KOMMUNIKATIVE GRAMMATIK DES CHINESISCHEN
UND IHRE DIDAKTISCHE VERMITTLUNG
von Cheng Tien-mu, Frankfurt/M.
1. Theoretische Ansätze: Semiotisch betrachtet, weist jede menschhche Spra¬
che, so auch die chinesische Sprache, vier Aspekte auf, nämlich Syntaktik, Seman¬
tik, Sigmatik und Pragmatik; sprachphilosophisch betrachtet, steht die menschhche
Sprache aufgmnd ihrer fundamentalen Funktion als zwischenmenschliches Kom¬
munikations- und Produktionsmittel stets mit dem Element eines bestimmten Den¬
kens und mit dem einer bestimmten Wirklichkeit in untrennbarem Zusammenhang.
Diese sprachlichen Aspekte und die mit der Sprache in enger Verbindung stehenden
Elemente sowie die Relationen, die zwischen ihnen bestehen, bilden zusammen das
System jeder menschhchen Sprache, folglich auch der chinesischen.
Der Disziphn, die sich mit diesem Sprachsystem nach dem Prinzip der „Einheit
der Gegensätze" systematisch befaßt, habe ich 1975 den Namen „Kommunikative
Grammatik" gegeben und diesen seitdem bei der Vermittlung des Chinesischen und
dessen Grammatik gebraucht. Der Modifikator ,Jcommunikativ" soll in dem Begriff
der „kommunikativen Grammatik" folgendes zum Ausdruck bringen: Einmal die
„differentielle Kommunikation", d.h. die Zusammenhänge verschiedenartiger
Aspekte und Elemente und die Zusammenwirkungen unterschiedlicher Relationen
zwischen diesen Aspekten und Elementen, und zum anderen die ,, differenzierende Kommunikation", d.h. die sprach- und literaturwissenschaftliche sowie erkenntnis¬
theoretische und methodologische Beschäftigung mit der oben erwähnten „differen-
tiellen Kommunikation".
2. Methodische Vermittlung: Anhand von den gemeinsamen Erfahrungen des
Lehrens und des Lernens, die wir durch Anwendung und Reflexion der oben er¬
wähnten theoretischen Ansätze beim programmatischen Studium der chinesischen
Sprache und Literatur gesammelt haben, haben wir unsere Kenntnisse bzw. Er¬
kenntnisse der chinesischen Sprache und deren Grammatik erweitert und vertieft,
und aufgmnd dieser Erkenntnisse das jeweilige besondere Problem, oder aus der
Sicht einer ,Jcommunikativen Grammatik" der „Einheit der Gegensätze" betrach¬
tet, den jeweiligen spezifischen Widerspruch der „differentiellen" bzw. der „diffe¬
renzierenden" Kommunikation des Chinesischen lokalisiert und gleichzeitig die
diesen Widerspmch behandelnde Methode entwickelt und kritisch in Gebrauch
genommen. Unter dem kommunikativ-grammatikalischen Begriff „Widerspruch"
soll sämtlicher Gegensatz verstanden werden, der im sprachstrukturellen und
-funktionellen Prozeß dialektische Einheit bildet.
2.1 Logisch und mengentheoretisch betrachtet, besteht der Widerspruch der
,, differentiellen Kommunikation" innerhalb des syntaktischen Aspektes des Chi¬
nesischen, oder der Widerspruch der ,, syntaktischen .differentiellen Kommunika-
XX. Deutscher Orientalistentag 1977 in Erlangen
410 Cheng Tien-mu
tion'" des Chinesischen, zwisehen zwei jeweils quantitativ untersehiedliehen Grö¬
ßen, nämheh zwisehen „Subjekt" (,,objektiver Dialektik") und „Prädikat" (,,sub- jektiver Dialektik"), zwisehen ,,Formatoren" und „Informatoren" und zwisehen
dem einen und dem anderen Teilsätze, die einen zusammengesetzten Satz bilden.
Methoden zur Behandlung des Widerspruchs der „syntaktischen ,differentiellen
Kommunikation' " des Chinesischen mit Hilfe entsprechender logischer Symbole, die hier jedoeh nieht ausführlieh erklärt werden können, sind u.a.: „Eins teilt sich
in zwei.", Stellungs- und Funktionsbestimmung kommunikativer Elemente im Satz
und Behandlung der Logik innerhalb der jeweils zusammengesetzten Sätze.
