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Diskurses Atomenergie Rezension von: Jung, Matthias: REZENSIONEN

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i-JSj f Gerd Fritz

"*».: Rezension von: Jung, Matthias: Öffentlichkeit und Sprach- ife' wandel. Zur Geschichte des Diskurses über die Atomenergie

Opladen: Westdeutscher Verlag 1994

Die vorliegende Arbeit ist ein Beitrag zur Geschichte des öffentlichen Sprachge- brauchs in der BRD. Sie entspricht damit einer seit längerer Zeit an die Sprachhistoriker gestellten Forderung, Sprachgeschichte auch der jüngeren Vergangenheit zu schreiben und dabei die Vorteile einer günstigeren Datenlage, einer besseren Kenntnis der sozialgeschichtlichen Zusammenhänge und eines offeneren Methodenspektrums zu nutzen. Die öffentliche Auseinandersetzung um die Rolle der Atomenergie in der Bundesrepublik erweist sich als ein fruchtbares Feld für kommunikationshistorische Analysen, in denen der Autor Wortgeschichte, Themengeschichte und Diskussionsgeschichte zusammenführt.

Aus wortgeschichtlicher Sicht beruht seine Konzeption auf dem Grundgedan- ken, daß man - vor allem für „brisante" Wörter - die Bedeutungsgeschichte rekonstruieren kann, indem man die Grundstrukturen von Kommunikationen rekonstruiert, in denen sie eine bestimmte Rolle spielen. Dieser Grundgedanke, der sich übrigens ganz gut mit einer Gebrauchstheorie der Bedeutung verträgt, ist an sich nicht völlig neu. Er ist ansatzweise realisiert in Arbeiten zur Schlagwortforschung sowie in manchen Artikeln des Lexikons „Geschichtliche Grundbegriffe", und er ist systematisch zum Darstellungsprinzip gemacht in Berings Geschichte des Schimpfwortes die Intellektuellen (Bering 1978). Er erweist sich aber gerade für die Betrachtung eines größeren Repertoires von Ausdrücken (von Atom- und Kernkraft über Entsorgung, GAU und Restrisiko bis zivile Nutzung) als methodisch fruchtbar. Kommunikationsgeschichtlich - oder „diskursgeschichtlich", wie der Autor im Anschluß an Busse, Teubert u. a.

meistens schreibt (vgl. Busse/Teubert 1994) - interessiert der Gang der Kontroversen zwischen Befürwortern und Kritikern der Kernenergie, aber auch die Kommunikation zwischen Fachleuten und Laien, eine Ebene, die spätestens seit den 70ern Jahren quer zur Pro-und-Contra-Ebene verläuft.

Das Buch verbindet stärker analytische Passagen wie das Einleitungskapitel und den Teil III („Die Atomdiskussion als Lehrstück") mit umfangreichen narrativ-darstellenden Kapiteln, u.a. über die frühe Atombegeisterung, die

l Zeitschrift für Sprachwissenschaft 16.1/2 (1997), 265-271 l © Vandenhoeck & Ruprecht, 1998

i ISSN 0721-9067

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Anti-AKW-Bewegung, Tschernobyl und die Zeit danach. Zentrale Fragen, die in den analytischen Teilen herausgegriffen werden, sind neben methodischen Reflexionen: die öffentliche Sprachkritik und ihre Irrtümer, der Zusammenhang von Popularisierung von Sachwissen und der Terminologisierung der Nuklear- kontroverse, die Frage der Sprachlenkung bzw. Manipulation sowie das Verhältnis von Wandel des Sprachgebrauchs und Bewußtseinswandel.

Für die Geschichte des Sprachbewußtseins ist besonders die Entwicklung der Sprachkritik in den späten 70er und den 80 er Jahren lehrreich, die einerseits bei vielen Teilnehmern der Kernkraftkontroversen zu einem reflektierten Sprachge- brauch führte, die aber andererseits auch viele Fehleinschätzungen der tatsächli- chen sprachlichen Praxis hervorbrachte- nicht zuletzt in Linguistenkreisen, was der Autor mit einem gewissen Vergnügen herausstreicht. Was die Möglichkeiten der Sprachlenkung und der Manipulation durch Euphemismen und dergleichen angeht, kommt der Autor zu einer eher skeptischen Einschätzung: „Im Verlauf der Untersuchung zeigte sich ein ums andere Mal, wie gewollter Sprachwandel zu ungewollten Ergebnissen führte, sei es in der Terminologienormung oder in der politischen Diskussion" (S. 212). Das Begriffe-Besetzen scheint, zumindest in dem hier untersuchten Fall, nicht recht funktioniert zu haben. Die unsichtba- re Hand mischt mit.

Als Beitrag zur historischen Semantik ist das Buch vor allem dort produktiv, wo der Autor den Mikro-Makro-Beziehungen nachgeht - von den sprachlichen Handlungen Einzelner zur Kontinuität eines bestimmten Sprachgebrauchs in einer Gruppe bis hin zur Verbreitung dieses Gebrauchs über diese Gruppe hinaus. Er beobachtet dabei in gut Meilletscher Tradition (vgl. Meillet 1905/06), daß mit den Verbreitungsvorgängen oft Veränderungen im Gebrauch der Ausdrücke verbunden sind. Als Beispiel für eine Veränderung im Sprachge- brauch eines Einzelnen, der symptomatisch für weitergehende Veränderungen ist, führt Jung die Praxis von Volker Hauff an, dem energiepolitischen Sprecher der SPD zur Zeit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, der „in seinen Stellungnahmen, die sich ausdrücklich an die breite Öffentlichkeit richten, Atom nach Tschernobyl so exklusiv verwendet, wie früher Kern ..." (S. 132). Ein Lehrstück zum Thema Verbreitung sprachlicher Ausdrücke bieten die Abschnit- te, die die Kommunikationskarriere des Ausdrucks Entsorgungspark behandeln.

Dieser Ausdruck wurde im Jahre 1975 im Innenministerium erfunden und dort intern etwa eineinhalb Jahre lang verwendet. In die Öffentlichkeit gelangte das Wort erstmalig im Mai 1975, als Innenminister Maihöfer es in einem Vortrag bei einer Reaktortagung verwendete. Die anderen Ministerien, vor allem das Forschungsministerium, zogen „Entsorgungs0«/age" vor. 1975 finden sich weitere vereinzelte Verwendungen, z. B. in der Rede eines Bundestagsabgeord- neten. Aber schon 1976 verwenden dieExperten das Wort nicht mehr; es ist eine terminologische Eintagsfliege. Auch in der Presse sind Belege kaum zu finden.

Nachdem es eigentlich schon tot ist, wird das Wort in den 80er Jahren von Sprachkritikern in den Medien und in der Wissenschaft entdeckt. Es wird als

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abschreckendes Beispiel eines manipulativen Euphemismus zitiert und als Standardbeispiel weitertradiert. So erlebt es eine Karriere aus zweiter Hand, die bis heute viel dynamischer ist als die unbedeutende Erstkarriere. Entsorgungs- park ist, wie Jung es nennt, ein „Phantomwort" (S. 77). Natürlich ist eine solche Verbreitungsgeschichte ein Extremfall, aber sie enthält eine Reihe von lehrrei- chen Faktoren, u. a. den, daß Verbreitung nicht immer durch normale Verwen- dung geschieht, sondern bisweilen auch durch bloßes Zitat. Weitere interessante Verbreitungsgeschichten sind die von Störfall und GAU. Hier zeigt Jung sehr schön, „wie sich diese Ausdrücke abweichend von ihrem eigenen Sprachge- brauch und zum großen Bedauern der Experten in der Öffentlichkeit ausgebrei- tet haben" (S. 190). Für eine evolutionäre Betrachtung des Sprachwandels sind besonders auch die Hinweise auf nichterfolgreiche Varianten und die „Berück- sichtigung von verschütteten Innovations- und Normierungsversuchen" (S.

216) von Interesse. In diesem thematischen Umfeld erhebt sich natürlich die Frage, wann man bereit ist, von „Sprachwandel" zu reden. Es hätte sich angeboten, diese alte Theoretikerfrage exemplarisch etwas ausführlicher zu diskutieren. Darauf hat Jung jedoch (klugerweise?) verzichtet.

Bei einer Arbeit, die, gemessen an traditionellen linguistischen Forschungsge- bieten, zum Teil Neuland betritt, haben natürlich Methodenfragen ein besonde- res Interesse. Das sieht auch der Autor so, u. a. deshalb, weil er den möglichen Einwand abwehren möchte, diese Art von Arbeit beschränke sich darauf,

„lediglich bestimmte Debatten anhand ihres Wortschatzes nachzuerzählen"

(S. 13). Der von Jung benutzte „Methodenmix" (S. 14) umfaßt u.a.: (i) die Untersuchung von sog. Sprachthematisierungen (vgl. Stötzel 1995: 2 f.) aus einem Pressecorpus, (ii) die statistische Auswertung eines Teilcorpus im Hinblick auf das Vorkommen von zentralen Ausdrücken (Atom-, Kern-, nuklear, friedliche Nutzung), (iii) die Rekonstruktion des Diskussionsganges auf dem Hintergrund eines umfangreichen „offenen" Textcorpus von Schriften zur Nuklearkontroverse, (iv) die Klärung von persönlichen Einschätzungen von Beteiligten der Kontroversen durch direkte Befragung in mündlicher oder brieflicher Form, vor allem von Fachleuten der Atomlobby (S. 167). Ein Werkzeug aus dem methodischen Arsenal fehlt fast völlig: die detaillierte exemplarische Text- oder Kommunikationsanalyse, die auch die hermeneuti- schen Probleme der ganzen Untersuchung stärker ins Gesichtsfeld hätte rücken können. Weitere Verfahren, die in diesem Arbeitsbereich prinzipiell einsetzbar wären, sind die aus der Medienwissenschaft bekannten Panelstudien, „semanti- sche Tagebücher" und dergleichen. Diese Mittel der Kommunikationsge- schichtsschreibung sind natürlich nicht im nachhinein zu verwenden. Warum sollte aber ein groß angelegtes Projekt in Zukunft nicht einmal mit derartigen Mitteln arbeiten?

