschlagen, weil man
sich über den Charakter der altgermanischen Schrift nicht
H. Abntz, Zur Geschichte der Schrift 71
klar war. Sie bietet uns den reinsten Fall einer Kultschrift,
d. h. es kommt nicht darauf an, daß sie gelesen werden kann,
sondern daß sie wirksam ist.
Eine solche Schrift muß in den Ausdrucksmitteln vielfach
mit der Gebrauchsschrift gleichgehen; beide verwenden Bilder,
Sinnbilder und daraus entwickelte Zeichen. Sie scheiden sich
aber bald : die Gebrauchsschrift sucht sprachliche Werte, die
Kultschrift kultische Vorstellungen auszudrücken. Die Ge¬
brauchsschrift wendet sich an Menschen und muß Bedacht
darauf nehmen, daß diese Menschen sie lesen können; die Kult¬
schrift tritt der göttlichen Zaubermacht wiederum mit Zauber
entgegen. Da das frühe Denken noch nicht zwischen Gebärde
und Geist unterscheidet geschieht die Aneignung der Macht
vor allem durch Nachahmung.
Ein Altersunterschied zwischen Kult- und Gebrauchs¬
schrift besteht nicht. Auch völlig ,, schriftlose" Völker können
Mitteilungen machen, indem sie etwa durch aufgetürmte
Steine geschichtliche Ereignisse festhalten oder einen Pfeil als
Aufgebotszeichen umhersenden (sog. Gegenstandsschrift). Sie
treten in den Bereich einer Gebrauchsschrift ein, wenn sie
durch Kerben in einem Stab Schuldbeträge ausdrücken und
so eine ,, Rechnung" schreiben. Wie Staat und Wirtschaft aus
keimhaften Anfängen wachsen, liegen auch der Gebrauchs¬
schrift Vorstufen und Ansätze zugrunde, die in die Anfänge
menschlicher Gemeinschaften zurückreichen.
Die Kultschrift bezweckt eine greifbare Wiedergabe aller
Gewalten und Gegenstände, die im Kult eine Rolle spielen.
Ihr Zweck ist in der sakralen Handlung selbst begründet:
gleich andern kultischen Mitteln soll sie Fruchtbarkeit oder
Sieg erflehen. Tote ans Grab bannen, feindlichem Zauber weh¬
ren, im Losorakel die Zukunft enthüllen u. dgl. mehr. Wer
eine Nachbildung der Sonne besitzt, hält die Sonne selbst, und
die gleiche Wirkung übernimmt der Kreis als Sonnenbild. Wer
das Bild des Feindes durchbohrt, trifft den Feind tödlich. Wer
das heilige Pferd zeichnet, führt den Sonnenwagen herauf und
1) H. Schneidbb, Germanische Altertumskunde, 1938, S. 228f.
72 H. Arhtz, Zur Geschichte der Schrift
zwingt die Sonne zum Scheinen. Wer eine Gottheit abbildet,
versichert sich ihres Beistandes^).
Eine wesentliche Wurzel der Kultschrift stellt die vorzeit¬
liche Kunst dar. Denn wenn der Steinzeitmensch Wesen und
Gegenstände seiner Umgebung abbildete, tat er es zumeist um
der kultischen Wirkung des Bildes willen*). Das erweisen be¬
reits die dargestellten Gegenstände: die flache menschliche
Hand (Gebärde der Abwehr und Beschwörung), Bilder der
Beutetiere (Jagdzauber), menschenähnliche Figuren (Idole)
u. dgl. Diese urtümlichen Vorstellungen haben sich z. B. in
die Hieroglyphenzeit hinein erhalten : bei der Wiedergabe von
Tieren wird nur ein Teil abgebildet, oder es werden Körner
zwischen die Gliedmaßen gelegt, um ein Zusammenwachsen
zu verhindern, oder Messer werden ins Rückgrat oder auf den
Kopf gesteckt'), damit das Dargestellte nicht lebendig werde.
Das großartigste Beispiel des Nachahmungszaubers bilden
die germanischen Felsritzungen der Bronzezeit, vor allem in
den schwedischen Provinzen Bohuslän und Östergötland.
Diese „Hällristningar" zeigen „Menschen" mit Axt, Speer und
Hammer, Schiffe, Bäume, Tiere, den Pflug und den Wagen.
Darüber hinaus aber enthalten sie — und werden dabei durch
die Gräber- und sonstigen archäologischen Funde glücklich
ergänzt — Sinnbilder und Sinnzeichen aller Art :
Räder mit und ohne Speichen, Kreuze, Hakenkreuze,
Kreise mit und ohne Punktmitte, konzentrische Kreise, Spi¬
ralen, Vierecke, Quadrate mit hineingesetzten Kreuzen, Recht¬
ecke mit Diagonalen, Dreiecke (auch mit den Spitzen gegen-
einandergestellt oder mit Punkten an den Spitzen), Räder mit
Strahlen, waagrechte, senkrechte und geschwungene Linien,
1) Wir sehen, daß die z. B. von Jbhsbn, Die Schrift, S. 17—23 be¬
handelten sog. zeichnerischen Vorstufen der Schrift größtenteils in den Bereich der Kultschrift gehören.
2) Vgl. z. B. H. Bbbuil— H. Obbbmaibb, La Cueva de Altamira en
Santillana del Mar, Madrid 1935. — H. Obbbmaibb, Die Uranfänge der
Plastik und Gravierung beim Eiszeitmenschen. In: Forsch, u. Fortschr.
17, 1941, S. 149. — Ders., Die Uranfänge der Malerei beim Eiszeit- I
menschen, ebenda, S. 216—18.
3) Vgl. Lexa, Magie III, Taf. LXXI.
H. Abntz, Zur Geschichte der Schrift 73
Zickzacklinien, parallele gerade und Wellenlinien, Schlingen,
Stufen- und Winkellinien, Mäander, Würfelaugen, senkrechte
Stäbe mit Seitenzweigen, Leitern, Pfeile, Zweige, Kämme,
Beil und Axt, Hand und Fußsohle u. dgl. mehr.
