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Archiv "Unverträglichkeit gegenüber Dentalmaterialien: Bei Verdacht ist interdisziplinäre Abstimmung erforderlich" (08.12.2000)

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A3344 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 49½½½½8. Dezember 2000

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ie Einschätzung der gesundheitli- chen Verträglichkeit zahnärztli- cher Materialien wurde in den letzten Jahren vielfach kontrovers dis- kutiert. Da diese Diskussionen zu ei- nem großen Teil in den Massenmedien erfolgten, hatte dies eine erhebliche und bis heute anhaltende Verunsiche- rung der Bevölkerung zur Folge. Ver- ängstigte Menschen ließen mitunter überstürzt zahnärztliche Eingriffe vor- nehmen. Auf einer nicht selten umstrit- tenen diagnostischen Grundlage wur- den intakte zahnärztliche Restauratio- nen entfernt, erhaltungswürdige Zähne extrahiert oder gar Kieferknochen zur vermeintlichen „Entgiftung“ ausge- fräst. In manchen Fällen führte dies zu gravierenden Folgeschäden bis hin zu ausgeprägten Gebissverstümmelungen.

Obwohl nach dem aktuellen wissen- schaftlichen Erkenntnisstand das Risiko einer Gesundheitsschädigung durch zahnärztliche Materialien als außeror- dentlich gering einzustufen ist (weit un- ter einem Prozent), vertreten eigenen Erhebungen zufolge inzwischen etwa 25 Prozent der Bevölkerung die Auffas- sung, durch Dentalmaterialien wie zum Beispiel Amalgam ausgeprägte Ge- sundheitsbeeinträchtigungen erlitten zu haben. Weitere 40 Prozent der Bevölke- rung befürchten zumindest eine geringe Schädigung und nur noch eine Minder- heit von unter 40 Prozent glaubt, durch Dentalmaterialien gesundheitlich nicht beeinträchtigt zu werden (4). Während bislang noch das Füllungsmaterial Amalgam im Vordergrund der Befürch- tungen steht, gibt es Indizien dafür, dass künftig vermehrt zahnärztliche Mate- rialien auf Kunststoffbasis in den Blick-

punkt des öffentlichen Interesses treten werden. Die Materialdiskussion führt zu entsprechenden Nachfragen von Pati- enten bei Ärzten und Zahnärzten. Im Folgenden wird ein interdisziplinäres Vorgehen aufgezeigt, das bei Verdacht auf Vorliegen einer Unverträglichkeit gegenüber Dentalmaterialien beschrit- ten werden kann.

Risiken und Nebenwirkungen durch Dentalmaterialien

Im Zusammenhang mit Dentalmateria- lien werden unter anderem folgende Effekte diskutiert: Allergien, lichenoi- de Reaktionen, elektrochemische Re- aktionen, ästhetische Beeinträchigun- gen und toxische Belastungen.

Gegenüber sämtlichen gebräuchli- chen dentalen Restaurationsmateriali- en wie Amalgamen, Komposit-Kunst- stoffen oder Gussmetallen kann es zu allergischen Reaktionen kommen (19, 20). Dabei stehen Typ-4-Allergien ge- genüber extrem seltenen Sofortreaktio- nen (Typ-1-Allergien) im Vordergrund.

Bei oralen lichenoiden Läsionen (14) handelt es sich um zum Teil reizlose, zum Teil aber auch um schmerzhafte, nicht-erosive oder erosive Veränderun- gen der Mundschleimhaut, die in topo- graphischer Beziehung zu zahnärztli- chen Restaurationen aus Amalgamen, Kompositen oder Gussmetallen stehen können.

Elektrochemische Reaktionen kön- nen auftreten, wenn ein elektrisch wirk- samer Kontakt von verschiedenen Me- tallen in der Mundhöhle entsteht. Sie können klinisch mit Verfärbungen von Metalloberflächen, unangenehmen Ge- schmackssensationen oder „elektri- schen“ Missempfindungen einhergehen (48, 49).

