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Archiv "Psychische Erkrankungen: Hohes Aufkommen, niedrige Behandlungsrate" (15.02.2013)

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Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 110

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Heft 7

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15. Februar 2013 A 269 PSYCHISCHE ERKRANKUNGEN

Hohes Aufkommen, niedrige Behandlungsrate

Das Psychomodul des Deutschen Gesundheitssurveys fördert endlich zuverlässige Aussagen über Prävalenzen und die Versorgungswirklichkeit zutage.

G

enau 33,3 Prozent der Be- völkerung weisen aufs Jahr gerechnet eine oder mehrere kli- nisch bedeutsame psychische Stö- rungen auf. Die höchsten Präva- lenzen treten überraschenderweise bei jungen Leuten auf. Frauen sind von psychischen Erkrankungen geringfügig mehr betroffen als Männer. Erhebliche geschlechts-

spezifische Unterschiede gibt es indes bei einzelnen Diagnosen, wie Angststörungen und Depressi- on. Psychische Störungen treten häufig zusammen auf oder gehen mit anderen Erkrankungen einher.

Mit der Komorbidität nimmt auch die Arbeitsunfähigkeit rapide zu:

Kommt ein Drittel aller Personen mit psychischen Störungen inner- halb von vier Wochen auf „nur“

einen Fehltag, so steigt der Anteil bei Multimorbidität von 63 Pro- zent (bei drei Diagnosen) auf na- hezu 90 Prozent (bei fünf Diagno- sen). Nur 42,9 Prozent der von ei-

ner psychischen Krankheit Betrof- fenen hatten deswegen jemals Kontakt zum Medizinsystem. Die niedrige Behandlungsrate hält Prof. Dr. phil. Hans-Ulrich Witt- chen, Dresden, für alarmierend (siehe 3 Fragen an . . .).

Insgesamt sei die Bevölkerung in den letzten zehn Jahren nicht „psy- chisch kränker“ geworden, versi-

cherte Wittchen beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psych iatrie, Psychotherapie, Psy- chosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) im November 2012. Die Gesamtprävalenz von einem Drit- tel liege sogar ein wenig unter der in der Europäischen Union mit 38,2 Prozent. Auch sein Kollege Prof. Dr. rer. nat. Frank Jacobi, Dres- den/Berlin, gab sich vor der Presse gelassen: Psychische Gesundheits- störungen gehörten zum normalen Leben. Zu beobachten sei eine Ver- lagerung von Störungen, nicht eine Erkrankungszunahme.

Aussagen zur psychischen Ge- sundheit von Erwachsenen in Deutschland enthält der Deutsche Gesundheitssurvey (DEGS) und vor allem dessen Modul „Psy- chische Gesundheit“. Der DEGS wurde zwischen November 2008 und Dezember 2011 vom Robert- Koch-Institut (RKI) erhoben und fragte nach den großen Volks- krankheiten Diabetes und Adiposi- tas, nach körperlicher Aktivität von Erwachsenen und Funktions- einschränkungen im Alter, außer- dem nach vier besonders ver - breiteten psychischen Störungen:

Stress, Schlafstörungen, Depres- sionen und Burn-out. Erste Ergeb- nisse wurden bereits im Juli prä- sentiert.

Viele Spezialauswertungen Auf dem Kongress der DGPPN, der im November 2012 in Berlin statt- fand, wurde nun das Modul „Psy- chische Gesundheit“ des Surveys (DEGS-MH, wobei MH für Mental Health steht) näher vorgestellt. Mit dieser Zusatzuntersuchung hatte das RKI das Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Technischen Universität Dres- den beauftragt. Wittchen, der Leiter des Instituts, und sein Studienmit- streiter Jacobi berichteten in Berlin zusammen mit Dr. phil. Ulfert Hap- ke von der Abteilung Epidemiolo- gie nichtübertragbarer Krankheiten des RKI (siehe auch www.degs-stu die.de). Weitere Ergebnisse wird eine Basispublikation enthalten, die für Mai 2013 angekündigt ist. Ab 2014 sollen die DEGS-Daten öf- fentlich zugänglich sein. Zu erwar- ten ist eine Vielzahl von Spezial- auswertungen. Denn die Fülle und die Qualität der Daten vom DEGS Jedes Jahr wei-

sen 33,3 Prozent der Bevölkerung eine oder mehrere psychische Störun-

gen auf.

