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Archiv "Labiler und stabiler Vorschaden in der gesetzlichen Unfallversicherung" (18.09.1980)

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Labiler und stabiler

Vorschaden in der gesetzlichen Unfallversicherung

Berndt Gramberg-Danielsen

Aus der Augenabteilung und

der Verkehrsmedizinisch-Ophthalmologischen Untersuchungsstelle (Chefarzt: Professor Dr. med. Berndt Gramberg-Danielsen)

des Allgemeinen Krankenhauses Othmarschen

Seit dem 28. Januar 18891) ist der Begriff des Vorschadens in der Rechtsprechung und in den Kom- mentaren hierzu geläufig, diskutiert und rechtlich eingeordnet. Weder die Reichsversicherungsordnung (RVO) noch die Judikatur noch die Kommentare haben jemals - soweit ersichtlich -zwischen stabilem und labilem Vorschaden unterschieden.

Es ist aber ein Unterschied, ob ein Organ definitiv verloren ist oder ob es nach dem Unfall durch welche Maßnahmen auch immer seine Funktion ganz oder teilweise zu- rückgewinnt. ln aller Regel wird als erster der Sachverständige mit dem Problem konfrontiert, und die Erfah- rung zeigt, daß er es in der einen oder anderen Weise löst und daß Verwaltung, geschweige denn So- zialgerichtsbarkeit mit dem labilen Vorschaden nicht mehr befaßt werden.

Vorschäden können bei der Schät- zung der Minderung der Erwerbsfä- higkeit (MdE) Schwierigkeiten berei- ten, ihre Einstufung kann mit zu den schwersten Problemen in der Begut- achtung gehören.

Im Folgenden sollen Vorschläge zur Lösung der Problematik insbeson- dere des labilen Vorschadens ge- macht werden. - Die aufgeführten Beispiele sind nicht konstruiert, son- dern aus der täglichen Praxis ge- nommen, und sie beziehen sich auf Schäden an paarigen Organen ganz allgemein, wenngleich die Proble-

matik hier im wesentlichen am Bei- spiel "Auge" aufgezeigt wird.

Unter den Begriff "Unfall'' im Sinne der RVO ist im Folgenden auch eine Berufskrankheit subsummiert - Es soll vor allem auf die Problematik, weniger auf die Schätzung der Min- derung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in Prozent eingegangen werden, hierzu sei auf andere Arbeiten ver- wiesen (Gramberg-Danielsen und Hülsmeyer, Hymmen, Sachsen- weger).

Ein Vorschaden ist rechtlich nur dann relevant, wenn zwischen Vor- und Unfallschaden beziehungswei- se Berufskrankheit eine Wechselbe- ziehung besteht.

.,.. Ein Vorschaden kann in einer

l> sensorischen,

[> motorischen oder

l> funktionellen Minderleistung be-

stehen.

Er kann

l> das verletzte,

[> das am Unfall beteiligte oder

l> beide Organe bzw. Gliedmaßen

betreffen.

.... Ein Folgeschaden ist ein Scha- den, der in mittelbarem oder unmit-

Aktuelle Medizin ÜBERSICHTSAUFSATZ

Die Rechtslage bei Vorschä- den in der gesetzlichen Unfall- versicherung ist unklar, Ent- scheidungen des Bundesso- zialgerichtes liegen insoweit nicht vor, dies gilt insbeson- dere für den labilen Vorscha- den, dessen Behebung keine

"wesentliche Änderung der

Unfallfolgen" ist. Es wird die Auffassung vertreten, daß Än- derungen der Vorschäden auch zu Änderungen der Ren- te berechtigen.

telbarem Zusammenhang mit dem Unfallschaden steht.

.,.. Ein Nachschaden ist unfall- fremd.

Der Folgeschaden kann die MdE des Unfallschadens beeinflussen, der Nachschaden allenfalls den An- spruch auf Pflege gemäߧ 558 RVO. Beispiel: Verlust des ersten Auges durch Privatunfall, Verlust des zwei- ten Auges durch Arbeitsunfall: MdE 100 Prozent + Pflege.