Im Zusammenhang mit Methodenfragen ist auch eine Überlegung zum zugrundegelegten Corpus angebracht. Der Versuch, die gesellschaftliche Kom- munikation über einen bestimmten Gegenstand zu rekonstruieren, ist eine

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faszinierende Aufgabe und zugleich eine methodische Herausforderung ersten Ranges. Man bekommt es hier mit einem massiven Ausschnitt aus der sprachlichen Praxis zu tun, also dem, worin Hermann Paul den eigentlichen Gegenstand der Sprachwissenschaft sah: „Das wahre Objekt für den Sprachfor- scher sind vielmehr sämtliche Äußerungen der Sprechtätigkeit an sämtlichen Individuen in ihrer Wechselwirkung aufeinander" (Paul 1920: 24). Wie Jung sehr klar sieht, ist schon die Wahl eines geeigneten Corpus ein vorentscheidender Schritt für den Erfolg dieses Projekts: „Die Frage der Methodik, mit der man zu einer „konzentrierenden Auswahl der Kommunikationsereignisse" gelangt, scheint mir deshalb der Punkt zu sein, mit dem die Akzeptanz entsprechender Untersuchungen und damit der Diskursgeschichte allgemein innerhalb der Linguistik stehen und fallen wird" (S. 13). Wie schon erwähnt, spielen Pressetex- te in Jungs Untersuchung eine wichtige Rolle (das Düsseldorfer „Rheinische Post"-Corpus, maschinenlesbare Pressecorpora des IDS und weitere, nicht näher spezifierte Pressetexte). Er betont aber selbst: „Der alleinige Bezug auf Pressetexte ist allerdings sowieso ungeeignet, um die diskursgeschichtliche Dynamik deutlich machen zu können" (S. 19). Um die Breite des Zugriffs zu verbessern, erweitert er seine Datenbasis. Für quantitative Untersuchungen wählt er als geschlossene „Kontrollkorpora" das Jahresinhaltsverzeichnis der Branchenzeitschrift „Die Atomwirtschaft" (ATW), die stenographischen Mit- schriften von Bundestagsdebatten zum Thema Kernenergie seit 1956 sowie eine Zusammenstellung des Nuklearvokabulars in den verschiedenen Auflagen des Rechtschreibdudens von 1941 bis 1991. Im wesentlichen beruht die Studie allerdings auf einem „offenen Korpus", das aus Textbelegen besteht, die für die jeweiligen Fragestellungen gezielt recherchiert wurden. Zu diesem Corpus gehören „historisch repräsentative Werke von Atomkraftgegnern und Kern- energiebefürwortern" (S. 20), „chronologisch gestaffelte Texte prominenter Sprecher" (S. 20), Materialien der Öffentlichkeitsarbeit und die erwähnten persönlichen Stellungnahmen in mündlicher oder brieflicher Form. Daß ein derartiges Corpus in keinem sozialwissenschaftlichen Sinne „repräsentativ" sein kann, etwa für statistische Befunde zum Medium Presse, ist für das wortschatz- geschichtliche Projekt nicht problematisch. (Zum Verhältnis von „Zählen" und

„Deuten" in seiner Arbeit, d. h. zu quantitativen und interpretativen Methoden, äußert sich der Autor ausführlicher in Jung 1994.)

Eine andere Frage ist, ob die relevante Struktur der Kommunikation mit dem verwendeten Corpus adäquat erfaßt werden kann, d. h. ob die Ergebnisse für den Kommunikationsverlauf „strukturell" repräsentativ sein können. Auch wenn man sich auf die im engeren Sinne öffentliche Kommunikation beschränkt und das für den Wissenschaftler unerfreuliche Faktum ausblendet, daß große Teile der gesellschaftlichen Kommunikation sich in der Kantine, am Mittags- tisch der Familie und in der Kneipe abspielen, findet man Aspekte, die offensichtlich unterrepräsentiert sind. Im Bereich der Presse selbst wäre an Agenturmaterial zu denken, das ja - in unterschiedlichen Verdünnungsgraden -

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eine ungleich größere Verbreitung hat als die Texte einzelner Zeitungen. Auch wenn eine Zeitung wie die im Düsseldorfer Projekt ausgewertete „Rheinische Post" im überregionalen Teil weitgehend aus Agenturmaterial besteht, benutzt sie doch nur einen bestimmten Ausschnitt aus dem gesamten Agenturmaterial.

Interessant wäre ja gerade die Frage, wie die verschiedenen Zeitungen, je nach politischem Standort, mit dem thematisch relevanten Agenturmaterial umge- hen. So hätte sich möglicherweise zeigen können, daß eine Einfallschneise für den Gebrauch von nuklear ausländisches Agenturmaterial war. Was die Struktur des „Diskurses" angeht, sind Rundfunk und - seit den 60er Jahren - das Fernsehen entscheidende Faktoren, die in dieser Untersuchung fast völlig fehlen. Naturlich ist älteres Rundfunk- und Fernsehmaterial schwer und in vielen Fällen überhaupt nicht (mehr) zugänglich, aber es ist nun einmal nicht zu übersehen, daß etwa für die öffentliche Kommunikation über Tschernobyl Rundfunk und Fernsehen eine ganz fundamentale Rolle gespielt haben, mit Ereignisberichterstattung, Mitteilung von Meßwerten und Verhaltensempfeh- lungen, Expertenrunden, Politikerdiskussionen usw. Es ist nicht ausgeschlossen, daß in bezug auf die zentralen Gegenstände der vorliegenden Untersuchung, nämlich den Gebrauch von Ausdrücken wie Atom-, Kern-, friedliche Nutzung der Kernenergie etc., der Ergebnisbefund nicht wesentlich anders ausgefallen wäre. Aber die Struktur des Diskurses sieht anders aus, wenn man die Medien Rundfunk und Fernsehen berücksichtigt. Ein wichtiger Strukturwandel der öffentlichen Kommunikation seit den 60er Jahren besteht ja gerade in der Rolle des neuen Mediums Fernsehen.

Ein attraktiver Aspekt der vorliegenden Arbeit, wie auch des ganzen Düsseldorfer Projekts zur Geschichte des neueren öffentlichen Sprachge- brauchs, besteht in der erklärten Absicht, nicht nur für Linguisten zu forschen und zu schreiben. Das hat natürlich Konsequenzen sowohl in thematischer Hinsicht als auch für Schreibweise und Textgestaltung. Thematisch fallt auf, daß vor allem bedeutungstheoretische Reflexionen, die aus der Sicht des Spezialisten durchaus relevant sein könnten, vermieden werden. Was die Textgestaltung angeht, so sind zunächst einmal die benutzerfreundlichen Maßnahmen des Autors uneingeschränkt zu begrüßen: übersichtlicher Aufbau, manchmal besonders pfiffige Abschnittsüberschriften, drei Register (Belegwortregister, Namenregister, Sachregister). Die Zitierweise dagegen kommt dem nicht entgegen, der jeweils die Zitatquellen kennen möchte. Im Text werden die Zitate durch Anführungsstriche gekennzeichnet, und am Ende eines Abschnitts kommt dann jeweils die Verweiszahl für eine Sammelfußnote. In der Fußnote finden sich oft nacheinander fünf oder sechs Quellenangaben. Wenn man nun wissen möchte, wer was gesagt hat, muß man z. B. von der dritten Quellenanga- be in der Fußnote zurück zum dritten Paar Anführungszeichen im Text - ein sehr lästiges Verfahren!

Eine andere Sache ist die Frage der Verwendung linguistischer, vor allem

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bedeutungstheoretischer Werkzeuge und damit auch Redeweisen. Bei seiner

„Gratwanderung'* (1) zwischen wissenschaftlichem Anspruch und Freundlich- keit gegenüber Nicht-Linguisten unter seinen Lesern hat der Autor m. E.

manchmal doch etwas zu viel des Guten getan. So kommt es, daß terminologisch empfindliche Semantiker dann und wann Redeweisen finden werden, die im Jargon der Gebildeten vorkommen, die man aber theoretisch nicht verteidigen möchte, z. B.: „Bei Plutoniumwirtschaft... liegen terminologische Irritationen nicht in der 'Unwissenschaftlichkeit' des Wortkörpers begründet, sondern werden durch seine öffentliche Bedeutung, d. h. den Vorwurf, den dieses Wort über den neutralen Inhalt 'Wirtschaftszweig, der mit Plutonium arbeitet' hinaus transportiert, hervorgerufen" (S. 181 f.). Daß ein Wort einen „Inhalt transpor- tiert", ist eine „Kübeltheorie" der Bedeutung, die man in einer semantisch fundierten linguistischen Arbeit nicht erwartet. Ähnlich die Redeweise von

„indirekt mitschwingenden Unterstellungen" (S. 182) bei der Verwendung eines Ausdrucks. Vielleicht hätte hier der Gricesche Begriff der konversationellen Implikatur geholfen, den Sachverhalt präziser auszudrücken, ein Begriff, der in der historischen Semantik der letzten Jahre vielfach verwendet wurde (vgl. Grice 1989: 24ff.). Oder der Hinweis: „Semantisch wie diskursgeschichtlich gesehen bleiben diese Ausdrücke (nämlich: Strontium, Cäsium etc.) flach, da..." (S. 210).

Auch der Begriff der semantischen Flachheit scheint mir nicht so weit geklärt, daß man ihn in einer wissenschaftlichen Arbeit problemlos anwenden könnte.

Den verwöhnten Semantiker mag es auch stören, wenn Jung an einigen Stellen die Kursivschreibung nicht, wie in einer einleitenden Bemerkung (8) angekün- digt, zur Auszeichnung objektsprachlicher Ausdrücke verwendet, sondern in einer Art Dreifachnutzung: 1. schlicht objektsprachlich, 2. zur Auszeichnung eines angeführten objektsprachlichen Ausdrucks, 3. zur Kennzeichnung der Wichtigkeit dieses Ausdrucks. Ein Beispiel: „Die Pazifisten demonstrierten gegen Atombewaffnung und für die friedliche Nutzung der Kernenergie ..."