Ein fester Formelschatz, wie ihn die kultische Dichtung
kennt, liegt hier vor. Über den Sinn der Bilder hat die For¬
schung lange gerätselt, sie sah in ihnen erst Erinnerungsbilder,
dann Zeichnungen im Dienst des Totenkults. Schon 1882 hatte
aber J. J. A. Worsaae^) in ihnen ,, bildgewordene Gebete" ge¬
sehn, die Segen und tätige Hilfe der Götter herbeirufen sollten,
und 1916 äußerte O.Almgren*) die Ansicht, die bildlichen
Darstellungen auf den Felsen sollten die Wirkung der kurzen
Kulthandlung verlängern und erhalten. In seinem berühmten
Werk von 1926*) hat Almgren die Felsen endgültig als Kult¬
steine im Dienst einer hochentwickelten Sonnenreligion er¬
wiesen. Sie sollen Fruchtbarkeit für die Lebenden einwirken
und treten erst sekundär — unter Verwendung der gleichen
Bilder — in den Dienst der Toten. Es ist die Religion eines
bäuerlichen Volkes; niemand ist ja von Gunst und Ungunst
der Sonne so abhängig wie der Landmann.
Mit Almgren's Ausführungen war nicht nur für die Häll¬
ristningar, sondern auch für die figürlichen Darstellungen in
Gräbern, an der Keramik und in der Metallkunst eine feste
Grundlage gewonnen, die vor allem G. Schwantes *) erweitert
hat. Wenn eine Spirale, ein Rad, ein Hakenkreuz in einer Fels-
ritzung einen festen Bezug auf die Sonne hat, wird auch die
gleiche und gleichzeitige Figur auf einer Bronze oder einem
Tongefäß und ebenso der Bronzeschmuck in Gestalt einer Spi-
1) The industrial arts of Denmark usw., London 1882.
2) Kulthandlingar och kultföremil usw. In: Oldtiden 7, Chria. 191S (Vortragsreferat).
3) Hällristningar och Kultbruk, Stockholm 1927. (Deutsch von
S. Vbanckbn: O. Almobbn, Nordische Feldzeichnungen als religiöse Ur¬
kunden. Frankfurt a. M. 1934.)
4) Vorgeschichte von Schleswig-Holstein, Bd. 1: Stein- und Bronze¬
zeit, Neumünster 1939. — Derselbe, Arbeitsweise und einige Ergebnisse- der vorgeschichtlichen Sinnbildforschung. In: Offa 4, 1939, S. 1—58.
74 H. Abntz, Zur Geschichte der Schrift
rale, eines Rades oder eines Hakenkreuzes den gleichen Sinn
verkörpern.
Die Felszeichnungen sind, das muß dem Kenner der alten
Schriften ausdrücklich gesagt werden, keine Bilderschrift. Be¬
stimmte sprachliche Ausdrücke — Worte oder Sätze — lassen
sich mit ihnen nicht wiedergeben, und der Ausdrucksbereich,
auf den sie sich beziehen, ist äußerst beschränkt. Zum täg¬
lichen Leben und seinen Bedürfnissen haben sie kaum eine
Beziehung. Sie dienen weder der Erinnerung noch der Mit¬
teilung, sondern sie stellen die heilige Handlung in Bild und
Zeichen dar und verstärken, verlängern und erhalten dadurch
ihre Wirkung.
Das natürliche Ausdrucksmittel der Kultschrift ist das
Bild. Was aber unsichtbar ist und deshalb nicht im Bild
wiedergegeben werden kann, wird durch Sinnbilder (Sym¬
bole) sichtbar gemacht. Ein heiliger Baum ist kein Bild und
kein Sinnbild, sondern der Gegenstand selbst. Er kann aber
das Sinnbild des Gottes werden, der in ihm wohnend gedacht
wird, und in der schriftlichen Wiedergabe sowohl Bild des
Baumes wie Sinnbild des Gottes (d. h. Bild des Sinnbilds)
sein. Solange der Zeichner des Sinnbildes noch weiß, daß der
betreffende Gott durch einen Baum versinnbildlicht ist, wird
er jedesmal das Bild dieses Baumes malen. Sobald aber, wie
es nach einigen Generationen zu geschehen pflegt, der Zeichner
von der ursprünglichen Herkunft des Gotteszeichens nichts
mehr weiß [weil das Zeichen ja nicht mit dem Namen des
Baumes, sondern der Gottheit gelesen wird], kann das Sinn¬
bild abgeschliffen werden zum Sinnzeichen: es drückt zwar
noch den gleichen Vorstellungsinhalt (Gott N.) aus, kann aber
nicht mehr bildlich zum Sinnbild des Gottes in Beziehung ge¬
setzt werden.
Solche Sinnbilder sind im heutigen Gebrauch etwa das
Schwert als Sinnbild der Wehrmacht, der Adler als Sinnbild
des Reichs, die Eule als Sinnbild der Weisheit. Wehrmacht,
Reich, Weisheit kann man nicht unmittelbar, sondern nur in
der Wirkung sehn, sie werden daher im kennzeichnenden Aus¬
druck erfaßt. In der Gebrauchsschrift ist das Kennzeichnende
H. Arntz, Zur Geschichte der Schrift 75
der Klang; daher giht z. B. in der Hieroglyphenschrift der
„Käfer" (h-p-r) auch das Wort ,, werden" (das ja nicht sicht¬
bar ist) wieder, weil es gleichfalls h-p-r lautet, oder die
,, Schwalbe" w-r auch w-r ,,groß" usw. (sog. Lautrebus). In
beiden Fällen, der Kultschrift wie der Gebrauchsschrift, wird
für das Auge etwas sichtbar gemacht, was es nicht sieht; im
einen Fall ist Gleichheit des Bildes, im andern Gleichheit des
Klangs erforderlich.
Die Sonne ist sichtbar; sie bedarf also keines Sinnbildes,
sondern kann durch den Kreis (mit Strahlen) wiedergegeben
werden. Ihre Eigenschaften und Wirkungen aber können aus
dem Bild nicht begriffen werden; „Sonnengott", „Wärme",
,, Himmelsfeuer", „Fortbewegung", ,, Fruchtbarkeit" usw. er¬
fordern daher Sinnbilder. Da sie sich alle auf die Sonne be¬
ziehen und alle dargestellten Wirksamkeiten nur Wesensarten
dieser Sonne sind, kann die Sonne selbst (die Scheibe, der
Kreis) für alle eintreten, und es kann schließlich auch eines
dieser Sinnbilder das andre ersetzen: sie werden homolog.