Beispiel: Verlust des ersten Auges durch Arbeitsunfall (MdE 25 Pro- zent), Verlust des zweiten Auges durch Privatunfall: Keine Änderung der MdE, Gewährung von Pflege.

Beispiel: Verlust des ersten Auges durch Arbeitsunfall, Verlust des zweiten Auges als Folgeschaden: MdE 100 Prozent+ Pflege.

Beispiel: Der erste Unfall betrifft das rechte Bein, der zweite Unfall das rechte Auge. Der erste Unfall ist kein zu bewertender Vorschaden für den zweiten.

Der Nachschaden, der für die MdE des Unfallschadens (gegebenenfalls inklusive dessen Vorschaden) irrele- vant ist, wird inklusive des Unfall- schadens zum Vorschaden für einen eventuellen zweiten Unfall. Für die 'I RVA in AN 1889, S. 162 Nr. 673.

(2)

MdE-Schätzung wesentlich und vom Träger der gesetzlichen Unfallversi- cherung zu berenten ist jeder einzel- ne Arbeitsunfall auch bei Summa- tion von Schäden am gleichen Organ.

Beispiel: Ein Versicherter verliert durch den ersten Unfall den kleinen Finger der rechten Hand und durch einen zweiten Arbeitsunfall den Ringfinger der gleichen Hand. Die für den zweiten Unfall zuständige Berufsgenossenschaft hat die durch den zweiten Unfall bewirkte MdE in vollem Umfang zu entschädigen, ob- wohl jeder Unfall für sich alleine kei- ne MdE bedingt hätte (Bundesso- zialgericht, BSG) 2).

Nicht jeder Vorschaden muß zu ei- ner Höherbewertung der MdE füh- ren (Nehls und das BSG) 3 ).

Die gesetzliche Unfallversicherung kennt kein Schmerzensgeld, son- dern soll die Minderung der Er- werbsfähigkeit durch eine Verletz- tenrente ausgleichen. Hat der Ver- letzte seine Erwerbsfähigkeit völlig verloren, so beträgt die Verletzten- rente zwei Drittel des Jahresarbeits- verdienstes (JAV) (Vollrente). Ist die Erwerbsfähigkeit des Verletzten um wenigstens ein Fünftel gemindert, so ist eine Teilrente in der Höhe zu gewähren, die dem Grad der MdE entspricht (§ 581 RVO). Was unter dem JAV zu verstehen ist, regeln die

§§ 570 bis 578 RVO. Es muß geprüft werden, „in welchem Umfang der Verletzte die Fähigkeit verloren hat, die sich für ihn ergebenden Mög- lichkeiten einer beruflichen Betäti- gung auf dem Gesamtgebiet des Er- werbslebens auszunutzen", die durch den Unfall eingetretene Ein- buße muß stets in Prozent ausge- drückt werden 4 ).

Der Vorschaden ist auf den Tag des Unfalls festzustellen, weil der Versi- cherte grundsätzlich in dem gesund- heitlichen Zustand versichert ist, in dem er von dem Arbeitsunfall betrof- fen wird. Die Erwerbsfähigkeit zum Moment des Unfalls wird mit 100 Prozent angenommen. Zumindest im Bereich der gesetzlichen Unfall- versicherung muß sich dieser Vor-

schaden in einem Ausfall der Moto- rik, der Sensorik oder der Funktion äußern. Ob auch eine Anlage, „be- merkt oder nicht bemerkbar", Vor- schaden ist oder sein kann, hat das BSG bisher im Gegensatz zum Gel- tungsbereich des BVG für die ge- setzliche Unfallversicherung nicht entschieden (siehe unten).