(S. 44 f.). Hier hat offensichtlich die Mitarbeit an Stötzel/Wengeler (1995) ansteckend gewirkt, wo dieses Verfahren häufig angewendet wird. (Vielleicht ist das nur eine abkürzende Schreibweise, vielleicht zeigt sich darin aber auch ein methodisches Dilemma.)

An manchen Stellen formuliert der Autor historische Generalisierungen und Bewertungen, bei denen man daran zweifeln könnte, daß sie durch seine linguistischen Methoden auch tatsächlich gedeckt sind. Etwa mit folgendem Satz: „Marxistische Sprachkritik, die konservative Anklage von nationalsoziali- stischer bzw. stalinistischer Propagandasprache, die Ablehnung des enthumani- sierenden Verwaltungsstils und der werbepsychologischen Manipulation, Or- well-Rezeption und die Anprangerung des Nuklearjargons lieferten hier die Versatzstücke für das ideologisch vage, kritisch-kulturpessimistische Sprachbe- wußtsein, das in den 80er Jahren als der kleinste gemeinsame Nenner der verschiedenen sprachkritischen Richtungen populär wurde: ..." (S. 116). Hier kommt es mir vor, als sei der Autor dem Feuilletonleser xloch etwas zu weit

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entgegengekommen. Aber dergleichen ist in keiner Weise repräsentativ für das ganze Buch.

Nachdem ich diese kritischen Bemerkungen losgeworden bin, will ich dem Buch die verdiente Anerkennung nicht versagen. Ich habe aus diesem Buch viel Fakteninformation bekommen, mein Gedächtnis in Dingen Geschichte der Kommunikation über Atomenergie aufgefrischt und etliche falsche Annahmen korrigiert, und ich habe, viel nützliches Anschauungsmaterial gefunden für wortgeschichtliche Vorgänge im Mikrobereich und in der Mikro/Makro- Vermittlung, über die wir bei der Betrachtung entfernterer Sprachstadien meist nur spekulieren können. Insgesamt ist das Buch ein lehrreiches methodisches Muster für die gelungene Verbindung von Wortgeschichte und Kommunika- tionsgeschichte.

Literaturnachweis

Bering, Dietz (1978): Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes. Stuttgart:

Klett-Cotta.

Busse, Dietrich/Teubert, Wolfgang (1994): Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt?

Zur Methodenfrage der historischen Semantik. In: Busse/Hermanns/Teubert (Hgg.), S. 10-28.

Busse, Dietrich/Hermanns, Fritz/Teubert, Wolfgang (Hgg.) (1994): Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik.

Opladen: Westdeutscher Verlag.

Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. v. Brunner, Otto/Conze, Werner/ Koselleck, Reinhart. Bde. l, 2,4.

Stuttgart 1972ff.

Grice, Paul (1989): Studies in the way ofwords. Cambridge, Mass.: Harvard University Press.

Jung, Matthias (1994): Zählen oder deuten? Das Methodenproblem der Diskursgeschichte am Beispiel der Atomenergiedebatte. In: Busse/Hermanns/Teubert (Hgg.), S. 60-83.

Meillet, Antoine (l 905/06): Comments les mots changent de sens. In: Annee Sociologique 9, S. 1-38.

Paul, Hermann (1920): Prinzipien der Sprachgeschichte. 5. Aufl. Halle: Niemeyer.

Stötzel, Georg (1995): Einleitung. In Stötzel/Wengeler (Hgg.) (1995), 1-17.

Stötzel, Georg/Wengeler, Martin (Hgg.) (1995): Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin/New York: de Gruyter.

Prof. Dr. Gerd Fritz, FB 09 Germanistik, Inst. f. deutsche Sprache u. mittelalterl.

Literatur, Otto-Behaghel-Str. 10, 35394 Gießen

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Rezension von: Lutzeier, Peter Rolf:

Lexikologie. Ein Arbeitsbuch

Tübingen: Stauffenburg Verlag 1995 (= Stauffenburg-Einführungen)

Es scheint, als ermangele es der Lexikologie nicht länger an Aufmerksamkeit durch breitere Kreise der Sprachwissenschaft und als nähme die Wissenschaft von Wort und Wortschatz zunehmenden Raum in der aktuellen Diskussion linguistischer Fragestellungen ein. Wenn auch von einer „Allgegenwart der Lexikologie" (H.-R Kromann et al. 1995) nicht die Rede sein kann, ist ein Heraustreten aus Nischen national-philologischer Gelehrsamkeit kaum mehr zu übersehen. Eine Ursache mag insbesondere in der neueren Perspektivierung lexikologischer Fragestellungen im Zuge kognitionswissenschaftlicher For- schungen liegen, die das Wort als Element komplex repräsentierter Strukturen des mentalen Lexikons zu beschreiben versuchen. Doch diese Ausweitung des Forschungsfeldes erklärt die sich zunehmend abzeichnende Beachtung der Lexikologie in der linguistischen Forschung und Lehre nicht allein. Vielmehr darf die offensive Präsenz lexikologischer Forschungen selbst als entscheidender Motor ihrer breiten Rezeption angesehen werden: So verfügt die lexikologische Forschung seit 1995 über eine Internationale Zeitschrift,1 auch widmete sich die Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft 1997 vorran- „ gig dem Lexikon, eine exhaustive Darstellung lexikologischer Forschungsfelder ist als zweibändige Publikation der Handbücher zur Sprach- und Kommunika- tionswissenschaft angekündigt,2 und nationale wie internationale Tagungen erörtern vermehrt lexikologische Gegenstände. Die Substituierung lexikologi- j scher Fragestellungen unter jeweils aktualisierte sprachwissenschaftliche Para- j digmen der letzten Jahrzehnte scheint zugunsten einer Konzentration auf den Stellenwert des Lexikons im Sprachsystem vorerst der Vergangenheit anzugehö- ren. Von besonderem Interesse bei dieser wissenschaftsgeschichtlichen Verschie- bung in der Einordnung der Lexikologie sind die Publikationen für die wissenschaftliche Lehre, sollte es diesen doch in erster Linie gelingen, das Forschungsfeld in angemessenem Überblick darzustellen und auf diesem Weg

1 Lexicology. An international Journal on the structure of vocabulary. Berlin: de Gruyter 1995 ff.

2 Lexikologie - Lexicology. Ein Internationales Handbuch zur Natur und Struktur von Wörtern und Wortschätzen. An international handbook on the nature and structure of words and vocabularies. Hgg. von D. Alan Gruse/Franz Hundsnurscher/Michael Job/Peter Rolf Lutzeier. Berlin: de Gruyter 1998 f. -

Zeitschrift für Sprachwissenschaft 16.1/2 (1997), 272-277

© Vandenhoeck & Ruprecht, 1998 ISSN 0721-9067

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Interesse an der Lexikologie zu wecken. Nach Thea Schippans (1992) Lexikolo- gie der deutschen Gegenwartssprache und Ingrid Kühns (1994) einführender Monographie ist Peter Rolf Lutzeiers Arbeitsbuch der jüngste Versuch, instruktive Aussichten auf das lexikologische Forschungsfeld zu eröffnen. Daß der Autor dieser Einführungspublikation selbst zum Kreis der offensiven Vertreter lexikologischer Forschungen gehört, zeigt zum einen die Parallelität von wachsender Forschungs- und Lehrrelevanz der Lexikologie und verspricht zum anderen den Lesern des Buches einen versierten Zugriff auf die wissen- schaftliche Beschreibung des Wortes wie des Wortschatzes.

Das für den universitären Unterricht durchweg geeignete Arbeitsbuch von P.

Lutzeier folgt im Gesamtaufbau dem Konzept der Stauffenburg-Einführungen:

Jedes Kapitel ist mit einem knappen Abstract versehen, nennt Literatur zur vertiefenden Beschäftigung und schließt zumeist mit Aufgaben für das Selbst- studium. Die wichtigsten Definitionen werden typographisch ebenso hervorge- hoben, wie abstraktere Modellierungen in Graphiken festgehalten sind. Bereits diese leserfreundliche, den Rezeptionsweisen des linguistisch noch nicht versier- ten Lesers angeglichene Inhaltsstrukturierung kennzeichnet das Buch als überlegt konzipierte Einführung. Erscheint die Auswahl der weiterführenden Literatur auch nicht immer verständlich — zumal die Zahl der Titel bei verschiedenen Kapiteln erheblich voneinander abweicht -, so kann dies keineswegs als Nachlässigkeit, sondern vielmehr als Ausdruck der Forschungsp- räferenzen P. Lutzeiers beurteilt werden, denn diese sind durchweg erkennbar.

Jedoch kann kaum übersehen werden, daß die deutliche Gewichtung mancher Teilfragen der Lexikologie dem allgemeinen Anspruch an ein Lehrbuch entgegenläuft. So ist P. Lutzeiers Monographie nicht in erster Linie bemüht, den Forschungskonsens einer wissenschaftlichen Disziplin gleichgewichtet darzu- stellen, sondern zielt auf eine Markierung als wesentlich angesehener Teilfragen.