Vor allem in Spätzeiten des Glaubens werden die Begriffe
nicht mehr deutlich geschieden; manche Vorstellungen sind
überhaupt nicht mehr lebendig, aber ihre Sinnbilder leben fort.
Wir glauben, daß allen Sinnzeichen (Kraftzeichen, Heils¬
zeichen) wirkliche Bilder zugrunde liegen. Diese Auffassung
findet eine Stütze in der Beobachtung von Schwantes ^), daß
jedes Bild oder Sinnbild auch durch einen Teil von ihm ver¬
treten sein kann {pars pro toto). Der Sonnenkreis kann durch
einen Halbkreis oder auch nur durch einen Punkt (,,Würfel-
auge"), das Hakenkreuz durch eine Stufenlinie, das Dreieck
durch einen Winkel usw. dargestellt sein. In manchen Fällen
können wir die ursprüngliche bildhafte Gestalt infolge der
Lückenhaftigkeit unseres Fundstoffes nicht mehr zurück¬
gewinnen.
Für ein Volk im Besitz solcher Zeichen, dessen Verkehr
und Wirtschaft sich entwickeln, liegt es nahe, mit ihnen auch
unkultische, mithin profane Inhalte zu bezeichnen. Denn mit
1) Offa 4, 1939, S. 26£f.
6
76 H. Arntz, Zur Geschichte der Schrift
der Anwendung von Bildern, Sinnbildern und Sinnzeichen
wird der tatsächliche Vorgang des Schreibens bereits vollzogen
und damit der Gebrauch für sachliche Inhalte weitgehend
vorgetrieben. Wie also eine Gebrauchsschrift zur Kultschrift
(Zauberschrift), so kann auch eine Kultschrift zur Gebrauchs¬
schrift werden — sobald der Glauben Bilder und Zeichen
nicht mehr schützt.
Es ist eine allgemein beobachtete Erscheinung, daß kultische
Begriffe verweltlicht werden^), „indem etwa religiöse Kult¬
handlungen zu profanen Bräuchen und schließlich zum Spiel
werden. Von dieser Bewegung ist natürlich auch das Sinnbild
erfaßt worden, d. h. es trat aus der religiös-magischen Sphäre
heraus und wurde zum Schmuck, Zierat und Ornament" —
oder zum Schriftzeichen.
Wir schlagen demgemäß für die Entwicklung der Kult¬
schrift folgende Stufenreihe vor:
1. der Gegenstand selbst (sog. Gegenstandsschrift, ent¬
sprechend dem gleichen Vorgang in der Gebrauchs¬
schrift) ;
2. das Bild des Gegenstandes, das diesen selbst meint
(entsprechend der Bilderschrift);
3. das Bild des Gegenstandes, das sinnbildlich für einen
andern — unsichtbaren — Gegenstand, einen Begriff
oder eine Vorstellung steht: das Sinnbild (entspre¬
chend dem Lautrebus);
4. das Bild oder Sinnbild, dessen formale Herkunft dem
Schreiber (Zeichner) nicht mehr bewußt ist, das aber
noch kultische Bedeutung besitzt: das Sinnzeichen
(auch Begriffszeichen, Kraftzeichen oder Heilszeichen
genannt); ihm entspricht der Übergang von der Bilder-
zur Zeichenschrift schlechthin;
5. die Zeichnung, Form oder Darstellung, die ihres bild¬
haften Charakters entkleidet sein oder ihn bewahrt
1) F. Ppwtbb, in: Hdwb. d. dt. Aberglaubens V, 803f.; VII, 654,
741 f.; Deutsches Volkstum in Glauben und Aberglauben, 1936, S. 9ff.;
Brauch und Sinnbild (FEHBLE-Festschrift), Karlsruhe 1940, S. 36 f.,
spricht von „zentrifugaler Bewegung".
H. Abntz, Zur Geschichte der Schrift 77
haben kann, mit der aber keine bestimmte Vorstellung
mehr verbunden ist: das Merkzeichen. Von ihm kann
der Weg einerseits zu Ornament und Schmuck, ander¬
seits zur Gebrauchsschrift mit Bildern oder Zeichen
führen.
Zu den Merkzeichen gehören die meisten figürlichen Dar¬
stellungen an Kirchen, Fachwerkhäusern u. dgl. Sie sind alte
Heilszeichen, aber seit Jahrhunderten ebenso unverstanden
fortgeerbt wie manche sinnlose Reime unserer Volksspiele.
Wer sie an Gebäuden, Gerät, Schmuck oder Hausrat an¬
brachte, tat es ursprünglich noch aus der Erinnerung heraus,
daß seinen Vorfahren diese Zeichen etwas bedeutet hatten,
später aber oftmals nur in dem Bestreben, seinen Besitz zu
schmücken und zu zieren.
Die ,, homologen Symbole" der Sonne verdeutlichen die
Stufenreihe am besten. Neben der plastischen Nachbildung
der Sonne (Gegenstand) steht der Sonnenkreis als Bild,
dcLueben aber schon seit der Jungsteinzeit das Rad als Sinn¬
bild der Fortbewegung (vgl. die Feuerräder der Winter¬
sonnenwenden, mit denen die Sonne [durch Analogiezauber]
zu neuem Lauf angespornt werden soll. Es ist eine allgemein
bekannte Tatsache, daß man, um die Wirkung eines Bildes
zu verstärken, es mehrmals ritzen kann, ebenso wie im
Schriftzauber die Wiederholung von Zeichen und ganzen For¬
meln zur Intensivierung dient. So treten statt des einfachen
Sonnenkreises seit alters konzentrische Kreise auf. Sie sind
oft durch Berührungslinien miteinander verbunden (sog.