Die nach § 581 RVO zu gewährende Verletztenrente beginnt in der Regel mit dem Tage nach dem Wegfall der Arbeitsfähigkeit im Sinne der Kran- kenversicherung (§ 580 [2] RVO), Abweichungen hiervon siehe § 580 (3) RVO. Der Beginn der Rente ist somit in der RVO festgelegt, die Hö- he der MdE ist auf diesen Tag zu schätzen.

Aus dieser Rechtslage, der Nicht- identität von Unfalltag und dem Tag, auf den die MdE zu schätzen ist, resultieren die Probleme bei der rechtlichen Einordnung des labilen Vorschadens. Hinsichtlich einer Ver- schlimmerung des Vorschadens hat das BSG mehrfach entschieden, daß diese für die Schätzung der MdE kei- ne Rolle spielt, wenn sie unfallfremd auftritt (Nachschaden), so etwa das BSG 5 ).

Beispiel: Am Unfalltage besteht rechts ein Glaukom — noch — ohne Funktionsausfall. Das linke Auge geht unfallbedingt verloren. MdE 25%. Prozent. Der spätere Funk- tionsverfall rechts hat keinen Einfluß auf die Höhe der MdE (ausgenom- men, es handelt sich um einen Fol- geschaden).

Beispiel: Ein kriegsbedingtes Bein- leiden wirkt sich dadurch erheblich stärker aus, daß der Verletzte über- mäßig schwergewichtig wird. Ist die- se Gewichtszunahme auf eine Anla- ge zurückzuführen, die bereits zum Unfall- beziehungsweise Verlet- zungszeitpunkt bestand, kann sie die MdE beeinflussen. Ist sie jedoch auf unbeherrschte Nahrungszunah- me zurückzuführen, bleibt sie für die Schätzung der MdE außer Betracht, in diesem Sinne etwa das BSGE), hier aber, und das sei ausdrücklich hervorgehoben, im Bereich des Bundesversorgungsgesetz.

Ebenfalls aus dem Bereich des BVG stammt das Urteil 6a), in dem zur rechtlichen Wertung einer „ruhen- den Anlage" Stellung genommen wird.

Anmerkung: Soweit ersichtlich, sind sonst keine Urteile des BSG bekannt geworden, in denen angedeutet wird, eine vor der Schädigung vor- handengewesene Anlage könnte noch —Jahre — nach der Schädigung gewissermaßen als postumer Vor- schaden die MdE beeinflussen. Im übrigen bezieht sich das hier zitierte Urteil auf das Bundesversorgungs- gesetz, nicht auf die RVO, und man kann auch nicht von einer „ständi- gen Rechtsprechung" sprechen.

Aus der Fülle der möglichen und in der Gutachterpraxis vorkommenden Fälle seien hier einige beispielhaft herausgegriffen. Die folgenden Aus- führungen können bei der großen Mannigfaltigkeit nicht jeden Spezial- fall erfassen, sie sollen aber einen allgemeinen Anhalt geben.

Der Sachverständige tut gut daran, diese Problematik auch der Verwal- tung im Gutachten in extenso aus- einanderzusetzen, weil diese sie sonst in der Regel gar nicht bemer- ken kann, siehe insoweit auch BSG'); zumindest müssen Verwal- tung und Gerichtsbarkeit klar erken- nen können, ob der Sachverständi- ge und gegebenenfalls wie den Vor- schaden berücksichtigt hat.

Die Berücksichtigung des Vorschadens

Im einzelnen wird auf folgende Fälle eingegangen werden:

O Der labile Vorschaden,

(i)

Verlust eines wirtschaftlich wert-

losen Auges, r>

2) BSG v. 13. 5. 1966, 5 RKn 30/64, Lauter- bach-Rechtskartei Nr. 6376 zu § 581.

3) BSGE 21, 63.

4) RVA in AN 1943, 20.

5) BSGE 17, 99.