GRAFIK

Was sind die häufigsten psychischen Störungen?

Anorexia nervosa Körperlich bedingte psychische Störungen

Medikamentensucht Posttraumatische Störungen (PTBS) Psychotische Störungen Bipolare Störungen Somatoforme Störungen Zwangsstörungen Unipolare Depression Alkoholstörungen Angststörungen

0 2 4 6 8 10 12 14 16 0,7

0,9 1,5

2,4 2,4 2,8

3,3 3,8

8,2 11,2

16,2

Zwölfmonatsprävalenz (in Prozent)

Quelle: Robert Koch-Institut Berlin

T H E M E N D E R Z E I T

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15. Februar 2013 und dem Zusatzmodul lassen die

Herzen der Epidemiologen höher schlagen.

Die Methodik war aufwendig.

Bereits bei der DEGS-Kernuntersu- chung wurden 8 152 repräsentativ ausgewählte Personen zwischen 18 und 79 Jahren von zwei ärztlich ge- leiteten mobilen Teams an 180 über Deutschland verteilten Standorten nicht nur befragt, 7 116 von ihnen wurden auch körperlich untersucht, einschließlich Laboranalyse von Blut und Urin. Bei den über 64-Jäh- rigen wurden zudem die kognitiven Fähigkeiten getestet.

Die Zusatzuntersuchung „Psy- chische Gesundheit“, die zwischen September 2009 und April 2012 lief, setzte noch eins drauf: 5 318 Personen aus der DEGS-Stichpro- be wurden anhand eines standardi- sierten diagnostischen Interviews jeweils zwischen 90 und 120 Mi- nuten neuropsychologisch unter- sucht. Ziel war die differenzierte klinisch-diagnostische Erfassung psychischer Störungen nach den Kriterien anerkannter Diagnose- systeme. Außerdem sollte der Ver- sorgungsbedarf abgeschätzt wer- den. Eingesetzt waren 40 klinisch geschulte Interviewer.

Beim DEGS wie auch dem Modul wurde zudem der Bundesgesund- heitssurvey aus dem Jahr 1998 zum Vergleich herangezogen. 3 959 Per- sonen aus dem Jahr 1998 beteilig- ten sich auch bei der neuen Erhe- bung. Das RKI strebt an, solche Wiedereinladungen bei seinen künf- tigen Surveys – geplant sind bereits DEGS 2 und 3 – fortzusetzen, um so zu „Längsschnitten“ über viele Jahre zu kommen.

Lücken in der Versorgung Bereits heute zeichnen sich Versor- gungslücken bei der Therapie psy- chisch Kranker ab. Das Psychomo- dul des DEGS weist jedenfalls nied- rige Behandlungsraten innerhalb ei- nes Jahres selbst bei ernsthafteren Störungen aus (etwa Alkoholmiss- brauch: 25,8 Prozent, Zwangsstörun- gen 42,5 Prozent, Phobien zwischen 45,6 und 53 Prozent). Liegen die relativ niedrigen Behandlungsraten am mangelnden Angebot? An Psych - iatern, Psychotherapeuten oder Haus- ärzten, die fehlen, keine Zeit haben oder die Behandlungsbedürftigkeit nicht wahrnehmen? Liegt es daran, dass manche Krankheitsbilder erns- ter als andere genommen werden?

Auffallend ist, dass die Behand-

lungsraten mit der Komorbidität zu- nehmen. Muss es demnach erst

„schlimm“ kommen, ehe das Medi- zinsystem den Patienten aufnimmt oder aber der Patient den Kontakt sucht? Welche Rolle spielen Krank- heitsmoden? Burn-out etwa ist (wie die DEGS-Kernstudie ausweist) ei- ne Störung sozial gehobener Kreise, während Depression eher mit einem niedrigen sozialökonomischen Sta- tus einhergeht.