So steht nicht nur der Umfang der Kapitel in offensichtlich proportionalem Verhältnis zu den bekannten Forschungsfeldern P. Lutzeiers, auch die gesamte Strategie zur Inhaltsvermittlung scheut die persönliche Perspektive nicht. Dies zeigt sich nicht zuletzt im Stil des Buches, der einen Ausgleich zwischen niveauvoller Popularität und versierter Fachlichkeit herzustellen versucht. Es befremdet den über Fachliteratur konditionierten Leser, wenn beispielsweise die Lexikologie als „faszinierende Disziplin" tituliert wird, ein „Ausmaß an Hingabe" von allen an der Lexikologie interessierten Personen verlangt wird (S. VII) und P. Lutzeier etwa im Zusammenhang einer Würdigung der Lexiko- graphie in politisch korrekter Genusdifferenzierung salopp vermerkt, „Insge- samt kann man vor den Unternehmungen der Lexikographen/JLexikographin- nen nur den Hut ziehen" (S. 11). Allerdings steht der mit derartigen Mitteln offenbar beabsichtigte transparente Blick auf das Engagement des Autors den abstraktfachlichen Inhalten nicht im Weg. Wenn auch manche der wissenschaft- lichen Konfessionen P. Lutzeiers im deutschsprachigen Raum als unübliche Praxis auffallen, so werden sie dank der ansonsten um sachliche Darstellungen

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stets bemühten Inhaltsvermittlung von manchem Leser als ein geradezu erfrischendes Moment bei der Lektüre beurteilt werden und mögen geeignet sein, studentischer Lesemüdigkeit entgegenzuwirken. Die Schwerpunktsetzun- gen des lexikologischen Interesses R Lutzeiers ergeben sich im einzelnen wie folgt:

1. Der Terminus 'Lexikologie' wird in äußerst knapper Abgrenzung zur Lexikographie eingeführt und etymologisch hergeleitet. Dabei unterscheidet R Lutzeier das "mentale Lexikon' als individuellen Wortschatz, den 'Wortschatz' als solchen in der Bedeutung einer Menge lexikalischer Elemente einer natürlichen Sprache und schließlich das 'Lexikon', worunter der „Wortschatz im Verhältnis zur Grammatik" (S. 3) verstanden wird. Neben den Aufgaben- beschreibungen der kontrastiven und historischen Lexikologie geht es im Konzept R Lutzeiers insbesondere um die Korrespondenzbeziehungen zwischen diesen drei Wortschatzebenen. Fast zu überlesen ist dabei die prinzipiell idiographische Methodenbestimmung der Lexikologie: „Sowohl Lexikologie als auch Lexikographie müssen für ihre Aufgabenstellungen am Sprachge- brauch ansetzen." (S. 5) Suggeriert der Satz einen diesbezüglichen Forschungs- konsens, so weiß der fachlich informierte Leser, daß R Lutzeier hier einen keineswegs allgemeinen Standpunkt in der traditionsbehafteten Kontroverse zwischen nomothetischer und ideographischer Sprachwissenschaft bezieht. Die einführenden Bemerkungen des ersten Kapitels werden ausgehend von einer kurzen Darstellung der Morphologie und Semantik mit dem Hinweis auf die weitgehenden fachlichen Vernetzungen der Lexikologie innerhalb der Sprach- wissenschaft komplettiert.

2. Mit der Kennzeichnung des Wortschatzes als System von Systemen wendet sich die Darstellung bereits einem wichtigen lexikologischen Gegenstand zu: der Strukturiertheitsannahme. Diese wird über die historischen und referentiellen Dimensionen sowie über die globale Existenz des Wortschatzes begründet. Der bereits hier schon kurzgefaßte Hinweis auf die paradigmatische und syntagmati- sche Relationierung des Wortschatzes läßt die intersystematische Gliederung des lexikologischen Gegenstandsbereiches in hinreichender Präzision erkennbar werden.

3. Eine noch genauere Gegenstandsbestimmung lexikologischer Erkenntnis- interessen erfolgt über die systematische Kennzeichnung der Extension des Wortschatzes. Hier werden Basisbegriffe wie Ausdrucks- und Inhaltsseite ebenso klar verständlich erläutert wie die Verfahren der Semasiologie und Onomasiologie sowie die semiotische Differenzierung von Ikon, Index und Symbol. Überzeugend ist die daraus abgeleitete Matrixübersicht zu den sprachlichen Elementen vom morphologisch einfachen Wort bis zur lexikalisier- ten metaphorischen Wendung und die .so beantwortete Frage, was im Sinne der Lexikologie alles zum Wortschatz gehören soll.

4. Daß R Lutzeier gleichermaßen zu äußerster Knappheit der Darstellung wie zu relativer Ausführlichkeit neigt, zeigt das dreiseitige Kapitel zur Formseite des

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Wortes mit einer einzigen, dazu noch recht willkürlichen Literaturangabe ohne Aufgabenstellungen und das vierzehnseitige Kapitel zur Inhaltsseite des Wortes mit differenzierten Literaturangaben und mehreren Aufgaben. Während es bei der wohl doch sehr kurzen Darstellung der Ausdrucksseite insbesondere um den Begriff des Paradigmas geht, liest sich die Behandlung der Inhaltsseite als ausnahmslos instruktive Erörterung der Fragen zur lexikalischen Bedeutung.

Dabei werden Polysemie, Dimensionen des internen Auf baus wie Familienähn- lichkeiten, Metaphorisierungen etc. ausführlich behandelt. Weniger gelungen ist die Behandlung der Stereotypentheorie, die gemessen an ihrer aktuellen sprachtheoretischen Relevanz fast passim erfolgt. Entsprechend abstrakt er- scheinen die gedrängten Formulierungen des ansonsten problemlos lesbaren Buches; mancher Student wird das Buch hier zunächst zur Seite legen. Nicht unerwähnt bleiben soll auch die fehlende sprachphilosophische Dimensionie- rung der Bedeutungsproblematik. Es ist denkbar, daß eine solche zum vertieften Verständnis zentraler lexikologischer Gegenstände beigetragen hätte.

5. Wiederum mit Präzision und Ausführlichkeit werden in einem weiteren Kapitel die Relationen lexikalischer Elemente auf der Form- und Inhaltsebene behandelt. Zugunsten der Annahme differenzierter Lesarten wird dabei Bedeu- tung als globale und statisch zu fixierende Größe ausgeschlossen. Insofern ist es nur folgerichtig, daß die Synonymie als variable Relation mit verschwommenen Grenzen eingeführt wird, wobei P. Lutzeier mit Verweis auf die bedeutungskon- stituierenden Äußerungskontexte ausführlich die Nichtexistenz absoluter Syno- nymien begründet. Mit Gewinn liest sich gleichermaßen die Darstellung von Bedeutungsverschiedenheiten zwischen Wörtern, die mit Hinweisen auf stereo- typensemantische Determinanten sowohl periphrastisch als auch formal exakt ist.6. Den paradigmatischen Relationen des Wortschatzes werden in der Einfüh- rung zwei Kapitel gewidmet, die entsprechende Strukturen als vertikale und horizontale Beziehungen beschreiben. Bei der Darstellung vertikaler Relatio- nen, die gemeinhin auch als hierarchische Sinnrelationen bezeichnet werden, rekurriert P. Lutzeier unter Behandlung von Aspektrelationierungen auf die Frage nach der Adäquatheit einer Unterscheidung von inner- und außersprach- lichem Sinn. Eine solche weist der Verfasser als „höchst problematisch" (S. 73) zurück und wendet sich damit von einem dogmatischen strukturalistischen Standpunkt erkennbar ab. Die Erläuterungen der vertikalen Relationen, im einzelnen also der Hyponymie- und Partonymie-Relationen, sind im Stil eines ausführlichen Sachwörterbuchs gehalten und damit auch für den isolierten Zugriff auf Informationen zu den Termini geeignet. Gleiches gilt für die Erläuterungen zu horizontalen Sinnrelationen, d. h. zu den kontrastierenden Beziehungen zwischen lexikalischen Elementen. Behandelt werden die Inkom- patibilität, Antonymie, Komplementarität, Konversivität und die Reversivität.

7. Zugleich Aufarbeitung wissenschaftsgeschichtlich wichtiger Positionen der Lexikologie ist das Kapitel zu den syntagmatischen Beziehungen, werden doch

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Begriffe wie 'wesenhafte Bedeutungsbeziehung', 'Assoziation' und 'Kolloka- tion' unter Hinweis auf die einschlägige, auch ältere Forschungsliteratur bestimmt. Besonders ausführlich ist P. Lutzeiers Auseinandersetzung mit Standpunkten des Kontextualismus und die Diskussion neuerer Arbeiten zur lexikalischen Kollokation.

8. Wie für den Fachleser kaum anders zu erwarten, bildet das Kapitel zu Gruppierungen im Wortschatz den quantitativen Mittelpunkt der gesamten Einführung. Hier schließt P. Lutzeier unmittelbar an seine einschlägigen Publikationen an, so daß zwar neue Sichtweisen nicht entfaltet werden, doch eine lehrreiche Gesamtdarstellung der Wortfamilie, des onomasiologischen Paradigmas, des lexikalischen Feldes und insbesondere des Wortfeldes vorliegt.

Die Abhandlung zum Wortfeld ist mit ihren 20 Seiten die gegenwärtig wohl beste einführende Darstellung dieses lexikologischen Zentralbegriffs. Klare Definitio- nen, durchdachte Graphiken und nicht zuletzt eine Fülle an Beispielen kommen den studentischen Lesern ebenso entgegen wie die systematischen Angaben neuester Literatur zur Wortfeldtheorie.

9. Gegenüber der Qualität von Vermittlung und wissenschaftlichem An- spruch bei den Ausführungen zu Gruppierungen im Wortschatz fällt das letzte Kapitel des Buches zu dynamischen Aspekten bei Wörtern und im Wortschatz knapper und fragmentarischer aus. Nachvollziehbar werden lexikalische Varia- tion und Sprachwandel als „im Wortschatz selbst angelegte Dynamik" (S. 130) bestimmt, doch wünschte man sich hier eine ausführlichere Behandlung der ausgesprochen interessanten kognitiven Lesart diatopischer und diaphasischer Gliederungen des Lexikons. In sprachlicher Variation und sprachlichem Wandel Phasen unterschiedlicher Konzeptualisierungen der Wirklichkeit zu erkennen, gehört keineswegs zu den gängigen Erklärungsmustern der Linguistik, so daß eine differenzierte Darstellung solcher auch sprachgeschichtlich interessanter Konzepte als Desiderat bestehen bleibt.

P. Lutzeiers Einführung ist in der Gesamtbeurteilung eher als ausführliche, zuverlässige und leserfreundliche Darstellung von Teilfragen der Lexikologie einzuordnen - insbesondere der Wortfeldtheorie - denn als flächendeckend- instruktive Erörterung der Wissenschaft des Wortes insgesamt. Als solche schließt die Monographie allerdings eine wichtige Lücke und ergänzt die bereits vorliegende Literatur. Das mit 134 Lemmata ungewöhnlich ausführliche Glossar des Bandes steht dabei differenzierter Wissensvermittlung hilfreich zur Seite. Es sei jedoch noch vermerkt, daß das Buch eine Ungeschicklichkeit aufweist, die allerdings nicht zu Lasten des Verfassers, sondern des Verlages geht: Der eigentlich zu begrüßende Index weist lediglich auf Kapitel hin, so daß die Suche nach Stichwörtern im Text nur mit ziemlichem Aufwand zu bewerkstelligen ist. Gemessen an der sonstigen Qualität des Buches handelt es sich hierbei allerdings um eine fast belanglose Bemerkung.