BSGE 19, 201

6.) BSG v. 16. 10. 1974, AZ 10 RU 531(73 in Breithaupt 64, 324

7) BSGE 5, 232

(3)

Aktuelle Medizin Vorschaden in der gesetzlichen Unfallversicherung

Q Verlust eines „Reserveauges",

• Mehrfachschädigung des glei- chen Auges,

(;) MdE bei großem Vor- und klei- nem Unfallschaden,

• der wesensfremde Vorschaden,

• die Bindungswirkung des Be- scheides bei falsch eingestuftem Vorschaden.

Der labile Vorschaden

Unter labilem Vorschaden ist die Funktionsminderung zu verstehen, die am Unfalltage nur passager vor- handen war und die sich zwischen Unfalltag und dem Tag nach dem Ende der Arbeitsunfähigkeit ändert.

Beispiel: Ein Versicherter litt am rechten Auge unter passager auftre- tenden Hornhauttrübungen, die seit Jahren bekannt waren und im teils raschen, teils langsamen Wechsel den Visus zwischen 0,2 und 0,7 schwanken ließen. Bei der Einliefe- rung in das Krankenhaus nach dem Unfall des linken Auges betrug die Sehschärfe rechts 0,4, bei der Ent- lassung 0,2, während der Nachbe- handlung 0,6 und bei der Begutach- tung, die nach Wiedereintritt der Ar- beitsfähigkeit erfolgte, 0,3. Das ver- letzte Auge hatte keinen Vor- schaden.

In Absprache mit der zuständigen Berufsgenossenschaft erschien es hier sinnvoll, aber auch berechtigt, für die Bewertung des Vorschadens einen Mittelwert (= 0,3) zugrundezu- legen, der sich aus den im Jahr vor dem Arbeitsunfall festgestellten Werten ergab. Eine derartige Beur- teilung steht auch in Übereinstim- mung mit der Rechtsprechung, so zum Beispiel LSG Baden-Württem- berg 8).

Beispiel: Unfallverlust des rechten Auges, das am Unfalltage volle Seh- schärfe hatte. Die Sehschärfe links betrug wegen einer Retrobulbärneu- ritis am Unfalltage 0,1. Bei Wieder- eintritt der Arbeitsfähigkeit war die

Retrobulbärneuritis bei Enzephalo- myelitis disseminata ausgeheilt, Sehschärfe 1,0.

Wollte man in diesem Falle der MdE- Schätzung zugrunde legen, daß die Sehschärfe des linken Auges am Un- falltage 0,1 betrug und das rechte Auge verloren ging, so käme man zu einer Rente von 80 Prozent für einen Verletzten, der tatsächlich mit einem Auge voll sieht. Diese Lösung wäre zweifelsfrei unverständlich und nicht zuletzt auch in Relation zu an- deren Versicherten falsch. Zutref- fend wäre die Schätzung auf 25 Pro- zent.

Beispiel: Am rechten Auge besteht eine Katarakt, Sehschärfe: Licht- wahrnehmung. Das linke linsenlose Auge geht durch Unfall verloren.

Später wird die Linse des rechten Auges entfernt und mit intra- oder extraokularer Korrektur beträgt die Sehschärfe 1,0. Die MdE wird hier- von nicht beeinflußt.

Diskussion hierzu: Ginge man in fal- scher Analogie zur Rechtsprechung zum stabilen Vorschaden davon aus, daß der — labile — Vorschaden „ze- mentiert" wird und rentenrelevant nur Änderungen des Unfallschadens sind, so käme man zu einer MdE von 100 Prozent (rechtes Auge am Un- falltage blind, Vorschaden; linkes Auge verloren).

Ginge man davon aus, daß rentenre- levant nur der Unterschied der Er- werbsfähigkeit ist, käme man zu ei- ner MdE von 0 Prozent, da es letzt- lich gleichgültig ist, ob der Verletzte mit dem linken linsenlosen Auge vor oder mit dem rechten linsenlosen Auge nach dem Unfall sieht. Beide Schätzungen, 0 wie 100 Prozent, sind jedoch unbefriedigend. Hier ist entscheidend, daß — wie eingangs erwähnt — die Entscheidungen der Obergerichte sich stets, ohne dies allerdings expressis verbis zu beto- nen — auf den unveränderlichen Vor- schaden bezogen haben (Verlust ei- nes Auges, einer Niere, eines Beines usw.). Das hier aufgegriffene und bisher offenbar nicht erkannte Pro- blem wurde naturgemäß nicht be- sprochen.