Der DEGS und die Zusatzunter- suchung könnten nicht allein Ant- worten auf solche Fragen geben, sondern – nicht zuletzt – politische Forderungen nach einer angemes- senen Versorgung unterstützen.

Prof. Dr. med. Peter Falkai, Mün- chen, bis 2013 DGPPN-Präsident, sieht jedenfalls in den Daten „einen besonderen Schatz für unser Fach“.

Sein Nachfolger, Prof. Dr. med.

Wolfgang Maier, Bonn, wurde vor der Presse in Berlin noch ein wenig konkreter: Die Ergebnisse seien

„wichtig für die Verteilung der Mittel“ und für die Bedarfspla- nung mittels Morbiditätsdaten. Bis- her erfolge diese auf der Grundlage von Bevölkerungszahlen. Folgt man Maier, ist das überholt.

Norbert Jachertz

Ihre in diesem Jahr abge- schlossene Erhebung zur psy- chischen Gesundheit betrifft Erwachsene, die in den letzten zwölf Monaten von einer oder mehreren psychischen Störun- gen betroffen waren. Wie hoch ist denn deren Behandlungsra- te, also der Anteil jener, die in Behandlung waren?

Wittchen: Man muss unter- scheiden zwischen denen, die überhaupt schon einmal „be- handelt“ wurden, wie auch immer, und den „aktuellen“

Zwölfmonatsfällen. Von allen Personen mit einer Zwölfmonats- diagnose hatten 42,9 Prozent irgendwann in ihrem Leben zu-

mindest Kontakt mit dem pro- fessionellen Versorgungssystem, unabhängig davon, ob dieser Kontakt wegen psychischer Be- schwerden beim Hausarzt, Ner- venarzt, Psychologen/Psycho- therapeuten oder Beratungsstel- len oder Kliniken war, auch un- geachtet dessen, ob eine „Lege - artis“-Behandlung tatsächlich er- folgte. Der Anteil aller „Zwölfmo- natsfälle“ aber, der auch in den letzten zwölf Monaten „behan- delt“ wurde, ist deutlich niedri- ger (knapp ein Drittel). Zur Art des Kontakts/der Behandlung können wir wegen der derzeit laufenden Analysen aber noch keine Aussagen machen.

Halten Sie die Behandlungsrate insgesamt für zu niedrig?

Wittchen: Jeder Fall mit einer

„Zwölfmonatsdiagnose“ impliziert zumindest „Interventionsbedarf“, sei es bei einer Beratungsstelle oder einer ambulanten oder im schlimmsten Fall stationären Ein- richtung. Dass mehr als die Hälf- te oder sogar zwei Drittel aller

„Zwölfmonatsfälle“ keinerlei Kon- takt aufweisen, ist alarmierend und zeigt, dass wir im Vergleich zu körperlichen Störungen psy- chische Erkrankungen offen- sichtlich nach wie vor gravierend schlechter „versorgen“. Hinzu kommt, dass sich seit dem Ge- sundheitssurvey 1998 die Lage

nicht verbessert hat. Wegen der anderen Beurteilungsstrategie können Vergleiche zwar noch nicht vorgelegt werden, aber die Behandlungsrate dürfte mit knapp einem Drittel ähnlich hoch gewesen sein wie bei unserer aktuellen Erhebung.

Streben Sie an, mit Hilfe Ihrer Untersuchung zur psychischen Gesundheit auch die Versor- gungslage zu verbessern?

Wittchen: Aber natürlich – diese Erkenntnisse sollten auf allen Ebenen (Politik, Kassen, Öffentlichkeit, Patienten) ein Um- denken und sofortige Maßnahmen anregen.

3 FRAGEN AN . . .

Prof. Dr. Hans-Ulrich Wittchen, Technische Universität Dresden

Foto: pa

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