falsche Spirale). Aus diesen Gebilden hat sich die echte Spi¬
rale entwickelt, die als besonders kunstvolle Form des viel¬
fachen Sonnenkreises neben Kreis und Rad steht und schlie߬
lich auch dem Rad homolog wird. Sie ist ursprünglich das be¬
sonders kraftvolle Bild der Sonne und erhält sich in dieser
Aufgabe, obgleich die formale Entstehung den Anwendern
sichtlich nicht mehr bekannt war; sie ist also zum Sinn¬
zeichen geworden. Diese Stufen zeigen die Ausdrucksmög¬
lichkeiten der eigentlichen Kultschrift: Bild, Sinnbild und
Sinnzeichen empfangen durch den Glauben ihre Kraft. Dann
78 II. Arntz, Zur Geschichte der Schrift
geht die Entwicklung weiter : „Wir können an allen Endstufen
der Entwicklung der Plattenfibelreihe sowohl wie auch der
Nadelreihe nach Rudimente der Sonnenscheibe erkennen; die
Erinnerung, daß diese kunstgewerblichen Gebilde eigentlich
Sonnenamulette gewesen sind, scheint aus dem Bewußtsein
ihrer Verfertiger und Träger geschwunden zu sein"^); wir
sind auf der Stufe der Merkzeichen angelangt.
Von dort führen noch weitere Wege. Der Sonnenkreis ist
in die Runenreihe aufgenommen worden, um den Gott Inguz
zu vertreten; er bezeichnet zugleich den Laut ng. Wäre diese
Rune bei dem späteren Übergang der Runen zu einer Ge¬
brauchsschrift erhalten geblieben (sie ist früh durch die Dop¬
pelschreibung n + g ersetzt worden), wäre ein altes Kultbild
in die Gebrauchsschrift übergetreten. Anderseits ist von ver¬
schiedenen Seiten gemutmaßt worden, daß die der Volkskunde
wohlbekannte Form J auf die (in England in dieser Form be¬
legte) alte /ng-Rune zurückführe; falls diese Ansicht zutrifft,
wäre also auch eine Schmuck- und Ornamentform aus einem
ehemals kultischen Bildzeichen hergeleitet.
Ein kurzes Wort über die Runen mag dem Leser dieser
Zeitschrift erwünscht sein. Sie stammen ihren Zeichenformen
und ihrem Lautstand nach zum überwiegenden Teil aus einem
norditalischen Alphabet des 2. Jahrh. v. d. Ztr., das bei Alpen¬
germanen schon vor dieser Zeit zum Loswerfen gebräuchlich
gewesen sein kann. In Germanien lösen sie die alte Kultschrift,
die sich durch die Eisenzeit hindurch gehalten hat, ab. Jede
Rune erhält einen Namen, der aus dem Bereich des Sonnen¬
kults gewählt ist, und kann für diesen Begriff stehen (die
5- Rune z. B., die ,, Sonne" heißt, als Bild der Sonne; die <-Rune,
die den Namen des Himmelsgottes Teiwaz, Ziu = lat. deus
trägt, vertritt ein Bild des Gottes usw.). Aufgabe der Runen
ist, die kultische Handlung zu steigern und zu verewigen. Sie
erfüllen also durch ihr Schriftbild den gleichen Zweck, dem
die Bilder der Felszeichnungen gedient haben; Mitteilungs¬
zweck im Sinn einer Gebrauchsschrift haben sie dagegen
nicht.
1) ScHWANTBg, Offa 4, S. 13.
II. Arntz, Zur Geschichte der Schrift 79
Als der alte Glaube zurückgeht, verlieren auch die Runen
ihre Daseinsgrundlage. Wo sie zur Wiedergabe unkultischer
Inhalte verwendet werden, wie in Teilen des späteren Deut¬
schen Reiches und bei den Angelsachsen, sterben sie im Wett¬
bewerb mit der Lateinschrift bald aus; wo sie kultisch blei¬
ben, werden sie mit den Resten des alten Heidentums verfolgt
und können immer seltener zu öffentlicher Anwendung ge¬
langen. Ihre Zeichen entstammen einer Gebrauchsschrift, und
dadurch wäre der Übergang zu einer solchen immer wieder
leicht zu vollziehen gewesen, konnte aber neben der übermäch¬
tigen Lateinschrift die Runen nur noch aus antiquarischem
Interesse bis in die Neuzeit retten.
Die Hällristningar stellen gewiß nicht die einzige Kult¬
schrift dar, sondern vielen Völkern muß — unabhängig von
ihrer Kulturstufe — eine Gebrauchsschrift überflüssig erschei¬
nen. Der Gesichtspunkt, eine Schrift nach der Vollkommen¬
heit, mit der sie bestimmte sprachliche Ausdrücke mitzuteilen
vermag, zu bewerten und einzustufen, ist daher nur in be¬
grenztem Maß anwendungsfähig. Noch schwerer ist es. Wert¬
normen für die Kultschrift zu finden ; denn ihr kommt neben
Zauberwort und Zauberhandlung nur eine ergänzende Rolle
zu. Am vollkommensten erscheint uns die Kultschrift, die den
Glaubensvorstellungen eines Volkes den wirksamsten Aus¬
druck zu geben vermag.
II. Zur Entwicklung der Gebrauehsschrilt
Ein Volk kann sich selbst eine Schrift schaffen; es kann
zur Schriftschöpfung von einem andern Volk angeregt werden
(Nacherfindung) oder eine vorhandene Schrift entlehnen
(Übernahme). Nacherfindung und Übernahme sind weit häu¬
figer als Neuschöpfung.
Die erste Stufe einer eigengeschaffenen Schrift ist die
Ideenschrift (auch Inhaltsschrift). In ihr entspricht nicht
jedem sprachlichen Ausdruck ein schriftlicher, sondern ganze
Bedeutungsinhalte sind durch bestimmte Schriftbilder wieder¬
gegeben. Aus ihrer Zusammenordnung entsteht auf der älte-
6 •
80 H. Arntz, Zur Geschichte der Schrift
sten Stufe ein einziges Bild: Bildschrift, noch keine Bilder¬
schrift, und vom Kunstwerk graphischer Art oft schwer zu
scheiden. Eine solche Schrift kann man nicht lesen, nur deu¬
ten. Sie ist daher übersprachHch : jeder Betrachter kann sie
in seine Sprache umsetzen.