Lösungsvorschlag: Ein Lösungsan- satz findet sich in einem Urteil des BSG 9), das sich mit dem Recht der kleinen Renten befaßt und in dem es heißt: „Bei der Zusammenzählung der Hundertsätze der durch die ein- zelnen Arbeitsunfälle . . . verursach- ten MdE nach § 581 (3) RVO ist nicht der Hundertsatz, der früheren Ent- scheidungen zugrundeliegt, son- dern der zur Zeit des Beginns der Unfallrente noch bestehende Grad der MdE zu berücksichtigen." Hier war darüber zu entscheiden, ob beim Auftreten einer zweiten Stütz- rente (10 Prozent) eine Neufeststel- lung der ersten Stützrente (10 Pro- zent) und unter welchen Umständen zulässig war. Im einzelnen wird auf das sehr interessante Urteil verwie- sen. Der Schaden aus dem ersten Unfall (MdE zunächst 10 Prozent) ist Vorschaden für den zweiten Unfall, und wenn anläßlich des zweiten Un- falls der erste neu zu bewerten ist, dann ist in Analogie hierzu zu fol- gern, daß auch der labile Vorscha- den auf den Tag festgestellt werden muß, auf den die MdE geschätzt werden soll, daß heißt auf den Tag nach Fortfall der Arbeitsunfähigkeit und nicht auf den Unfalltag. Über- trägt man diesen Gesichtspunkt, die Neubewertung des Vorschadens gleich welcher Art auf den Tag des Beginns der Rentengewährung, auf unsere Problematik, so sind zwei Verlaufsmöglichkeiten zu differen- zieren:

a) Der Vorschaden führt nach dem Unfall, aber noch vor dem Wieder- eintritt der Arbeitsfähigkeit, zu einer weiteren Verschlechterung.

b) Der Vorschaden heilt teilweise oder vollständig aus.

Zu a): Wenn der Vorschaden nach dem Unfall, aber unfallfremd, zu ei- ner weiteren Minderung der Lei- stung und somit der Erwerbsfähig- keit führt, handelt es sich insoweit um einen Nachschaden und zwar gleichgültig, wann dies eintritt.

Nachschäden sind nach ständiger

8) LSG Baden-Württemberg v. 30. 8. 1978, Breithaupt 1979, S. 689, Nr. 177

9) BSG v. 7. 3. 1969, AZ 2 RU 121/66 in Sozial- gerichtsbarkeit 17, 142 (1970)

(4)

Rente zu entschädigen.

Zu b): Wenn der Vorschaden bis zum Wiedereintritt der Arbeitsfähig- keit, das heißt bis zu dem Tag, auf den in der Regel die MdE zu schät- zen ist, geringer wird, dann hat die Verwaltung zu prüfen, ob der Vor- schaden rentenrelevant ist. Ist er das, so ist er in die Festsetzung der Höhe der MdE mit einzubeziehen.

Verschlechtert er sich später, das heißt nach dem Unfalltage, ist er ein Nachschaden, Folgen siehe vorste- hend.

Bessert er sich später, so sollte die- ser Tatbestand Anlaß einer Ände- rung nach § 622 RVO sein (dürfen), wenn die Änderung wesentlich ist.

Bei erneuter Verschlechterung be- steht Anspruch auf Wiedereinbezie- hung des Vorschadens in die Be- messung der MdE nur bis zur Höhe des Schadens am Unfalltage.