Unverträglichkeit gegenüber

Dentalmaterialien

Bei Verdacht ist interdisziplinäre Abstimmung erforderlich.

Hans Jörg Staehle

Zusammenfassung

Besteht der Verdacht auf Unverträglichkeiten gegenüber Dentalmaterialien, empfiehlt sich eine interdisziplinäre Abklärung, die unter an- derem zahnärztliche, psychosomatische, aller- gologische und toxikologische Aspekte einbe- zieht. Zurückhaltung ist bei der Anwendung umstrittener Testmethoden aus dem Bereich der Komplementärmedizin geboten. Auf einer solchen Grundlage werden gelegentlich intak- te zahnärztliche Restaurationen ausgetauscht, Zähne extrahiert oder gar Kieferknochen zur vermeintlichen „Entgiftung“ ausgefräst. Dies kann erhebliche Gebissdestruktionen zur Folge haben. Aus Gründen des Patientenschutzes sollten die negativen Folgen solch invasiver Methoden bei der Aufklärung und Beratung Betroffener größere Beachtung als bisher fin- den.

Schlüsselwörter: Dentalmaterial, somatoforme Störung, Komplementärmedizin, Amalgam

Summary

Adverse Reactions Towards Dental Materials Suspicion of an adverse reaction towards den- tal materials requires a multidisciplinary ap- proach for accurate diagnosis. Dental, psycho- somatic, allergenic and toxicological aspects must be included in the diagnosis. The use of non-scientific, “para-medical” diagnostic tests alone may lead to unnecessary replacement of restorations, tooth extractions or surgical re- moval of alveolar bone for so-called “detoxifi- cation”. Significant destruction of oral tissues and impairment of oral health may occur.

Therefore, invasive treatment procedures must be based on scientific methods and patients must be informed of and consent to the health risks of non-scientific diagnostic methods and treatment options.

Key words: dental material, complementary medicine, amalgam

Poliklinik für Zahnerhaltungskunde (Ärztlicher Direktor:

Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Hans Jörg Staehle) der Mund- Zahn- und Kieferklinik des Universitätsklinikums Heidelberg

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Beim unsachgemäßen Herausschlei- fen von metallischen Restaurationen kann es zur ästhetisch störenden Inkor- poration von einzelnen Metallpartikeln in die Mundschleimhaut in Form so ge- nannter Metallimprägnierungen kom- men. Die durch Partikeleinlagerung entstandenen Pigmentflecken sind in al- ler Regel reizlos (48, 49). Gesundheitli- che Gefahren entstehen dadurch nicht.

Toxische Belastungen des Organis- mus werden zurzeit hauptsächlich durch Amalgame, seltener durch Gussmetalle oder Komposite diskutiert. Obwohl Amalgamträger eine höhere Quecksil- berbelastung als amalgamfreie Perso- nen bei ansonsten gleicher Quecksil- berexposition aufweisen, konnte ein ab- grenzbares Krankheitsbild einer durch Amalgam verursachten chronischen Quecksilbervergiftung nach aktuellem Wissensstand beim Menschen bislang mit allgemein anerkannten Methoden nicht nachgewiesen werden (1, 2, 5, 7, 9, 11, 12, 17, 22, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 37, 38, 39, 41, 42, 46, 47, 52, 53).

Diagnostische Maßnahmen

Die Beschwerden, die mit einer Unver- träglichkeit gegenüber Dentalmateria- lien assoziiert werden, sind sehr vielfäl- tig. Es bietet sich an, zwischen objekti- vierbaren Symptomen (zum Beispiel Mundschleimhautveränderungen) und subjektiven Angaben (zum Beispiel Mundbrennen) zu differenzieren.