Allmählich wird der Gemäldecharakter zugunsten einer
deutlicheren Unterscheidung aufgegeben, und schließlich wird
die Wortbildschrift erreicht, in der nicht mehr jeder Gedanke,
sondern jedes Wort sein eignes Zeichen besitzt. Der wesent¬
liche Fortschritt ist die Angleichung der schriftlichen Form
an den sprachlichen Ausdruck. Die Möglichkeiten der Ausdeu¬
tung sind eingeengt, die Schrift kann gelesen werden und
eignet sich nun auch zur Verwendung in Politik, Wehrmacht
und Wirtschaft einer höheren Zivilisationsstufe.
Der gedankliche Schritt liegt dort, wo die Schrift von der
Bezeichnung des Sachverhalts übergeht zur Bezeichnung des
sprachlichen Ausdrucks für diesen Sachverhalt. Wir müssen
dabei bedenken, daß wir eine alte Bilderschrift betrachten
und d e u t e n , daß sie aber von denen, für die sie bestimmt war,
gelesen und in sprachliche Komplexe umgesetzt wurde.
Für uns ist äg. ^ ein Käfer, für den Ägypter die Lautgruppe
h-p-r, für uns chin. ein Mund mit ausströmendem Atem,
für den Chinesen die Lautgruppe yen^ usw. Das von uns fest¬
gestellte Band zwischen Form und Bedeutung bestand für
diese Sprecher zumeist nicht mehr (sog. Phonetisierung, Jen¬
sen S. 33), sondern das Bild hing an einem bestimmten Laut¬
komplex. Es konnte sich daher immer mehr von einem Abbild
des ursprünglichen Gegenstandes oder Wesens entfernen und
vereinfacht und abgewandelt werden.
Auf dieser Stufe konnte das Bild für alle gleichen Laut¬
gruppen eintreten, ohne daß irgendein Zusammenhang mit der
bildhaften Grundlage bestand. Bekannt ist das Vorgehen des
Ägyptischen, das unter Außerachtlassung von Vokalen, Halb¬
vokalen und Kehlkopflauten alle Worte mit gleichen Konso¬
nanten mit dem gleichen Bild schreibt. Ebenso ist bekannt,
daß im Ägyptischen durch diese Beschränkung auf starke
H. Abntz, Zur Geschichte der Schrift 81
Konsonanten und durch bestimmte Lautgesetze einlautige
Wörter entstanden sind, d. h. die Wortzeichen wurden zu
Buchstabenzeichen. Sobald die Stufe der Wortbildschrift er¬
reicht ist, vollzieht sich alles weitere gesetzmäßig.
Eine Wortschrift ist gemäß für Sprachen, die ihre Wörter
nicht verändern. Das Chinesische, dem Deklination und Kon¬
jugation fremd sind, hat sie deshalb als einzige Sprache durch
die Jahrtausende bis in die Gegenwart bewahrt und schleppt
sich mit etwa 50000 Zeichen. Für unsere analytischen und
flektierenden Sprachen ist sie unzureichend; sie könnte nur
eine Wurzelschrift sein, aber alle Feinheiten der Beugung,
Zusammensetzung und der sonstigen veränderlichen Formen
nicht wiedergeben. Flektierende Sprachen drängen über die
Wortschrift hinaus zu feineren Unterscheidungsmöglichkeiten ;
sie schaffen besondere Zeichen für Endungen, Prä- und Suf¬
fixe und streben zu einer Einzellautschrift hin.
Die Laute treten aber in der Sprache nicht als kleinste
Einheiten hervor, und es ist mit Recht betont worden, daß
die Einzellautschrift nicht auf dem Weg des phonetischen Ex¬
periments aus der Wortschrift gewonnen sein kann, sondern
daß das Ägyptische durch den oben geschilderten Vorgang
diesen Weg einmalig vollzogen hat — wenn auch erst andere
Völker die praktische Anwendung vorgenommen haben. Denn
diese Anwendung — das vokallose semitische Alphabet — ist
so unvollkommen, daß sein Erfinder ,, unter dem imponieren¬
den und darum hemmenden Einfluß von etwas schon Vor¬
handenem"^) gestanden haben muß. Wir stimmen gegen
H. Bauer*) mit den neueren Bearbeitern darin überein, daß
alle Buchstabenschriften unseres Kulturkreises auf die Hiero¬
glyphen, und zwar als Nacherfindungen, zurückgehen.
Wenn aber Bauer (a. a. 0., S. 12f.) meint, das Prinzip der
Konsonantenschrift sei ,,an sich etwas so Seltsames und Wun¬
derbares, und es mußten dabei so viele merkwürdige Um¬
stände zusammentreffen, daß es nicht gut zweimal entstanden
1) H. ScEiLFBB, Die Vokallosigkeit des phönizischen Alphabets. In:
Ztschr. f. ägypt. Sprache 52,1915, S. 95—98.
2) Der Ursprung des Alphabets. In: Der Alte Orient 36, 1937.
Zdtaohrift d. DMO Bd. »7 (Seao Folge Bd. S!) fi
82 H. Abntz, Zur Geschichte der Schrift
sein kann", möchten wir ihm nur hedingt zupflichten. Jede
Sprache besitzt in den Interjektionen, aber auch in Präfixen
wie dem griechischen Augment e- oder der Negation a-, in Prä¬
positionen wie den lateinischen a, de, griech. en usw. Wort¬
körper, die ein- oder zweilautig sind. Die Möglichkeit, z. B.
ea ,,sie" mit den Zeichen ,,aus" und ,,von" zu schreiben, be¬
stand also genau so gut wie im äg. m-s-d-r „Ohr" = ,, Wedel"
(m-s) und ,,Korb" (d-r). Die Erkenntnis, daß z. B. lat. deinde
mit den Wortzeichen für de und in zu schreiben ist, hätte auf
der gleichen Linie gelegen, und so können auch andere Spra¬
chen zu — allerdings vokalbezeichnenden — Silben- und Ein-
zellautschriften gekommen sein.
Die Silbenschrift stellt dabei keine notwendige Zwischen¬
stufe dar. Sie ist kennzeichnend für Sprachen mit bedeut ungs¬
vollen Vokalen und offenen Silben. Der Anstoß zu ihr ist in
jeder Sprache ohne weiteres dadurch gegeben, daß einsilbige
Wörter vorhanden sind und mehrsilbige aus ihnen zusammen¬
gestellt werden können; vor allem sind die Präfixe, die man
zu den Wortzeichen hinzufügen muß, meist einsilbig. In
Sprachen, die wie das Chinesische aus einsilbigen Wörtern be¬
stehen, fallen Wort- und Silbenschrift zusammen.