Der Sachverständige sollte in sei- nem Gutachten die MdE wie folgt schätzen:

a) MdE inklusive des Vorschadens bezogen auf den Unfalltag,

b) MdE allein für den Unfallschaden c) MdE nach den tatsächlichen Ver- hältnissen am Tage des Rentenbe- ginnes.

Es ist nicht Aufgabe des Sachver- ständigen, die MdE verantwortlich festzusetzen, diese Verantwortung fällt in den Zuständigkeitsbereich der Verwaltung, aber wenn der Gut- achter das Problem nicht deutlich herausstellt, kann die Verwaltung es in der Regel nicht erkennen, und es besteht die Gefahr, daß sie dem Sachverständigen blind folgt.

O

Verlust eines wirtschaftlich wertlosen Auges

Wird durch den Unfall ein wirtschaft- lich wertloses Auge getroffen, so wird hierfür eine Entschädigung nicht gezahlt, da sich an der tatsäch- lichen Erwerbsmöglichkeit auf dem gesamten Arbeitsmarkt nichts geän-

BSG 10). Im Vordergrund steht nicht etwa ein tatsächlicher Minderver- dienst — der hier auch nicht anzu- nehmen ist — sondern daß der Unter- schied der auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens bestehenden Er- werbsmöglichkeiten vor und nach dem Unfall zu bemessen ist. Nicht der wie auch immer geartete Körper- schaden wird entschädigt (sollte entschädigt werden!), sondern die Einbuße an Erwerbsfähigkeit, hierin liegt ein deutlicher Unterschied ge- genüber dem Zivilrecht. Der bereits zuvor Einäugige hat in der Erwerbs- möglichkeit keine Einbuße erlitten.

Im Rahmen der gesetzlichen Unfall- versicherung kommt es nicht auf ei- ne konkrete, sondern auf eine ab- strakte, pauschale Schadensberech- nung an, wobei allerdings die Be- sonderheiten des Einzelfalles maß- gebend sind. Sachverständige, Ver- waltung und Gericht sollen diese Besonderheiten nicht formelhaft er- rechnen, sondern individuell bewer- ten (Brackmann und BSG").

Q

Verlust eines „Reserveauges"

Eng verwandt hiermit ist der Fall, daß der Unfall ein blindes Auge trifft, dessen Funktion später—vielleicht- hätte wiederhergestellt werden kön- nen: ein ,,Reserveauge".

Auch hier gilt allein die Bewertung des Unterschiedes der Erwerbsfä- higkeiten und nicht der Verlust eines Reserveauges, so schmerzlich die- ser Verlust für den Betroffenen auch sein mag. Dies ergibt sich zum einen aus der Rechtsprechung, zum Bei- spiel BSG 3 ), 12), aber auch aus der Tatsache, daß es eine — positiv oder negativ — überholende Kausalität im Bereich der gesetzlichen Unfallver- sicherung nicht gibt.

Mehrfachschädigung des gleichen Auges

Mehrfachschädigungen des glei- chen Auges sind jeweils für sich al- leine zu bewerten und zu entschädi- gen. Bei jedem neuerlichen Unfall ist

100 Prozent anzunehmen, so daß schließlich für ein- und dasselbe Au- ge Renten von über 25 Prozent er- zielt werden können. Entscheidend ist, daß der Verletzte durch die für die Folgen mehrerer Unfälle auch von verschiedenen Versicherungs- trägern gewährten Entschädigun- gen (zum Beispiel Verlust eines Au- ges, eines Beines, einer Hand) we- nigstens so gestellt werden muß, als wäre der Verlust durch einen Unfall eingetreten, so das BSG 10).

Beispiel: Der erste Unfall trifft einen Versicherten ohne Vorschaden, Hornhautverletzung rechts mit Vi- susminderung auf 0,2, MdE 10 Pro- zent (gegebenenfalls Stützrente).

Der zweite Unfall führt zum Totalver- lust des Auges, MdE: 20 bis 25 Pro- zent. Anderes gilt, wenn der zweite Unfall ein Auge traf, das bereits praktisch blind war (siehe 2).