2.2 Sprachphilosophiseh und zuordnungsfunktional betrachtet, befindet sich
der Widerspmch der „semantischen bzw. sigmatischen ,differentiellen Kommunika¬
tion'" (des Chinesischen) in Wörtern und Begriffen einerseits und in ihren Bedeu¬
tungen und Relationen zu dem, was sie jeweils bezeichnen, andererseits. Methoden
zur Behandlung dieses Widerspruchs sind u.a.: Feststellung der „Theorie des Wort¬
gebrauchs"; Analyse der , Injektion" bzw. der „Suijektion" im sigmatischen Zu¬
ordnungsprozeß, Behandlung der semantischen Kategorie der „Adäquatheit" mit
der Untersuchung der Relation (R), wie R („x", x), in der ,,x" Begriff bzw. Aus¬
sage und X Gegenstand bzw. Sachverhalt symbolisiert.
2.3 Von dem pragmatischen Aspekt der durch Sprache vermittelten Abbild¬
relation ausgehend ist festzustellen, daß die hauptsächliche Seite des Widerspruchs
der „pragmatischen ,differenzierenden Kommunikation'", d.h. der dem Chinesi¬
schen innewohnenden pragmatischen Behandlung der ihm entsprechenden „syntak¬
tischen, semantischen und sigmatischen ,differentiellen Kommunikation'", in der
Bestimmung der jeweiligen pragmatischen Symbol-, Symptom-, Signal- ur 1 Bewer-
tungs- bzw. Organisationsfunktion des Chinesischen in Wörtern, Begriffen und Aus¬
sagen liegt. Methoden zur Behandlung dieses Widerspruchs und seiner hauptsächli¬
chen Seite sind u.a.: Analyse des Zusammenhangs zwisehen dem Vor- und Nach¬
bereich der Funktion des Chinesischen und Feststellung der Stelhgkeit der pragma¬
tischen Kategorie, die in diesem Zusammenhang vorkommt; Analyse der ,,Satz-
Askriptoren" im Chinesischen dureh Charakterisierung ihrer zugeordneten pragma¬
tischen Funktionen; Analyse des Modus des jeweiligen pragmatischen „Wortaskrip-
tors" bzw. „Begriffsaskriptors" in diesen ,,Satz-Askriptoren" mit Berücksichtigung
und Reflexion der Möglichkeit des dimensionalen Übergangs dieses Wort- bzw.
Begriffsaskriptors.
2.4 Die ,Jcommunikativ-didaktisehen" (d.h. „dialektischen lern- und lehrhaf¬
ten") Vermittlungsmethoden der kommunikativ-grammatikaliseh-theoretisehen und
kommunikativ-grammatikalisch-methodischen Reflexion bzw. Auseinandersetzung
mit der „syntaktischen, semantischen und sigmatischen ,differentiellen Kommuni¬
kation'", insbesondere mit der Theorie und Methode der dem Chinesischen inne¬
wohnenden „pragmatischen ,differenzierenden Kommunikation'", bestehen, kurz
zusammengefaßt, in der Analyse und Behandlung derjenigen Faktoren und ihrer
funktionalen Wechselwirkungen, die im Chinesischen jeweils vorkommen. Sie sind
u.a.: syntaktische, semantische und sigmatische Besonderheiten, vor allem seman¬
tische Merkmale im Zusammenhang mit den jeweils gebrauchten pragmatischen
Kategorien und Gründe dazu ; angewendete Formatoren in einem bestimmten „Satz-
Askriptor", insbesondere die Problematik des Formators der „Verneinung"; Theorie
Kommunikative Grammatik des Chinesischen und ihre didaktische Vermittlung 411
der zwei Aspekte kommunikativer Erkenntnis; logische Zusammenhänge oder logi¬
sche Widersprüche.
Zu der oben erwähnten theoretischen und methodischen Reflexion bzw. Ausein¬
andersetzung kommunikativ-grammatikalischer Prägung müßte, wissenschaftstheo¬
retisch betrachtet, eine ständige Reflexion der „erkenntnistheoretischen und me¬
thodologischen .differentieüen' und ,differenzierenden' Kommunikation" des jewei¬
ligen Kommunikators gehören, der sich mit chinesischer Sprache und Literatur
befaßt.