K. Sethe ^) sah, wie ich aus Friedrich entnehme, in der
Silbenschrift eine Sackgasse, aus der kein Weg zur reinen Buch¬
stabenschrift führt. Auch das ist u. E. nicht erwiesen. Es mu߬
ten nur genügend einlautige Silben vorhanden sein. Auch
dabei mußten die Vokale stark in den Vordergrund treten, und
so wird die ursprüngliche Vokallosigkeit der Schriften Palästi¬
nas und Syriens immer das sicherste Kennzeichen ihrer Ab¬
hängigkeit von den Hieroglyphen bleiben.
ni. Ideenschrift und Lautschrift
A. Schmitt vertritt die Ansicht, die Kluft zwischen der
Ideenschrift, die ganze Gedankenkomplexe bezeichnet, und
der Wortschrift, die einzelne Sprachformen wiedergibt, sei so
tief, daß sich der Übergang auf der Erde nur einmal vollzogen
1) Vom Bilde zum Buchstaben, 1939, S. 44.
11. Abntz, Zur Geschichte der Schrift 83
haben könne. Als bezeichnend führt er das Erlebnis des
tscherokesischen Schriftschöpfers an. Als dieser die Laut¬
schrift der Weißen nachahmen wollte, suchten seine Stammes¬
genossen ihn ,,von seinem Vorhaben abzubringen, denn das
Vermögen, mit sichtbaren Zeichen zu sprechen, das Ge¬
heimnis des , redenden Blattes', hätte Gott dem weißen
Mann vorbehalten; und als dem Erfinder sein Unternehmen
nach wenigen Jahren doch gelang, da fehlte wenig daran, daß
er wegen Zauberei umgebracht worden wäre".
Wir halten das Beispiel für nichtssagend. Diese Benutzer
einer Ideenschrift von urzeitlichem Gepräge sehen sich an¬
gesichts der modernen englischen Schrift vor eine Kluft ge¬
stellt, die ihnen unüberbrückbar scheinen muß. Es ist damit
aber nicht bewiesen, daß sie in eigener Entwicklung diese
Kluft nicht zu überbrücken vermocht hätten.
Freilich sind viele Völker über die Ideenschrift nicht hinaus¬
gekommen. Diese Völker verspüren augenscheinlich, ganz un¬
abhängig von ihrer Kulturhöhe, keine Notwendigkeit der
Weiterbildung. Eine Kultschrift braucht den Übergang zu
Wortzeichen überhaupt nicht zu vollziehen, und auch in der
Gebrauchsschrift ist er erst auf einer gewissen Zivilisations¬
stufe nahegelegt (oben S. 69).
Schmitt begründet seine Ansicht damit, daß ,,die Wort¬
lautschrift für das Auge zeichnet, was der Mund spricht und
was eigentlich nur mit dem Ohr wahrgenommen werden kann"
(Untersuchungen, S. 3 und 18). Es wird weiter gefolgert, ein sol¬
cher, zunächst geradezu widersinnig erscheinender Gedanke
habe nur in bewußter Entdeckung durch einen schöpferischen
Geist zur Ausführung gebracht werden können. „Eine Wort¬
lautschrift entsteht nur, wo ein erfinderischer Geist von sich
aus dies neue Ziel in schöpferischem Einfall erfaßt, entsteht
durch die bewußte Bemühung, einen Weg zu diesem neuen
Ziel zu finden."
Diese Einstellung hat Schmitt aus seiner eingehenden und
erfolgreichen Beschäftigung mit neuzeitlichen Schriftschöp¬
fungen gewonnen. Denn sie alle sind bewußte Nacherfin¬
dungen nach dem Vorbild einer vorhandenen Lautschrift.
Ii*
84 H. Abntz, Zur Geschichte der Schrift
Schmitt selber gibt für die alaskischen Silben- und Schall¬
zeichen den Einfluß der lateinischen Schrift zu ; teilweise liegen
sogar Lateinbuchstaben zugrunde. Wenn bei ihrem „Erfinder"
Neck Bild- und Strichschrift mit einem scharfen Bruch über¬
gangslos nebeneinanderstehen, darf man darin, wie Friedrich
mit Recht hervorgehoben hat, den Einfluß seines der Latein¬
schrift kundigen Sohnes Hermann sehen (a. a. O., S. 386, 393,
398, 410f.).
SiKWAYf, der Erfinder der tscherokesischen Schrift, besitzt
ein englisches Abcbuch. Der Bamumkönig Ndzoya faßt
unter dem unmittelbaren Einfluß der europäischen Schrift den
Entschluß, für seine Sprache etwas Gleichwertiges zu schaffen.
Er würde sogar einfach die europäischen Schriftzeichen über¬
nommen haben, wäre er nicht des Glaubens gewesen, sein
Negerdialekt ließe sich mit ihnen nicht schreiben. Der Erfinder
der Vai-Schrift hatte schon als Knabe bei einem weißen Missio¬
nar, wenn auch recht mangelhaft, lesen gelernt, usw.^).
Die Wichtigkeit der verfolgbaren Schriftentstehungen aus
neuerer Zeit ist unbestritten. Da sie aber alle Nacherfindungen sind, d. h. bei ihnen allen die europäische Buchstabenschrift
Pate gestanden hat, lassen sich aus ihnen keine gültigen Ge¬
setze für den Übergang der Ideen- zur Lautschrift gewinnen.
Nach unserer Ansicht schafft die Ideenschrift innerhalb
ihrer Entwicklung selbst die Übergänge zur Lautschrift Für
die beiden notwendigen Überlegungen können wir teilweise
Schmitt's eigene Gedankengänge verwerten.
Auf der ursprünglichsten Stufe der Ideenschrift ist die Wahl
des Bildes dem Schreiber freigestellt. Bei allen alten Völkern
ist aber Schriftkenntnis nur im Besitz von wenigen, und die
Aufzeichnungen werden meist nur von einem einzigen — dem
1) Vgl. Schmitt, Untersuchungen, S. 89, 97, 99, 135, 139f., 143, be¬
sonders S. 126.