Anamnese und ärztliches Gespräch Patienten, die Erkrankungen auf zahnärztliche Werkstoffe zurückführen, sind in der Regel bereits seit Jahren mit verschiedensten Materialien wie Kom- posit-Kunststoffen (meist auf Acrylat- Basis), Gussmetallen oder Amalgamen versorgt. Ein klarer topographischer und/oder zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Beschwer- den und dem Einsatz eines bestimmten Materials oder einer Materialkombina- tion ist nur selten herzustellen. Trotz- dem ist es empfehlenswert, die Arten und Zeitpunkte der zurückliegenden zahnärztlichen Versorgungen und das erstmalige Auftreten sowie die Lokali- sation von Krankheitssymptomen zu

dokumentieren. Dabei sollte auch nach sonstigen lebensgeschichtlichen Be- gleitumständen (zum Beispiel psycho- sozialen Belastungssituationen) gefragt werden. Bei einem Teil von Patienten, die Beschwerden mit zahnärztlichen Materialien in Verbindung bringen, liegt ein Alkohol- oder Medikamenten- abusus vor. Zuweilen lassen sich die von den Patienten geäußerten Beschwerden auch als Symptome bisher nicht diagno- stizierter Allgemeinerkrankungen oder als Nebenwirkungen eingenommener Medikamente entlarven. Auch diesem Umstand sollte die Anamnese Rech- nung tragen. Eine vorschnelle Spekula- tion über Unverträglichkeiten gegen- über Dentalmaterialien kann in solchen Fällen nicht nur zu unnötigen zahnärzt-

lichen Eingriffen führen, sondern die Erkennung beziehungsweise Behand- lung der tatsächlichen Erkrankungsur- sache verhindern oder verzögern.

Zahnärztliche Befunderhebung

Je nach spezifischem Beschwerdebild können neben zahnärztlichen Untersu- chungen unter anderem internistische, HNO-ärztliche, neurologische, psychia- trische/psychosomatische, dermatologi- sche und toxikologische Abklärungen angebracht sein. Im Folgenden werden einige wichtige zahnärztliche Aspekte aufgezeigt und in einen Zusammen- hang mit psychiatrisch/psychosomati- schen, allergologischen und toxikolgi- schen Untersuchungen gestellt.

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 49½½½½8. Dezember 2000 AA3345

Beispiel für Vereinbarungen auf regionaler Basis zum Patientenschutz vor umstrittenen diagnostischen und the- rapeutischen Maßnahmen

Die Entscheidung über den Erhalt beziehungsweise den Austausch von zahnärztlichen Restaurationen erfolgt auf der Grundlage adäquater zahnärztlicher Untersuchungen. Diese sind die Voraussetzungen für jegliche zahnärztliche Diagnosestellungen und Therapieempfehlungen.

In bestimmten klinischen Situationen kann neben zahnärztlichen Untersuchungen eine weiterführende Ab- klärung (zum Beispiel allergologischer oder toxikologischer Art) angebracht sein. Bei einer allergologischen Abklärung haben die jeweils aktuellen Empfehlungen der Kontaktallergiegruppe der Deutschen Gesellschaft für Dermatologie Priorität. Bei einer toxikologischen Abklärung haben die jeweils aktuellen Empfehlungen der Beratungskommission Toxikologie der Deutschen Gesellschaft für Pharmakologie und Toxikologie Vor- rang.

Speziell zur toxikologischen Abklärung einer amalgambedingten Quecksilberbelastung ist nach aktuellem in- ternationalen Standard ein Urintest (24-Stunden-Urin oder Morgenurin mit Kreatininbezug) ohne vorherige Schwermetallmobilisation das Mittel der ersten Wahl. Für diesen Test existieren toxikologisch abgeleitete Grenzwerte. Bei Anwendung nichtvalidierter beziehungsweise nichtstandardisierter Testverfahren (zum Bei- spiel Mobilisationstest, Kaugummitest) sind die Patienten darüber aufzuklären, dass hierzu keine toxikolo- gisch validierten Grenzwerte, aus denen sich zahnärztliche Eingriffe ableiten ließen, vorliegen. Bei stark auf- fälligen Befunden sollte in Abstimmung mit dem behandelnden Zahnarzt eine Lösung für den Einzelfall ge- sucht werden.