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Literaturnachweis

Kromann, Hans-Peter u, a. (Hg.) (1995): Von der Allgegenwart der Lexikologie. Kontrasti- ve Lexikologie als Vorstufe zur zweisprachigen Lexikographie. Tübingen: Niemeyer.

Kühn, Ingrid (1994): Lexikologie. Eine Einführung. Tübingen: Niemeyer.

Schippan, Thea (1992): Lexikologie der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen: Nie- meyer.

PD Dr. Ingo Warnke, FB09 Germanistik, Universität Kassel, 34109 Kassel

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Rezension von: Lohnstein, Horst: Projektion und Linking.

Ein prinzipienbasierter Parser fürs Deutsche

Tübingen: Niemeyer 1993 (Linguistische Arbeiten 287)

Die Ablösung der erweiterten Standardtheorie durch die Prinzipien- und Parameter-Theorie Chomskys (1981; 1986) führte während der 80er Jahre in der Psycholinguistik - zumindest im Bereich der syntaktischen Analyse bei der Rezeption, beim Parsing, - zunächst zu einer gewissen Stagnation in der Entwicklung neuer, modularer Modelle. Es war nicht nur unklar, wie die traditionell als Regeln formulierten syntaktischen Abhängigkeiten in Form von interagierenden Prinzipien implementiert werden könnten, man war zudem auch dem Postulat psychologischer Realität verpflichtet, das nach einer Umsetzung verlangte, die bspw. den bekannten garden /?a*A-Effekten gerecht werden sollte. Die ersten Ansätze zu modularem Parsing vernachlässigen denn auch den zweiten Komplex, so z. B. Abney (1985; 1986), Barton Jr. (1984) oder Kuhns (1986). Wie wir sehen werden, vermag dagegen Horst Lohnsteins Parser beide Aspekte zu modellieren.

Bereits im Titel der hier in Buchform vorliegenden Dissertation von Horst Lohnstein verweist der Autor mit den Begriifen „Projektion und Linking" auf die zentralen Eigenschaften seines Parsersmodells.

Jedes Input-Element, d. h. jedes Wort, projiziert auf der Basis der mit ihm lexikalisch verknüpften kategorialen Eigenschaften einen syntaktischen Teil- baum im Sinne der X-bar Theorie. Lexikalische Elemente projizieren bis X1, funktionale Elemente (außer TNS) nach Fukui/Speas (1986) bis X2. Nur letztere lizensieren demnach einen Spezifikator, ein 'Subjekt'. Diese Teilbäume werden, soweit sie unvollständig sind oder zum Zeitpunkt ihres Auf baus nicht weiterver- arbeitet werden können, in einem Kellerspeicher abgelegt. Linking bezeichnet die Operation der Einbindung von vollständigen Teilbäumen, d. h. von Teilbäu- men, deren Argumentpositionen gefüllt sind, in unvollständige Teilbäume. Die korrekte Einbindung wird durch sog. Linkingmerkmale, z. B. Kasus, und durch die Rektionsrichtung des Kopfes gesteuert. Indem sie wie kategoriale Merkmale an die maximale Projektion des Teilbaums perkolieren, sind Linkingmerkmale jederzeit über den maximalen Knoten zugänglich. Die Rektionsrichtung gibt dabei an, wo ein Teilbaum zu erwarten ist, daß er bei Kopf-Endstellung bereits im Kellerspeicher liegen sollte bzw. bei Kopf-Erststellung noch in der Input- Kette erscheinen wird. Sobald eine Konfiguration vorliegt, in der ein vollständi- ger Teilbaum in seinen Merkmalen mit den ungesättigten Merkmalen in einer

Zeitschrift für Sprachwissenschaft 16.1/2 (1997), 278-292

© Vandenhoeck & Ruprecht, 1998 ISSN 0721-9067

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Position in einem unvollständigen Teilbaum übereinstimmt, erfolgt Linking.

Der Strukturaufbau ist erfolgreich abgeschlossen, wenn alle Teilbäume ge- linkt sind, gelingt diese Einbindung nicht vollständig, ist der 'Satz' ungramma- tisch.

Inhaltliche Zusammenfassung

In insgesamt zwölf Kapiteln legt Lohnstein dieses Modell und seine psycholin- guistische Motivation im Detail dar (vgl. auch Lohnstein, 1994).

Die ersten vier Kapitel beinhalten grundlegende Überlegungen zum Verhält- nis von Grammatik und Verarbeitung und geben einen Überblick über einige terminologische und konzeptuelle Fragen sowie über unterschiedliche Par- singstrategien.

Im fünften Kapitel führt Lohnstein in den relevanten formalen Ausschnitt der Automatentheorie ein und stellt seinen Parser als LR(k)-Parser mit einem auf 5-7 Zellen beschränkten Kellerspeicher vor. Das sprachliche Signal muß vom Parser deterministisch von links nach rechts, möglichst schnell und bei begrenztem Arbeitspeicher in eine Struktur überführt werden. Ihm sind zu jedem Verarbeitungszeitpunkt nur zwei Informationsstrukturen, nämlich der aus dem Input erzeugte und der in der obersten Kellerzelle abgelegte Baum , zugänglich.

Der benötigte grammatische Hintergrund, d. h. insbesondere der Informa- tionsgehalt lexikalischer Einträge, ihre semantische Form als prädikatenlogi- sche Ausdrücke, die X-bar-Theorie, die Vergabe von -Rollen und das für die Linkingprozesse entscheidende Merkmalsvokabular, werden im sechsten Kapi- tel dargestellt. Dabei wird auch deutlich, daß der Parser zwar die Information über die mit kontextfreien Regeln abzuleitende D-Struktur berechnen muß, um etwaige Umstellungsprozesse ohne morphologischen Reflex zu diagnostizieren, daß diese kanonische Serialisierung jedoch nicht in Form einer eigenständigen Repräsentationsebene erhalten bleiben muß.

Das siebte Kapitel behandelt die Linkingtheorie. Anhand von Beispielen kann der Leser die Verarbeitungsschritte verfolgen und erhält dadurch ein genaues Verständnis über den Prozeßablauf. In Anlehnung an Kaynes (1984) Konzept der Konnektivität und Kosters (1987) Domänendefinition werden erlaubte Linking-Konfigurationen auf die Rektionsrichtung des Kopfes zurück- geführt. Eine unerlaubte Extraktion etwa, die die Bedingung der Globalen Harmonie, also die hierarchische Abfolge von rektionsrichtungskonformen X°-Elementen, verletzt, kann damit auch als unerlaubte Linking-Konfiguration identifiziert werden. Da Rektionsrichtungsmerkmale zum lexikalischen Eintrag gehören, ist gewährleistet, daß ein terminales Element selbst die Steuerung des Linkingprozesses übernimmt.

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Ein besonderes Problem bei der Beschreibung des Deutschen ist die unter- schiedliche Verbstellung in Haupt- und Nebensätzen. Lohnstein schlägt dazu im achten Kapitel vor, verschiedene Satzstrukturen auf die Interaktion von Merkmalen zurückzuführen und Sätze als Modusprojektionen (MP) zu analy- sieren (vgl. dazu Reis/Rosengren, 1988; Reis, 1991). Temporale und modale Merkmale bleiben dabei auch semantisch unterschieden. Lohnstein erreicht damit, daß Verbanhebung und/oder ein lexikalisierter modaler Kopf (C° = M°-Elemente) in Abhängigkeit von der SpezMP-Besetzung (z. B. durch ± W- Phrasen) den Satzmodus kompositional festlegen können. So führt bspw. ein nach M° angehobenes Verb bei unbesetzter SpezMP-Position zwar zur Festle- gung des Satzmodus auf Interrogativ, da das Verb aber (anders als daß, ob) die eine Proposition installierende Ereignisvariable allein nicht zu binden vermag, entspricht nicht nur die syntaktische Form derjenigen eines VI-Satzes, sondern auch die semantische Repräsentation derjenigen einer Offenen' Proposition.

Diese Annahmen erlauben es dem Parser, zur Rekonstruktion der Satzstruk- tur jeweils nur die serielle Information heranzuziehen. Trifft er auf das finite Verb, kann daraus zunächst die VP, TNSP und AGR-Projektion aufgebaut werden. Befindet sich nun keine Phrase im Kellerspeicher, muß es sich um eine Entscheidungsfrage handeln, und der Satzmodus kann festgelegt werden (Vl-Satz). Befindet sich eine [± W]-Phrase in der obersten Kellerzelle, kann die atzmodusprojektion wiederum festgelegt werden (V2-Satz), sofern nicht bereits andere Mittelfeldkonstituenten integriert worden sind (V-End-Satz). Ein u. U.

vorausgegangenes M°-Element liegt als MP-Projektion im Kellerspeicher und zeigt direkt V-Endstellung an. Zur Festlegung des Satzmodus wird dann nunmehr der verbale Modus absorbiert.

Nur Fälle von W-Bewegung bei intransitiven Verben ohne weitere Mittelfeld- konstituenten, z. B. in Wer tanzt?' vs. (Ich frage,) wer tanzt?(vg^. Lohnstein, 1993:

162 f.) bleiben für den Parser ambig, insofern als beim Auftreten des Finitums nicht zu entscheiden ist, ob es sich um V2- oder V-Endstellungssätze handelt.

Intonatorische Information kann diese Ambiguität jedoch auflösen.

Im neunten Kapitel geht Lohnstein auf Infinitivkonstruktionen ein. Da die Input-Kette dem Parser keine morphosyntaktischen Hinweise auf funktionale Projektionen liefert, werden ACI-, Raising- und Kontrollkonstruktionen syn- taktisch gleich, und zwar als V'-Projektionen behandelt. Die strukturelle Einbindung eines solchen Komplexes erfolgt über das Statusrektionsmerkmal, das als lexikalische Eigenschaft des Matrixverbs an ein V'-Komplement vergeben wird. Die unterschiedliche Interpretation des externen und referentiel- len Arguments in verschiedenen Strukturen ergibt sich somit nur als semanti- scher Reflex und findet keinen Niederschlag in der Struktur. PRO und Spur müssen nicht unterschieden werden, und NP-Bewegung wird nicht strukturell rekonstruiert.