2) Nicht nur die Ideenschrift. Sogar in der Gegenstandsschrift afri¬
kanischer Stämme hat der Gegenstand häufig die Bedeutung eines gleich¬
klingenden [abstrakten] Worts (Jbnsbn, Schrift, S. 16f.); d. b. auch in ihr ist bereits ,,für das Auge bezeichnet, was der Mund spricht, und was eigentlich nur mit dem Ohr wahrgenommen werden kann".
H. Arntz, Zur Geschichte der Schrift 85
Priester — niedergeschrieben. Dieser Schreiber wird für die
Wiederkehr gleicher Begriffe dieselben Zeichen wählen ; es wird
also ein bestimmter Mensch, ein bestimmter Baum, ein be¬
stimmter Gegenstand in seinen verschiedenen Aufzeichnungen
gleich wiedergegeben sein. Und diese einmal ausgebildete Form
der Wiedergabe wird verbindlich für die Schreiberschule.
Zumal in einer Bilderschrift wird man an der einmal gefun¬
denen Form des Bildes, die doch jedesmal eine künstlerische
Leistung darstellt, für einen bestimmten Inhalt festhalten. 1st
aber erst einmal ein Bild fest geworden, wird es jeder, der das
Schreiben neu gelernt, möglichst getreu wieder abzeichnen.
Auch für den Leser (der vielfach mit dem Schreibenden eine
Person ist) bedeutet die Wiederkehr gleicher Bilder eine wesent¬
liche Erleichterung.
Diese natürliche Entwicklung hat zwei Folgen. Sie macht
es möglich. Abstrakte und voneinander nur wenig unterschie¬
dene Begriffe zu bezeichnen. Durch leichte Abwandlung von
Zeichen ließ sich zeigen, ob in dem einzelnen Fall z. B. das
,,Herz" als Organ (konkret) oder das Herz als Sitz des „Lebens"
(abstrakt), ein „Berg" als eine bestimmte Anhöhe (konkret)
oder als Begriff ,,hoch" (abstrakt), eine ,, Sonne" als der sicht¬
bare Himmelskörper (konkret) oder als „Licht" (abstrakt) ge¬
meint war.
1st aber eine Ideenschrift erst einmal zur Bezeichnung von
Abstrakten vorgeschritten, dann stellt sie bereits „für das
Auge dar, was der Mund spricht und was eigentlich nur mit
dem Ohr wahrgenommen werden kann". Auch einander sehr
ähnliche Begriffe — Baumarten, Menschen in ihren Tätigkei¬
ten, Tiergattungen u. dgl. — sind durch diese Vereinbarung
unter den wenigen Schriftausübenden leicht voneinander zu
scheiden. Das Bild meint, kurz gesagt, nicht mehr eine Bedeu¬
tungsgruppe, sondern einen Einzelbegriff (das heißt aber: ein
bestimmtes Wort) aus dieser Gruppe.
Zur Verdeutlichung genügt für den Kenner alter Schriften
wieder ein Hinweis auf das Altägyptische (wo der Vorgang
ja von dem in einer Ideenschrift nicht verschieden ist).
86 H. Abntz, Zur Geschichte der Schrift
ist das „Auge", ,, sehen", „weinen". meint
den „Himmel", sind „Sterne", O ist die „Sonne". Der
Stern unter dem Himmel ("T^) meint nun die „Nacht", von
der Sonne ausgehende Lichtbündel bedeuten „strahlen",
-■c»^ ist der ,,Mond"; ein Stern darunter (^*^) bedeutet den
„Monat". Ci^ meint einen „Berg", eine darüber aufgehende
Sonne (cOj) den ,, Horizont". Die Unterscheidung von Ab¬
strakten, und damit der Ausdruck nur dem Ohr wahrnehm¬
barer Dinge, bereitet also keine Schwierigkeiten.
Daß die Unterscheidung von verwandten Arten nicht
schwieriger ist, läßt sich am einzigen Beispiel des ,, Menschen"
zeigen. In hockender Stellung ist er ein ,,Mann"; führt er die
Finger zum Mund, so ,,ißt" oder ,, spricht" er. Läßt diese Figur die Beine hängen, so ist es ein ,, kleines Kind", das am Finger
lutscht. Sitzt sie auf einem Sessel, so handelt es sich um einen
„Vornehmen". Erhebt sie stehend beide Arme nach vorn,
meint es ,, anrufen"; hebt sie sie links und rechts des Kopfes, kann es „hoch" und „jauchzen" bedeuten. Tut sie das gleiche sitzend, so ist es eine ,, unendlich große Zahl" (der Rechner,
der vor Schreck über diese Summe die Arme hochwirft) ; trägt
sie sitzend einen Krug auf dem Kopf, ist es ,, beladen",
„bauen" ; liegt sie mit den Armen voraus, so meint es ,, fallen"
usw. usw.
Damit scheint nur noch ungeklärt, wieso schließlich nicht
nur jeder Begriff, sondern jedes Wort der Sprache zu
schriftlichem Ausdruck gelangt ist. Aber dieses Bedenken gibt
uns nur unsere lebende Sprache ein. Die Sprachen, mit denen
wir im wesentlichen zu rechnen haben, waren nicht analytisch,
sondern synthetisch, d. h. in ihren Worten waren die Partikeln,
Präpositionen, Artikel, Konjunktionen usw. enthalten, die wir
heute in aufgelöster Darstellung zum Ausdruck bringen (vgl.
z. B. lat. rürl = auf dem Lande; arab. qutila — er wurde getötet;
griech. hippö = die beiden Pferde; Akk. c. Inf.- Konstruktion
statt ganzer Nebensätze, Ablativus absolutus usw.).
H. Abntz, Zur Geschichte der Schrift 87
Sehen wir uns aus dieser Überlegung den von Schmitt
(a. 0., S. 7) selber angeführten Vers an:
Mit dem Pfeil, dem Bogen
Durch Gebirg und Tal
Kommt der Schütz gezogen
Früh im Morgenstrahl.