Es gibt bislang keine wissenschaftlichen Publikationen, die eine Eignung von Diagnoseverfahren aus dem Be- reich der komplementären Medizin (unter anderem Substanzentest der Elektroakupunktur nach Voll, Bioreso- nanz, Kinesiologie) zur Abklärung einer Verträglichkeit oder Unverträglichkeit dentaler Materialien nachwei- sen könnten. Diesen Verfahren fehlt somit die erforderliche wissenschaftliche Basis, worüber ebenfalls eine entsprechende Aufklärung vorzunehmen ist.

Die Ausstellung von Attesten (zum Beispiel gegenüber Kostenträgern), die zahnärztliche Therapieempfehlun- gen (beispielsweise Entfernung von Füllungen oder Extraktion von Zähnen) beinhalten, erfolgt auf der Grund- lage von Befunden, die mittels weithin anerkannter, validierter Untersuchungsverfahren erzielt wurden (siehe Abschnitt 1., 2. und 3.).

Vorschläge der Ambulanz für Naturheilkunde der Carstens-Stiftung (Leiterin: Frau Prof. Dr. Ingrid Gerhard) der Abteilung für Gynäkologische Endokrinologie und Fertilitätsstörungen der Heidelberger Universitäts-Frauen- klinik und der Poliklinik für Zahnerhaltungskunde (Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Hans Jörg Staehle) der Heidelberger Universitäts-Mund-, Zahn- und Kieferklinik zum Vorgehen bei der diagnostischen Ab- klärung von befürchteten Unverträglichkeiten gegenüber Dentalmaterialien. Mit diesen Vereinbarungen sollen aktuelle Standards aufgezeigt werden, die als konsensfähiger Ausgangspunkt bei der Erörterung offener Fragen fungieren können. Sie sollen aber auch als Rahmen dienen, wenn es um Gutachten, Atteste oder sonstige Äuße- rungen gegenüber verschiedenen Institutionen (Ärzte-/Zahnärzteschaft, Kostenträgern, Gesundheitsbehörden, Textkasten

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Die zahnärztliche Untersuchung um- fasst unter anderem die Inspektion der Mundhöhle sowie die Befundung der kariologischen, restaurativen, endo- dontischen, parodontalen und funktio- nellen Situation.

Bei der Befunderhebung der Mund- schleimhaut wird überprüft, ob eine ge- ringe Befeuchtung, Entzündungen, Erosionen, lichenoide Veränderungen, Metallimprägnierungen oder sonstige objektivierbaren Symptome vorliegen.

Störungen der Quantität und/oder Qualität des Speichels können zum ei- nen das Oberflächenverhalten von Zahnhartsubstanzen und zahnärztli- chen Materialien beeinflussen, zum an- deren kommt dem Symptom „Mund- trockenheit“ differenzialdiagnostische Bedeutung beim Abklären von Be- schwerden zu (zum Beispiel Nebenwir- kung von Medikamenten). Die Fließra- te des Speichels kann auf sehr einfache Weise ermittelt werden kann. Man soll- te diesen Befund bei geringer Befeuch- tung der Schleimhäute routinemäßig erheben. Objektivierbare Befunde an der Mundschleimhaut sollten nach Möglichkeit fotografisch dokumentiert werden.

Die Zahnhartsubstanzen werden un- ter anderem hinsichtlich ihres Hygiene- zustands und Kariesbefalls begutachtet.