Auch die Berechnung des Skopus von W-Operatoren, die LF-Repräsenta- tion, wird von Lohnstein als semantischer Reflex analysiert, als eine Lambda-

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Operator-Anhebung in der semantischen Form. Diese Annahme hat nicht nur eine syntaktische Gleichbehandlung von [+W]-Phrasen und den Verzicht auf LF-Bewegung zur Folge, sie erlaubt auch eine direkte Ableitung des Skopus von in-situ-W-Phrasen, vermindert den Verarbeitungsaufwand bei multiplen Frage- sätzen, da die Anzahl möglicher Operatoren nicht vorab anzugeben ist, und umgeht evtl. notwendig werdende LF-Rekonstruktionen. Das zehnte Kapitel behandelt darüber hinaus die Verarbeitung von kurzer und langer W-Bewegung.

Kurze W-Bewegung kann lokal unter Zuhilfenahme eines Indexperkolations- mechanismus berechnet werden. Von einer fehlenden Argumentstelle aus perkoliert ein Missing-Element-Merkmal entlang einer global uniformen g- Projektionslinie (Kayne, 1984; Koster, 1987). Bildet diese mit der SpezMP- Position einen Teilbaum, erfolgt lokales Linking mit der W-Konstituente in der obersten Kellerzelle. Bei langer (zyklischer) W-Bewegung wird eine nicht im jeweiligen Matrixsatz zu integrierende W-Phrase als Spur an die SpezMP- Position eines abhängigen Satzes weitergereicht, bis wiederum eine Konfigura- tion entsteht, die einer kurzen W-Bewegung entspricht.

Die beiden abschließenden Kapitel enthalten einige Angaben zur Implemen- tation, die in einem LISP-Dialekt erfolgte, und eine Zusammenfassung.

Diskussion der Arbeit im Forschungszusammenhang

Bereits in dieser Kurzfassung von Lohnsteins Arbeit dürfte deutlich geworden sein, daß darin Ergebnisse aus drei zentralen Forschungsbereichen der Sprach- wissenschaft, nämlich der semantischen Repräsentation, der Syntaxtheorie und der Sprachproduktion, in ein sehr ansprechendes und kohärentes Modell integriert worden sind. Wenden wir uns im folgenden einigen psycholinguisti- schen Aspekten zu.

Man mag sich grundsätzlich fragen, ob und auf welche Weise Parsing überhaupt modular sein soll und wie der Zusammenhang zwischen Grammatik und Verarbeitung ist (vgl. dazu z.B. Berwick/Weinberg, 1984; Berwick u.a., 1991; Kolb/Thiersch, 1990). Nun bedingt zwar grammatische Modularität nicht notwendig eine entsprechende funktionale oder architektonische Modularisie- rung der Verarbeitung, dennoch scheinen manche Ergebnisse empirischer Untersuchungen indirekt auf arbeitsteilige Prozesse bzw. Modularisierung hinzuweisen. So konnten bspw. Frazier u. a. (1983) zeigen, daß die Antwortzei- ten bis zum korrekten Verständnis eines Satzes von der Distanz zwischen einem

„filier" und dem „gap" abhängt. Sie schlössen daraus, daß als Default zunächst blind die nächstliegende NP als filier gewählt wird und daß, erst wenn dies später zu einem Fehler führt, in einer aufwendigeren Suche der tatsächliche filier ausgemacht werden muß. Arbeitsteiliges, modulares Parsing als Erklärung dafür liegt hier nahe.

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Crain/Fodor (l 985) haben diesen Ansatz in der Folge kritisiert und gezeigt, daß grammatische Regeln und Informationen on-line genutzt und daß gramma- tische Prinzipien beachtet werden. Sie bestätigen die „recenf-filler"-StT&te&e jedoch für lokal ambige Sätze wie (l a, b), zu deren Verarbeitung die Grammatik an der Position der ersten Lücke keine eindeutige Information über die Beziehung zwischen filier und gap bereitstellt.

(1) a. Everyone liked the woman (whOj) the childj begged EC<3 to sing NP for Cj (recent filier)

(Alle liebten die Frau, für die das Kind bat, ein Lied singen (zu dürfen))

b. Everyone liked the woman (whOj) the child begged ^ ECt to sing NP PP (distant filier, wie (2b))

Dieser Aspekt wird in den deutschen Varianten (2 a, b) deutlich, selbst wenn andere Gründe hier für die Ambiguität ausschlaggebend sind und beide ///er-Optionen zu grammatischen Sätzen führen.

(2) a. Alle liebten die Frau diej (SUBJ) ^ das Kindj (OBJ) bat ECj ein Lied zu singen (recent filier)

b. Alle liebten die Frau di^ (OBJ) das Kind (SUBJ) bat e{ EC{ ein Lied zu singen (distant filier)

c. Alle liebten den Mann de^ (OBJ) das Kind (SUBJ) bat e, EC{ ein Lied zu singen (distant filier)

d. *Alle liebten den Mann denj (OBJ) das Kindj (SUBJ) bat ^ EC{ ein Lied zu singen

Eine strikte recent filler-Str&tegie würde allerdings die grammatische Informa- tion AKKUSATIV am Relativpronomen in (2c, d) ignorieren und zunächst die yz//er-£0p-Beziehung (2d) herstellen. Das stimmt nach Crain/Fodors Ergebnis- sen jedoch nicht. Vielmehr nutzen wir ihrer Ansicht nach bei der Verarbeitung ambiguierende Information, soweit sie von der Grammatik respektive dem Lexikon zur Verfügung gestellt wird. Danach verarbeiten wir zwar (2 c) nicht als (2d), doch die intendierte Struktur (2b) tendenziell zunächst wie (2 a).

Im Lohnstein-Parser wird prinzipienorientiertes Parsing durch grammatische und lexikalische Information ermöglicht. Allgemeinere Verarbeitungsstrategien spielen nur eine Rolle für Adjtmkte. Diese werden immer unter „Minimal Attachment" eingebunden. Nur eine, nämlich die vorgezogene Leseart, wird damit prognostiziert. Hinsichtlich der Aufgabenteilung von Grammatik und Sprachverarbeitung schlägt Lohnstein vor, die Trennlinie zu überdenken und bestimmte Prinzipien der Grammatik als Eigenheiten von Verarbeitungsprozes- sen anzusehen. So kann der Parser bspw. keine Kenntnis vom „Empty Category

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Principle" (ECP) haben, und er braucht sie auch nicht, wie anhand von (3 a-c) leicht nachzuvollziehen ist:

(3) a. *Wenj weint _ Hans [ADJUNKTSATZ nachdem Maria e{ besucht hat]

b. * Wenj besucht Hans [ADJUNKTSATZ nachdem Maria ^ besucht _ hat]

Heidi

c. ??Weri hört Hans [KOMPLEMENTSATZ daß _ ^ Maria besucht hat]

Bei der Suche nach einer Lücke für eine Wh-Phrase nutzt der Parser eine acfive-./z/fer-Strategie (vgl. Frazier/Clifton, 1989). Wenn möglich wird also eine Spur in eine potentielle Extraktionsstelle inseriert.

Die Äußerungen in (3) sind ungrammatisch bzw. stark abweichend. Das kann der Hörer jeweils bereits am Punkt _ feststellen, also manchmal weit vor dem Ende eines Satzes. Für die frühe Zurückweisung eines Satzes werden unter- schiedliche Informationen benötigt: Für (3 a) reicht die Kenntnis aus, daß weinen als intransitives Verb kein(en) Objekt(satz) erlaubt. (3 b) wird erst dann ausgeschlossen, wenn innerhalb des Adjunktsatzes ein obligatorisches Argu- ment fehlt. Dazu ist Wissen darüber notwendig, daß Adjunkte Verarbeitungs- inseln sind bzw. daß nur selegierte funktionale Komplemente für die weitere Lückensuche durchlässig sind (vgl. jedoch (7e) unten). Nur letztere können sofort partiell in einen Baum integriert werden. Um (3c) auszuschließen, ist die lexikalisch festgelegte Rektionsrichtung von daß ausschlaggebend. Da es nach rechts regiert, unterbricht es die globale Harmonie der von ihm dominierten Links-Regenten und verhindert, daß eine Linkingkonfiguration entsteht. Verar- beitungstechnisch betrachtet 'erwartet' ein nach rechts regierendes Head gewissermaßen seine Argumente noch, während ein nach links regierendes Head sie schon 'gesehen' haben sollte. Allerdings würde diese Annahme alleine nicht ausreichen, um bspw. COMP-t-Effekte im Englischen zu erklären; daher ist unabhängig davon das Merkmal [± lexikalisch markiert] hier nötig. Ist ein Teilbaum auf Grund von [— lexikalisch markiert] nicht integrierbar, wird quasi eine ECP-Verletzung vorausgesagt.

Damit der Parser überhaupt 'weiß', was er bei einem bestimmten Input- Symbol bzw. mit zwei Teilbäumen zu tun hat, braucht er eine Kontrollstruktur.

Diese wird gewöhnlich als Tabelle im Speicher gehalten und enthält explizite Regeln. Für die Sprachverarbeitung sind das Anweisungen, die Phrasenstruk- turregeln entsprechen. Wie erwähnt sind solche sprach- und konstruktionsspezi- fischen Regeln für eine prinzipienorientierte Verarbeitung ungeeignet. Lohn- stein nutzt daher die im Lexikon enthaltenen Merkmale selbst als Kontrollstruk- tur.

Merkmale sind bspw. grammatische Eigenschaften wie Kategorie, Kasus, W-Merkmale, Modusmerkmale, C-Selektion, Rektionsrichtung sowie das -Raster, die semantische und die graphematische Repräsentation. Sind mehre- re Eigenschaften durch die Wortform z. B. bei einem flektierten Verb festlegbar,

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werden alle projiziert. Die Projektion eines Teilbaums erfolgt also immer bottom-up aufgrund der Merkmale eines Input-Worts in seinem Lexikonein- trag.