Durch die Kursivschrift ist bereits angedeutet, was alles
in einer ,, synthetischen" Sprache wegfallen würde, und es
bleibt genau das stehen, was nach Schmitt ein Kind mit leid¬
licher zeichnerischer Begabung zum Ausdruck bringen würde,
um diesen Vers in reiner Ideenschrift wiederzugeben:
1. ein Mensch, 2. [in seiner Hand einen] Pfeil, 3. [mit
einem] Bogen, 4. [schreitend auf einer] Wellenlinie (= Berg
und Tal), 5. [über der Wellenlinie ein] Halbkreis mit Strahlen
(= aufgehende Sonne). Es wäre also der Wortlaut des Verses
in schlichter Ideenschrift bereits ausgedrückt.
Dies ist aber kein Einzelfall, sondern gerade die überwie¬
gend konkreten Inhalte, die in urzeitlichen Sprachen zum Aus¬
druck gebracht werden mußten, führten immer wieder zu
einem Zusammenfall von Ideenschrift und Wortlautschrift ^).
Weil also in den meisten Fällen jedes Wort der sprachlichen
Wiedergabe durch ein Schriftbild dargestellt war, wurde das
Bild auf das Wort bezogen, dem es entsprach, und deshalb
wurde das Wort schließlich auch überall dort durch das Bild
wiedergegeben, wo es eines bildhaften Ausdrucks, um verständ¬
lich zu sein, nicht bedurft hätte.
Selbst das ,,neue Ziel" war also in der Schrift bereits er¬
reicht, ehe es als Ziel den Menschen überhaupt bewußt ge¬
worden war. Schmitt's These (Erfindung der Schrift, 1939,
1) Der Ausdruclc ,, Wortlautschrift" ist, wie auch Schmitt anmerkt, zweideutig. Er kann aussagen, daß die Schrift bereits die erste Stufe der
Lautschrift erreicht hat (Wort-Lautschrift), oder daß jedem sprach¬
lichen Ausdruck ein schriftlicher entspricht (Wortlaut-Schrift). Da aber jede eigengeschaftene Lautschrift zunächst eine Wortschrift ist, und da die Bilderschrift sich dadurch, daß sie gelesen wird, dem Wortlaut immer mehr angleicht, treffen schließlich Wortlaut-Schrift und Wort-Laut¬
schrift auf dem Weg der Ideenschrift zur Lautschrift zusammen.
88 H. Ahntz, Zur Geschichte der Schrift
S. 7), daß ,,an irgendeiner Stelle innerhalb dieses Gebietes
[vom Nil bis zum Gelben Meer] einmal, und wahrscheinlich
nur dieses einzige Mal in der ganzen menschlichen Geschichte
überhaupt, der Gedanke einer Wortlautschrift aus schöpferi¬
scher Urerfindung erfaßt und verwirklicht worden" sei, ver¬
mögen wir daher nicht zu bejahen.
Da Ideenschriften allenthalben auf der Erde vorkommen
und sichtlich unabhängig voneinander entstanden sind, kann
der Übergang an verschiedenen Stellen und wiederum unab¬
hängig, also auch zu verschiedenen Zeiten, vollzogen sein. Daß
gerade das genannte Gebiet so reich an Lautschriften ist, er¬
gibt sich notwendig aus der Zivilisationsstufe der Ägypter,
Sumerer, Assyro-Babylonier, Chinesen usw. Die innigen Han¬
delsbeziehungen zwischen diesen Völkern haben anderseits
auch zu gegenseitiger Schriftbeeinflussung geführt und stok-
kende Entwicklungen vorwärtsgetrieben.
über das Ica-Suffix im Sinhalesisclieii und die
einfieimisclie Genuslehre
Wilhelm Geiobb zum Geburtstag, 21. Juli 1942
Von Herbert Günther, Wien
Innerhalb des Mittelindoarischen hat das Aa-Suffix eine¬
außerordentliche Verbreitung gefunden, indem es an Nomina
und Adjektiva treten kann, ohne die Bedeutung des Worte»
irgendwie zu verändern^). Auch im Sinhalesischen hat es zu
einer gewissen Zeit eine nicht unbedeutende Rolle gespielt,
und seine Wirkung läßt sich noch heute an der Flexion nach¬
weisen*). Jedoch ist dieses Suffix nicht immer deutlich erkenn-
1) Vgl. z. B. R. Pischel, Grammatik der Präkrit-Sprachen, § 589.
In den Ausführungen habe ich die Zitate ausführlich gebracht, da¬
mit durch den ganzen Zusammenhang die Formen ersichtlich werden.
Insbesondere wurde das KSil herangezogen, weil es nicht nur an dich¬
terischer Schönheit an der Spitze der sinhalesischen Literatur steht,,
sondern weil es in dem reinsten Sinhalesisch ohne Lehnworte aus dem
Tamil geschrieben ist. Erst in der späteren mittelalterlichen Dichtung,
die mehr auf Ausschmückung des Stiles als auf Reinheit der Sprache-
schaute, werden Tamillehnworte gebraucht, z. B. MayS 136 tö4u ,, Ohr-
schmuck", töppuva KovS 180 ,,Hain", parappuva KovS 192 ,, Ober¬
fläche" und andere mehr. Die Abkürzungen sind, wie folgt:
DhAGp = Dhampiyä-Atuvä-Gätapadaya, ed. D. B. Jatatilaka, 1933_
HamsS — Hamsa-Sandei^aya, ed. ^bI Dhabmäbäma, 1902.
KovS = Kovul (Kökila)-SandeÄaya, ed. W. F. Gunawabdhaka, 1924 ff.
KSekh = Kav-S6kara (Kä-vya-Sekharaya), ed. ÖbI Dhabmäbäma 1935_
KSil = Kav-Silu-Mina, ed. Siddhattha Theba, 1899.
Kus = Kusa-Jätaka-Kävyaya, ed. F. E. Kübe, 1936.
MayS = MayOra-SandeSaya, ed. F. W. Oohawabdhaita, 1928.
Muv = Muvadev-dävata, ed. SbI SumaI^oala, 1895.
Sas = Sasa-dävata, ed. Dhammapäla, 1934.
TisS = Tisara-Sandeäaya, ed. D. B. Jatatilaka, 1935.
2) Wilhblm Gbioeb, A Grammar of the Sinhalese Language, §§ 91, 4,.
Note; 97.