Daneben werden Zahnhartsubstanz- schäden nichtkariogener Ursache wie zum Beispiel Säure-Erosionen (Nah- rungseinflüsse?) und Abrasionen (Para- funktionen?) erfasst. Bezüglich der zahnärztlichen Restaurationen ist be- sonderes Augenmerk auf den Zustand der Oberfläche (ungewöhnliche Korro- sionserscheinungen mit objektivierba- ren lokalen Gewebsdestruktionen?) und die den Restaurationen benachbar- ten Gewebe zu richten. Überstehende,

schlecht polierte oder unsachgemäß ge- staltete Restaurationen können zu loka- len Irritationen führen oder Ansamm- lungen mikrobieller Plaque begünsti- gen. Erosive und mechanische Einflüsse (Abrasionen) können die Freisetzung von Inhaltsstoffen aus Dentalmateria- lien begünstigen, insbesondere wenn gleichzeitig eine mangelnde Mundhy- giene und eine eingeschränkte Schutz- funktion des Speichels vorliegen.

Bei der endodontischen Befunder- hebung muss beachtet werden, dass akute oder chronische Pulpopathien verschiedene Beschwerdebilder auslö- sen können, die unter Umständen einer differenzialdiagnostischen Abklärung (zum Beispiel mit dem HNO-Bereich) bedürfen.

Auf eine Parodontaldiagnostik, die unter anderem die Bestimmung der Sondierungstiefen und die Beurteilung der Sondierungsblutung mit einschließt, sollte in keinem Fall verzichtet wer- den. Klinisch relevante Korrosionspro- zesse können in Spaltbereichen (Me- tallstifte/Zahnhartsubstanzen, Grenz- flächen Keramik/Legierung, Gingivasul- kus) auftreten. Bei parodontalen Er- krankungen, die nicht in einen direkten

Zusammenhang mit einer mangelnden Plaquekontrolle gebracht werden kön- nen, die sich jedoch lokal auf den Bereich von – ansonsten unauffälligen – Metall- restaurationen konzentrieren, sollte an derartige Korrosionseffekte gedacht werden.

Gebissfunktionsstörungen können Ursachen für unklare Beschwerden dar- stellen. Die zahnärztliche Untersuchung sollte deshalb auch eine klinische Funk- tionsanalyse umfassen, die unter ande- rem überprüft, ob Druckdolenzen in der Muskulatur oder im Gelenkbereich, Ge- lenkgeräusche, myofunktionelle Störun- gen, Bewegungsstörungen des Unter- kiefers und Besonderheiten an den Zäh- nen wie zum Beispiel unsachgemäß ge- staltete Kauflächen an Restaurationen, Schliff-Facetten oder Kippungen vorlie- gen. Funktionsstörungen können zu Kopfschmerzen, Verspannungen und Verkrampfungen im Nackenbereich be- ziehungsweise der Wirbelsäule und an- deren Symptomen führen.

Psychosomatische und psychiatrische Untersuchungen

Falls bei unklaren Krankheitssympto- men eine psychische Erkrankung (zum Beispiel eine somatoforme Störung) in die differenzialdiagnostischen Überle- gungen mit einbezogen wird, sollte eine entsprechende Vorstellung bei einem Spezialisten erwogen werden (26, 28, 35, 36, 46). Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bevölkerung weist Erkrankungen mit psychosomatischen Zusammenhän- gen auf, die durch Sensationsmeldungen in den Medien, aber auch zum Teil durch Ärzte und Zahnärzte, die Krankheiten ohne hinreichende wissenschaftliche Be-

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Abbildung 1 a: Klinischer Gebisszustand ei- ner seit vielen Jahren zahnärztlich weitge- hend problemlos versorgten Patientin. Die prothetische Versorgung weist hinsichtlich der Randgestaltung und der Ästhetik ein- zelner Überkronungen kleinere Mängel auf, die die Patientin allerdings kaum stör- ten.

Abbildung 1 b: Ursprüngliche Situation im Röntgenübersichtsbild.