3. Konsequenzen: Viele grundsätzliche Probleme der einzel wissenschafthchen Disziplinen, so auch der Disziplin „Sinologie", erweisen sich bis jetzt als semanti¬
sche. Mit Hilfe einer weiterentwickelten ,Jcommunikativen Grammatik" u.a. wäre
es möglich, diese Probleme oder „Scheinfragen" (Neupositivismus) zu erkennen,
Probleme wie etwa: Das Problem der „transsozietären Erkenntnis" in der For¬
schung der chinesischen Geschichte; das des „Nichtverstehenkönnens" der Entwick¬
lung in China; das der „Relativitätstheorie der Sprache" wie z.B. die These, daß
Chinesen wegen der syntaktischen Besonderheit ihrer „Schriftsprache" anders als
Europäer denken.
DIE ANFÄNGE DES EXISTENTIALISMUS IN OSTASIEN
von Alfons Dufey, München
Der Begriff Existentialismus wird hier im weitesten Sinne gebraucht, er umfaßt
die dialektische Theologie Kierkegaards und Barths, die Existenzphilosophie von
Jaspers und Heidegger sowie auch den Existentialismus im engeren Sinne bei Sartre,
Merleau-Ponty und Abbagnano. Im Gegensatz zum Marxismus, der in Ostasien den
größten philosophischen und politischen Erfolg verzeichnen konnte, vertritt er
keine optimistische Theorie eines ständigen Fortschreitens der Geschichte zum Bes¬
seren. Wir fmden seine früheste und intensivste Rezeption in Japan, dem größten
nichtsozialistischen Staat Ostasiens.
Für die meisten existenziahstischen Grundwerke wie z.B. „Sein und Zeit", war
das Japanische die Fremdsprache, in die sie als erstes übersetzt wurden. Neben der
Sprachbarriere und der Tatsache, daß es Übersetzungen aus dem Japanischen in
Westsprachen allenfalls von Nishida in ausreichendem Umfang gibt, konnte es leider zu keinem Dialog mit den europäischen Existentialisten kommen.
Seine spektakuläre Ankunft in Japan vollzog sich etwa zehn Jahre nach dem
1. Weltkrieg als Reaktion auf die Hauptveröffentlichungen in Europa wie Karl
Jaspers' ,J*sychologie der Weltanschauungen" (jap. Sekaikan no shinrigaku) 1919, Martin Heideggers „Sein und Zeit" (Sonzai to jikan) 1927, Gabriel Marcels „Journal metaphysique" (Keijijogaku nikki) 1927 und Jaspers' ,,Philosophie" (Tetsugaku)
1932. Als Resonanz in Japan finden wir die folgenden Namen und Titel: Watsuji
Tetsurö „Rinrigaku" (Ethik) 1931, Kuki Shüzö ,,Jitsuzon no tetsugaku" (Philoso¬
phie der Existenz) 1933 und ,J'asukam ni okeru ningen no kenkyü" (Studien zum
Menschenbüd bei Pascal) des Heidegger-Schülers Miki Kiyoshi. Diese und weitere
kreative Höhepunkte bei Tanabe Hajime, Nishida Kitarö, Mutai Risaku und Kanekö
Takezö wurden jedoch schon wesentlich früher in Gestalt einer Nietzsche- und
Kierkegaard-Rezeption vorbereitet .
DIE PIONIERE DES EXISTENTIALISMUS IN DER MEIJI- UND TAISHÖ-PERIODE
1902 liefert Takayama Rinjirö (Chogyü) in seinen ,,Mudairoku" (Aufzeichnun¬
gen ohne Thema) eine erste existentielle Nietzsche-Interpretation. „So lange ich im
Berge steige, kann ich den Berg nicht sehen ... Damm müssen wir, wenn wir das
wahre Gesicht dieser Epoche erkennen wollen, die Gegenwart unbedingt überschrei¬
ten... das Ganze nur mit dem von Wissen und Moral unberührten Gemüt eines
Kindes überblicken". Er antizipiert damit die erkenntnistheoretische Gmndposition
und die antimoralistische Authentizitätsethik des Existentialismus und plädiert für
ein die Einmaligkeit des Individuums realisierendes Handeln jenseits allgemein
gefaßter sittlicher Normen.
Kaneko Umaji (Chikusui) stellt 1906 S^ren Kierkegaard in seiner als Pionieriei-
XX. Deutscher Orientalistentag 1977 in Erlangen