Aufgrund der Abhängigkeit der Strukturbildung von Merkmalswerten kann einer Input-Kette bspw. durch eine Umlegung der Rektionsrichtung auf rechts mit dem Lohnstein-Parser auch die syntaktische Struktur einer anderen Sprache, z. B. des Englischen, zugewiesen werden. Auch wenn der Parser nicht zur Modellierung des Fortschritts von Kindern bei der Strukturbildung im Spracherwerb gedacht ist, so läßt sich daraus durch Merkmalsreduktion oder -änderungen dennoch leicht ein Stufenmodell entwickeln, das zeigen kann, wie allein der lexikalische Informationsgehalt, d. h. insbesondere der Komplex der Linkingmerkmale, zu unterschiedlichen Strukturbäumen führt.

Anhand der Rektionsrichtung des aktuellen Worts läßt sich natürlich auch ablesen, wo ein weiterer Teilbaum zu suchen ist, um den gerade bearbeiteten Baum zu vervollständigen. Regiert bspw. dieser Kopf nach links, so ist das oberste Symbol des Stacks zu bearbeiten, d. h. in eine offene Position der aktuell bearbeiteten Projektion einzubinden. Gelingt dies, kann die vom Stack geholte Phrase nicht bewegt worden sein. Gelingt dies nicht, muß der gerade bearbeitete Teilbaum ebenfalls auf den Stack gelegt werden. Sollte kein weiteres Input- Symbol vorhanden sein, ist von einer Umstellungsoperation auszugehen. Dann wird ein 'Hilfsmerkmal' Missing Element entlang der Projektionslinie weiterge- geben und eine Spur in die offene Argumentstelle eingefügt.

Jeder neue Teilbaum wird - soweit möglich - sofort in den bestehenden gelinkt, ansonsten in einem „last-in/first-out"-Kellerspeicher der maximalen Stapeltiefe 7 abgelegt. Diese maschinelle Speicherbegrenzung entspricht der Begrenzung des menschlichen Arbeitsspeichers. Sie führt bei Zentraleinbettun- gen zu einem Speicherüberlauf, dient also der Modellierung unserer Verarbei- tungsschwierigkeiten von Sätzen wie: Der Hund, der die Katze, die auf den Baum, der neben unserem Garten steht, sprang, jagte, gibt auf.

Automatentheoretisch ist der Parser ein Untertyp eines deterministischen Kellerautomaten, ein LR(£)-Parser. Das bedeutet, daß er eingehende Symbole (Wörter) strikt von links nach rechts verarbeitet und dabei mit einer Länge k auf die nächsten eingehenden Symbole vorausschauen kann. Natürlich wird das um so leichter für einen deterministischen Parser, je größer k wird. Da bei deterministischen Parsern nur ein einziger Übergang von einem Zustand in einen anderen erlaubt ist und mit dem Ende der Eingabe im Falle eines grammatischen Satzes auch ein Endzustand im Parse erreicht sein muß, können größere k ebenso wie ein beliebiger Zugang zu den Elementen im Stack seine Entscheidung zunehmend trivialisieren. Der Marcus-Parser (Marcus, 1980) nutzt ein k der Länge 3; der Lohnstein-Parser arbeitet nur auf dem gerade aktuellen Wort, ist also ein LR(0)-Parser (Näheres dazu findet sich bspw. bei Hopcroft/Ullman, 1969). Da über den Stack, der bereits teilweise verarbeitete Symbole in zeitlineär gespiegelter Ordnung enthält, nur ctas oberste Symbol

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zugänglich ist und ansonsten nur das gerade eingehende Wort gelesen werden kann, sind (Teil-) Strukturen aus maximal zwei Teilbauminformationen zusam- menzusetzen. Auch Entscheidungen über die Merkmalsbeschaffenheit eines Input-Worts können nicht verzögert werden. Existieren im Lexikon also bspw.

zwei verschiedene Einträge für ein Wort, so kann ein LR(0)-Parser nicht vorausschauen, um dann aufgrund kontextueller Informationen das richtige davon auszuwählen. Wählt er aber das falsche Wort, führt dies zu einem garden path.

Diskussion

Aus overten W-Bewegungen entstehen neben den kurzen (4 a) auch die im Parsing gefürchteten long-distance-dependencies, wie in (4b, c):

(4) a.

b. [Wenj sagt [Hans [tlf wird er [t2i besuchen]]]]

c. [Wenj sagt [Hans [t^ daß er [t2i besuchen] wird]]]

d. *[Wenj sagt [Hans [t^ daß er ihn mit ihr bekannt _ machen wird]]]

e. Der Hund, der die Katze, die die Maus, die den Käse stahl, jagte, verfolgte, bellt jede Nacht.

Im Rahmen eines Ansatzes, in dem nur der lokale Kontext eine Rolle spielen darf, wäre eine Verarbeitungsstrategie, die nach dem Auftreten der Basisposi- tion (von der Spur f 2i aus) den potentiell unbeschränkten linken Kontext bis zur W-Phase durchsucht, völlig unangemessen. Wie (4e) zeigt, schließt schon die beschränkte Kapazität des Arbeitsspeichers eine Lösung aus, in der unvollstän- dige Teilbäume einfach temporär zwischengespeichert werden.

Mit einer active ^//er-Strategie dagegen läßt sich dieses Problem unter Beachtung von Subjazenz grundsätzlich behandeln. Kann eine 'bewegte' W-Phrase wie in (4b, c) nicht in einen ansonsten vollständigen Teilbaum (des jeweiligen Matrixsatzes) integriert werden, wie es bei kurzer Bewegung in (4 a) aufgrund der -Information des Verbs möglich ist, so ist für die Spec-C'-Position des Komplementsatzes eine Spur zu prognostizieren. Sollte im Verlauf der Verarbeitung keine Basisposition für diese Spur auftreten (4d), kann der Parse nicht abgeschlossen werden - der Satz ist ungrammatisch.

Betrachtet man Haupt- und Nebensatz als im wesentlichen isolierte Teilsätze, wäre dieses Vorgehen jedoch ad hoc. Ein grundsätzlicher Lösungsansatz ergibt sich, wenn man wie Lohnstein bspw. in Anlehnung an die Annahmen von Reis/Rosengren (1988) von einer Verknüpfung bestimmter Merkmale von Teilsätzen ausgeht. Wie oben ausgeführt, ist dies hier das Modussystem. Das 'Wissen' über das Modussystem kann dem Parser helfen, dislozierte Phrasen als solche zu diagnostizieren und Ungrammatikalität aufgrund der Merkmalsver-

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letzung in MPt wie bspw. in * Wen{ fragte ihn Hans (^Erna hat [tj besucht^ zu erkennen,

Prozessual betrachtet legt der Lohnstein-Parser bei langer W-Extraktion nach der Verarbeitung des einen weiteren Komplementsatz l-seiegierenden Verbs also eine Spur als oberstes Symbol auf dem Stack. Daraufhin wird die Projektion des nächsten Wortes, des MO-Kopfes aufgebaut. In die Spec-M'-Position kann sodann die Spur eingebunden werden» Dieser Prozeß ist so lange itcrierbar, bis innerhalb eines Komplementsatzes eine Basisposition gefunden wurde.

Entscheidend für die korrekte Einbindung einer Spur ist vor allem der Zeitpunkt, zu dem dieser Schritt erfolgt. Sollte es sich, anders als eben beschrieben, tatsächlich so verhalten, wie in den Beispielen Lohnsteins angedeu- tet wird (S, 190 f.), nämlich so, daß die Einbindung in Spec-M' so lange hinausgezögert werden kann, bis der nächste Teilsatzbaum vervollständigt ist, würde dem Parser indirekt ein "look-ahead" bis zur nächsten Satzgrenze zugestanden.

Muß eine nicht gelinkte W-Phrase jedoch beim Auftreten eines Indikators für einen neuen Teilsatz sofort über eine Spur eingebunden werden, wie andere Konstituenten auch, so sind spezifische Fehler zu erwarten. Beispielsweise würde der Parser satzeingeleitete Komplementsätze wie Wemi fragte!sagte Hans [tj sei [*tp, daß Maria in Urlaub fahre] schon bekannt systematisch falsch analysieren, Menschen dagegen nicht. Die Spur tpi würde vom Parser demnach fälschlicherweise eingefügt.

Natürlich kann man sich eine ganze Reihe mehr oder minder vertrackter Beispiele ausdenken, die der Parser mit den angegebenen Mitteln nicht korrekt analysiert. Darunter fallen Rattenfänger-Konstruktionen wie Welcher Mann, den zu vergessen die 40- Jährige sich anschickte, wird 50, Topikalisierungen nach Scrambling von Konstituenten der Art Zu vergessen hat die Frau den Mann mit 40 versucht oder auch „parasitic gap" - Konstruktionen der Art Das ist das Buch, welches Peter, ohne zu bezahlen, mitgenommen hat. Da deren Analyse jedoch selbst unter Syntaktikern umstritten ist, sollte man daraus kein

Argument machen.

Mit anderen Beispielen kann man besser zeigen, welches die nächsten Fragen sind, die bei der Konstruktion eines Parsers in Angriff genommen werden müssen. Der Kontrast zwischen (5 a) und (b) besteht darin, daß die W-Phrase in (a) als Objekt von helfen konstruiert werden muß, in (b) dagegen als Objekt von glauben oder von sagen. Eine Entscheidung auf der Basis des aktuellen Input-Worts ist nicht möglich. Also müßte der Lohnstein-Parser entweder (5 a) oder (5 b) falsch analysieren. Nur wenn die Entscheidung über die Insertion einer Spur in Spec-M' tatsächlich bis zum Aufbau der vollständigen Teilsatz- struktur hinausgezögert werden kann, könnten beide Sätze richtig geparst werden. Dies widerspräche jedoch dem Prinzip der schnellstmöglichen Einbin- dung und gäbe dem Parser - wie erwähnt - ein Struktur- und inhaltbezogenes look-ahead von Teilsatzlänge.