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gründung vorschnell auf Dentalmateria- lien zurückführen, verstärkt werden können (Nocebo-Effekte). Es wurden in diesem Zusammenhang iatrogene (das heißt durch den Arzt selbst herbeige- führte) Angstzustände gegenüber zahnärztlichen Werkstoffen beschrieben (21). Unspezifische Krankheitssympto- me als Ausdruck einer psychogenen Störung können sowohl in der Mund- höhle selbst vorkommen (Zungenbren- nen, Mundbrennen, Fremdkörperge- schmack, Kloßgefühl, Gefühl der Mund- trockenheit, Würgereiz) als auch gene- ralisiert in Erscheinung treten (chroni- sche Müdigkeit, Erschöpfungszustände, Schwindelgefühl, Übelkeit und vieles mehr). Auch in ihrer Ätiologie unklare Krankheiten wie „atypischer Gesichts- schmerz“ (15) oder „Multiple Chemical Sensitivity“ (10) sind an dieser Stelle an- zuführen.

Um Anhaltspunkte für zeitlich varia- ble Befindlichkeitsbeeinträchtigungen einerseits und zeitlich überdauernde Persönlichkeitsstrukturen anderseits zu

erhalten, bietet sich auch die Durch- führung psychodiagnostischer Testver- fahren an, wobei der Patient mittels ei- nes Fragebogens seine Befindlichkeit in differenzierter Abstufung selbst cha- rakterisiert, zum Beispiel anhand einer Symptom-Checkliste (4, 18).

Allergologische Untersuchungen Aus dermatologischer Sicht steht neben der Abklärung eines oralen Lichen pla- nus die Allergiediagnostik im Vorder- grund. Zur Allergiediagnostik gilt ein

korrekt durchgeführter und ausgewer- teter Epikutantest (Patchtest) als Mittel der ersten Wahl (19). Der so genannte Lymphozytentransformationstest (LTT) ist hingegen im Zusammenhang mit der Beurteilung von zahnärztlichen Re- staurationen umstritten (13). Die Aller- giediagnostik sollte auf der Grund- lage der Empfehlungen der Deutschen Kontaktallergiegruppe der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft erfol- gen (19, 20). Danach sind „prophylakti- sche“ Testungen ohne klinisch objekti- vierbare Befunde nicht angebracht.

Nur wenn klinische Hinweise auf aller- gische Reaktionen (zum Beispiel pla- queunabhängige Rötungen, Schwellun- gen unklarer Genese) bestehen, ist die Veranlassung wissenschaftlich aner- kannter dermatologischer Untersu- chungen indiziert. Dabei werden die zu untersuchenden Substanzen mit spe- ziellen Testpflastern auf der Rücken- haut platziert und nach einer zuvor genau definierten Expositionszeit wie- der entfernt. Die eventuell auftreten-

den Hautreaktionen werden beurteilt.

Die Kontaktallergiegruppe der Deut- schen Dermatologischen Gesellschaft hat darauf hingewiesen, dass im Zu- sammenhang mit der Fragestellung ei- ner Gesundheitsbeeinträchtigung durch zahnärztliche Materialien häufig un- nötige und/oder unqualifizierte Hautte- stungen durchgeführt werden. Es wird betont, dass die Testungen nur von erfahrenen, dermatologisch versierten Allergologen durchgeführt werden dür- fen. Nach Angaben der Kontakt- allergiegruppe beträgt bei einem kor-

rekt durchgeführten Epikutantest die Expositionszeit der zu untersuchenden Substanzen 24 oder 48 Stunden. Da- nach müssen die Testsubstanzen ent- fernt werden. Die Spätablesungen er- folgen mindestens 72 Stunden nach der Erstexposition.

Bei einer positiven Reaktion werden drei mögliche Folgerungen beschrie- ben:

❃ Falls keine charakteristischen klini- schen Bilder wie zum Beispiel plaque- unabhängige Kontaktstomatitis oder Lichen ruber der Mundschleimhaut vorhanden sind, sollen die Füllungen trotz positiver Testreaktion belassen werden.

❃ Nur wenn solche charakteristi- schen klinischen Bilder vorliegen und ein zeitlicher und topographischer Zu- sammenhang mit einer zahnärztlichen Versorgung besteht, sollten die Füllun- gen im Falle eines korrekt durchgeführ- ten und ausgewerteten positiven Aller- gietests ersetzt werden.