€)

MdE bei großem Vor- und kleinem Unfallschaden

Beispiel: Zum Unfallzeitpunkt fehlt das rechte Auge, aus welchen Grün- den auch immer (Vorschaden). Die Sehschärfe des linken Auges sinkt unfallbedingt von 1,0 auf 0,7.

Die Erfahrung zeigt, daß in solchen Fällen die einzelnen Gutachter au- ßerordentlich unterschiedlich schät- zen, eine Umfrage ergab hier Schwankungen von 0 bis 40 Pro- zent.

Zweifelsfrei ist eine Schätzung, die bei jedem Unfallschaden den Vor- schaden voll miteinschließt, fehler- haft, so zum Beispiel bei einem Ab- sinken der Sehschärfe von 1,0 auf 0,9. Hier wäre eine MdE von 30 Pro- zent sicher überhöht und würde den benachteiligten, der durch einen Un- fall tatsächlich ein Auge verloren hat. Gramberg-Danielsen und Hüls- meyer schlugen vor, den Vorscha-

BSGE, 21, 63.

10) BSG v. 24. 8. 1966, AZ 2 RU 53/62 in Lauter- bach-Rechtskartei, § 581, Nr, 6720 n) BSGE 9, 110

' 2 ) BSG v. 29. 11. 1956, AZ 2 RU 121/56 in Breithaupt, 46 Jg. 1957

(5)

Aktuelle Medizin Vorschaden in der gesetzlichen Unfallversicherung

den erst dann voll in die Schätzung der MdE mit einzubeziehen, wenn die Sehschärfe auf dem zweiten Au- ge unfallbedingt auf 0,5 gesunken ist. Analog wäre bei ähnlichen Schä- den an anderen paarigen Organen zu schätzen.

0 Der wesensfremde Vorschaden Der Vorschaden kann zum Beispiel in einer Störung der Motilität, der Unfallschaden in einer Minderung der Sensorik oder umgekehrt beste- hen. Rechtlich relevant ist der Vor- schaden nur dann, wenn zwischen dem Vorschaden und dem durch ei- nen Arbeitsunfall verursachten Schaden eine Wechselbeziehung besteht, so zum Beispiel Hymmen.

Der Vorschaden kann für die MdE positiv oder negativ relevant sein, je nachdem, ob sich Vor- und Unfall- schaden positiv oder negativ beein- flussen.

Beispiel: Zum Unfallzeitpunkt be- stand unfallbedingt Doppeltsehen wegen einer noch frischen Abdu- zensparese rechts. Durch den Unfall geht das rechte Auge verloren. Hier kann nicht eine MdE von 15 Prozent für die Abduzensparese zu der von 25 Prozent für den 2. Unfallschaden addiert werden, zumal der funktio- nelle Vorschaden (Doppelbilder) zu- gleich mit dem Unfall schwand.

Er erscheint berechtigt, am Auge sensorische und motorische Vor- und Unfallschäden in ihrer Bedeu- tung zu relativieren. Gerade in die- sem Bereich wird häufig der Vor- schaden durch den Unfallschaden gemindert, er kann aber auch ver- stärkt werden; auch dies ist individu- ell zu beurteilen.

la Die Bindungswirkung des Bescheides bei

falsch eingestuftem Vorschaden Häufiger als der Unfallschaden wird der Vorschaden vom Gutachter und von der Unfallversicherung falsch eingestuft. Der Dauerrentenbe- scheid ist dann Ausgangspunkt für die Einstufung der folgenden MdE-

Berechnungen bei — wesentlicher — Befundänderung.

Beispiel: Vorschaden Sehschärfe rechts 0,05, links 0,3. Verletzt wurde das linke Auge. Eine Klinik schätzte die MdE auf 45 Prozent, obwohl die Sehschärfe beiderseits unverändert wie am Unfalltage bestand (MdE 0 Prozent) und. eine unfallbedingte Beeinträchtigung der Sehschärfe zu diesem Zeitpunkt gar nicht vorlag.