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(5) a. Wem hat Maria geglaubt, daß Peter gesagt hat, daß sie helfen soll.

b. Wem hat Maria geglaubt, daß Peter gesagt hat, daß sie Franz helfen soll.

c. Wen hat Maria geglaubt, daß Peter gesagt hat, daß sie besuchen soll.

d. * Wen hat Maria geglaubt, daß Peter gesagt hat, daß sie ihn besuchen e. Er hat es nicht gelungen. <- Ihm ist es nicht gelungen./Er hat es

nicht geschafft.

Für Menschen sind die Sätze letztlich zwar kein Problem, doch scheint dies eher für eine parallele Verarbeitung oder einen garden path zu sprechen. Meine vorgezogene Leseart ist die Objekt-zu-g/aw&ew-Leseart der W-Phrase in (5b).

Gibt es einen Kontrast zwischen (5 a) und (5 c), dann bedeutet dies, daß wem als potentieller^/fer in (5 a, b) auch vom Parser falsch gelinkt werden sollte. Es läge eine lexikalische Ambiguität, ein garden path, vor, zu dem es angesichts der eindeutigen Kasusmerkmale in (5 c, d) gar nicht erst kommt.

Andererseits ließen sich (5 a, b) auch durch parallele Verarbeitung erklären.

Wenn - ausgelöst durch unterschiedliche lexikalische Informationen zu einem Element oder durch Aktivierung weiterer form- oder bedeutungsähnlicher Elemente - mehrere Strukturanalysen gleichzeitig aufgebaut werden, dann entsprächen vorgezogene Lesarten der kontextuell meisterwarteten Analyse.

Der schnelle Zugriff auf eine alternative Leseart (z. B. bei Adjunkten) unterstützt diese Deutung ebenso, wie Sprachproduktionsdaten des Satzverschränkungs- typs (5e) (vgl. Leuninger, 1987; Garrett, 1988).

Demnach ist zwar recht sicher, daß wir von einem Zusammenspiel verschiede- ner Faktoren wie Kontextinformation, lexikalischer Ambiguität (Form, Bedeu- tung, Subkategorisierung usw.), Minimal Attachment oder anderer Strategien, Häufigkeit, paralleler Verarbeitung usw. ausgehen müssen. Wie sich das alles in der Konzeption des Parsers niederzuschlagen hat, ist jedoch noch unklar. Im Rahmen des streng deterministischen Lohnstein-Parsers wird natürlich nur eine Struktur aufgebaut, Adjunkte werden unter Minimal Attachment ohne festge- legte Basisposition eingefügt, d. h. nur eine Leseart ist abzuleiten, und garden pafhs entstehen potentiell ab der Wortzahl drei (ein Knoten im Stack, ein

Element im Input, eines unbekannt).

Der Lohnstein-Parser kann lokal gescrambelte Konstituenten und/bzw.

durch -Bewegung umgestellte Konstituenten im allgemeinen problemlos auf ihre Basispositionen beziehen, indem sie über ihr Kasusmerkmal in die zugrundeliegende Position gelinkt werden, sobald ein Knoten als oberstes Stacksymbol zugänglich wird. Ausnahmen bilden gespaltene Konstituenten wie in (6 a, b). Da eine einmal festgelegte Struktur im weiteren Verlauf des Parse nicht rückgängig gemacht werden kann, können auch einmal abgeschlossene

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Phrasen nicht wieder geöffnet werden. (6 a, b) wäre für den Parser also quasi ein garden path, für Menschen jedoch nicht. { (6) a. MännerAICK kannten sieNOM vieleAKK (Sie kannten viele Männer)

b. MännerNOM kannten ihnAKJC viele^^ (Es kannten ihn viele Männer) Der Ansatz, maximale Sätze als Projektionen eines Modussystems zu analysie- ren, könnte gegebenenfalls auch vorteilhaft zur grammatischen Erklärung bzw.

zur Verarbeitung von Extraktionen aus Infinitiven genutzt werden. Dazu ist allerdings noch zu klären, wie das Tempus-, Modus- und Aspektsystem interagieren (vgl. (7 a) vs. (7d)). Dies gilt auch für Adjunktextraktion (7e) (Chomsky, 1986). Zudem sind lexikalische Eigenschaften des Verbs involviert, die eine Extraktion leichter (7 a) oder schwerer (7 b, c) machen. Die Abbruchbe- dingungen für den Parse sollten daher in unterschiedlichen Positionen (_) 'wirken'.

(7) a. Wenj verspricht er [nicht ohne einige Vorbehalte] [zu tj konsultieren]

b. ?Wenj zwingt er sie _ [zu tj konsultieren]

c. ?Wenj befiehlt _ er ihr [zu tj konsultieren]

d. *Wenj verspricht er [daß _ er t{ besucht]

e. Who£ was John too clever _ [ADJUNKT-cpto ta^ to tj

Falls es sich in (7e) tatsächlich um eine Extraktion aus einem basisgenerierten infinitivischen Adjunkt handelte, so wäre in der derzeitigen Konzeption des Parsers an der Stelle _ ein Abbruch zu erwarten (3 a). Gibt es also Adjunktext- raktion, so ist unklar, wie sie verarbeitet wird. Der starke Kontrast, den viele Sprecher zwischen Sätzen wie ? Wen war Peter zu klug [(um) zu belügen] und * Wen besucht Peter den Freund [um zu belügen] sehen, könnte jedoch sowohl auf Verarbeitungsprozesse als auch auf einen grammatiktheoretischen Unterschied zurückzuführen sein.

Beleuchten wir nochmals Lohnsteins Behandlung von komplexen W-Phra- sen, wie [In welchem Buch] hast du das gelesen, multiplen W-Fragen und W-Phrasen in-situ, wie Du hast das [in welchem Buch] gelesen.

In-situ-W-Elemente werden im Strukturbaum in-situ belassen. Ihre Opera- tor-Eigenschaften werden nicht als syntaktische, sondern als semantische Eigenschaft betrachtet. Demgemäß wird Operator-Bewegung durch eine Lamb- da-Operator- Anhebung in der semantischen Form (SF) realisiert. Dabei werden dieselben Linkingprozeduren und -merkmale verwendet wie zur Erstellung des Phrasenstrukturbaums. Um also bspw. die Bedeutung einer multiplen W-Frage WerOP1 hat das woOP2 gelesen zu berechnen, muß die LF- bzw. die SF- Repräsentation eine den auftretenden W-Phrasen entsprechende Zahl von Operatoren aufweisen, also LF: [Op2-(wo) [Opi-(wer)[ ^ hat das e2 gelesen]]]

bzw. SF: Ldx2 Ldx1 [[UNKNOWN xx: PERSON x '

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[UNKNO WNx2: LOC x2]]. Da der Parser an der linken Peripherie nicht wissen kann, ob und wieviele Operatoren einzusetzen sind; andererseits aber sicherge- stellt sein muß, daß Operator-Anhebung stattfinden kann, bietet es sich an, diese Informationen direkt über Repräsentationen der SF zu berechnen, zumal bei der Verarbeitung durchweg auf die SF zugegriffen wird. LF-Bewegung wird also als Operator-Anhebung verstanden, die mit jedem Linkingschritt eine Operator- Eigenschaft auf die nächsthöhere Projektion überträgt.

Aus der Darstellung geht bereits hervor, daß W-Phrasen in einen Operator- Teil und einen Bedeutungsanteil zerlegt werden. Dies ist aus unabhängigen Gründen motiviert. Es erklärt bspw., weshalb eine W-Phrase in einer Echofrage, wie Er hat WOmit gerechnet (mit Fokussierung des Operator-Teils) keinen Skopus über den Satz, sondern nur über ihre Phrase hat. Auch die Möglichkeit, die W-Phrase in-situ zu realisieren, sie syntaktisch also nicht wie eine W- Operator-Phrase bewegen zu müssen, ergibt sich daraus (vgl. Reis, 1991). Da solche Beispiele zu belegen scheinen, daß eine syntaktische Analyse, die allein auf [w]-Merkmale rekurriert, unzutreffend ist, ist der vorgeschlagene Lösungs- ansatz nicht nur grammatiktheoretisch motiviert, sondern auch verarbeitungs- technisch vorteilhaft.

Allerdings ergeben sich aus der semantischen Dekomposition auch altbe- kannte Probleme. Wenn bspw. die Bedeutung eines Verbs wie geben approxima- tiv mit X verursacht den Zustand, daß hat respektive mit [e INST] [x DO-CAUSE [BECOME [y H AVE z]]]], charakterisiert wird, dann würde man bspw. gerne wissen, welche und wieviele semantischen Primitive anzusetzen sind und wodurch sich geben bspw. von schenken, reichen, übergeben unterscheiden läßt.

Von der Vielzahl der Probleme, die in diesem Zusammenhang auftreten, möchte ich nur auf eines zu sprechen kommen, nämlich Dekomposition (vgl.

dazu Fodor u. a., 1975). Psycholinguistisch relevant kann nur diejenige Dekom- position sein, die sich belegbar auf die Verarbeitung niederschlägt. Wenn also bspw. Junggeselle verarbeitet wird, dann spielen dabei zwar syntaktische, lexikalische, phonologische und morphologische Eigenschaften des Wortes eine Rolle, die mögliche semantische Analyse in NICHT-VERHEIRATET aber nicht. Wird dagegen verneinen, abstreiten, leugnen verwendet, so zeigt sich im Englischen zumindest ein overter Effekt einer semantischen Dekomposition in NICHT + VERB in (8 a):

(8) a. John denies anything/*something

b. Wer es vermeiden kann, die Autobahn nicht zu benutzten, der sollte es tun.

Auch für das Deutsche läßt sich ein solcher Dekompositionsprozeß annehmen, z. B. bei -Präfigierung oder für vermeiden in (8 b), sofern man Sprachverarbei- tungsfehler, wie sie in Versprechern manchmal auftreten, als Evidenz akzeptiert.

Abbildung

Tabelle l zeigt einige Beispiele. Die Versuchspersonen sollten für jedes Wortpaar beurteilen, ob es für sie akzeptabel wäre, wenn als Antwort auf eine Suchfrage, in der Wort A verwendet wurde, ein Dokument abgerufen würde, das zwar nicht A, statt dessen ab

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