Die Verwaltung erteilte einen Be- scheid, der eine MdE von 45 Prozent anerkannte und bindend wurde. In der Folgezeit kam es zu zunehmen- der — traumatischer — Linsentrübung im Unfallauge bei Besserung rechts, und schließlich betrug die Sehschär- fe 0,15 / 00. In diesem Fall mußte die Berufsgenossenschaft die MdE nun auf der wesentlich überhöhten Aus- gangsbasis von 45 Prozent (für

„nichts") schätzen lassen.

Dieses Beispiel zeigt, daß unter Um- ständen auch ein Vorschaden ohne passageren oder dauernden oder sofortigen Unfallschaden zu einer Rente führen kann infolge fehlerhaf- ter, aber rechtlich bindender Wer- tung.

Schlußfolgerung

O Ein Vorschaden ist nur dann ren- tenwirksam, wenn zwischen Vor- und Unfallschaden beziehungswei- se Berufskrankheit eine Wechselbe- ziehung besteht.

O Ein Vorschaden kann die Höhe der MdE wegen Unfallschaden ne- gativ, aber auch positiv beein- flussen.

O Der stabile Vorschaden ist in vol- lem Umfang in die Schätzung der MdE einzubeziehen, da der Versi- cherte unter Einschluß dieses Scha- dens zum Unfallzeitpunkt versichert war.

O Ausgangspunkt für die Bewer- tung des labilen Vorschadens ist der Befund am Unfalltag.

• Bessert sich der labile Vorscha- den, sollte dieser Tatbestand Anlaß

einer Änderung nach § 622 RVO sein (dürfen), wenn die Änderung we- sentlich ist.

Verschlimmert sich der labile Vorschaden nach anfänglicher Bes- serung erneut, so sollte Anspruch bestehen auf Wiedereinbeziehung des Vorschadens in die Bemessung der MdE, doch darf die Bewertung nicht über den (Vor-)Schaden hin- ausgehen, der am Unfalltage be- stand.

€1

Um die Problematik insbesonde- re des labilen Vorschadens für die Beteiligten und die Richter transpa- rent zu machen, müssen die Sach- verständigen grundsätzlich in ihren Gutachten darlegen, inwieweit sie den Vorschaden berücksichtigt ha- ben und sollten die Schätzung der MdE durchführen allein für den Un- fallschaden, allein für den Vorscha- den und für beide zusammen bezo- gen auf den Tag des Rentenbeginns.

Literatur

Brackmann: „Handbuch der Sozialversiche- rung", S. 569, Ansgard — Gramberg-Danielsen, B. und Hülsmeyer, H.: „Augenarzt und gesetz- liche Unfallversicherung", Bücherei des Au- genarztes, Heft 79, Enke, Stuttgart 1979

—Hymmen, R.: „Versicherungsrechtliche Grundlagen bei der Beurteilung von Verlet- zungsschäden am vorgeschädigten Organ", Bericht über die unfallmedizinische Tagung in Mainz, 4./5. 11. 1978, Schriftenreihe Unfallme- dizinische Tagung der Landesverbände der gewerblichen Berufsgenossenschaften, Heft 36 — Nehls, J.: „Der Vorschaden" in Bericht über die unfallmedizinische Tagung in Düssel- dorf am 17./18. 3. 1979, Schriftenreihe Unfall- medizinische Tagungen der Landesverbände der gewerblichen Berufsgenossenschaften, Heft 37 — Sachsenweger, R.: „Augenärztliche Begutachtung", Fischer, Stuttgart, 1976

Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. med.

Berndt Gramberg-Danieisen Chefarzt der Augenabteilung und der Verkehrsmedizinisch- Ophthalmologischen

Untersuchungsstelle am Allgemeinen Krankenhaus Othmarschen

Paul-Ehrlich-Straße 1 2000 Hamburg 50

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