❃ Falls ein korrekt durchgeführter und ausgewerteter Allergietest zu ei- nem positiven Ergebnis führte, sollte bei einer zukünftigen Kavitätenversor- gung auf die betroffenen Materialien verzichtet werden.

Toxikologische Untersuchungen Toxikologische Abklärungen stehen meist im Zusammenhang mit der Fra- ge einer Quecksilberbelastung durch Amalgamfüllungen. Grundlegende Aspekte zur Beurteilung einer toxiko- logischen Belastung wurden durch ei- ne Stellungnahme der Beratungskom- mission Toxikologie der Deutschen Gesellschaft für Pharmakologie und Toxikologie zur Toxizität von Zahn- füllungen aus Amalgam aufgezeigt (6). Hinsichtlich der toxikologischen Diagnostik stehen folgende Verfahren in der aktuellen Diskussion: Standar- disierte Urinanalysen, Mobilisations- tests und Speicheltests (Kaugummi- tests).

Bei der Durchführung standardi- sierter Urintests sollten zur Bestim- mung einer Quecksilberbelastung vor- zugsweise Urinanalysen (ohne vorhe- rige Quecksilbermobilisation) in Form von 24-Stunden-Urin oder Morgen- urin mit Kreatininbezug vorgenommen A

A3348 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 49½½½½8. Dezember 2000

Abbildung 1 c: Auswahl vielfältiger in- korporierter und wieder herausgenom- mener metallischer und nichtmetalli- scher Zahnersatzteile. Die Entfernung erfolgte aufgrund diverser „bioenerge- tischer“ Testergebnisse, wonach ein aufgetretenes Mundbrennen der Pati- entin auf eine Unverträglichkeit gegen- über Dentalmaterialien zurückgeführt

wurde.

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werden (40, 50, 51). Da die Quecksil- beranalytik fehleranfällig ist, sollten zur Gewährleistung der Reliabilität nur Messdaten von solchen Laborato- rien herangezogen werden, die regel- mäßig an den vorgeschriebenen Ring- versuchen zur Qualitätskontrolle teil- nehmen. Die Messwerte liegen im Durchschnitt bei 1 mg/l beziehungswei- se 1 mg/g Kreatinin. Die obere Norm- grenze von 5 mg/l beziehungsweise 5 mg/g Kreatinin wird nur in wenigen Ausnahmefällen überschritten (40).

Neben diesen allgemein anerkann- ten Untersuchungen werden in letzter Zeit auch umstrittene „Amalgam- tests“ durchgeführt, von denen insbe- sondere die so genannten Mobilisati- onstests und Speicheltests (Kaugum- mitests) eine kontroverse Diskussion erfahren.

Mobilisationstests durch Gabe von Komplexbildnern wie Dimerkapto- propansulfonsäure (DMPS) oder Di- merkaptobernsteinsäure (DMSA) gelten für die Routinediagnostik im Zusammenhang mit Amalgamfüllun- gen wegen des Fehlens allgemein aner- kannter Referenz- und Grenzwerte als wenig geeignet (16). Sie sind nach ak- tuellem wissenschaftlichen Erkennt- nisstand toxikologisch nicht validiert und deshalb nicht hinreichend bewert- bar. Ein diagnostischer und/oder the- rapeutischer Wert im Zusammenhang mit der Erfassung einer Quecksilber- belastung durch Amalgamfüllungen ist nicht belegt (24, 25). Die häufig geübte Praxis, beim DMPS-Test Quecksilber- konzentrationen im Spontanurin ein- malig auszuwerten, ist für eine bilanz- mäßige Beurteilung der Belastung sinnlos, ebenso sind die auf Laborzet- teln häufig vorgedruckten „Grenzwer- te nach DMPS“ nicht toxikologisch ab- geleitet (23).

Die Speicheltests (Kaugummitests) erfassen lediglich die Quecksilberfrei- setzung aus Amalgam ohne den resor- bierten Anteil zu ermitteln, was diese Verfahren entscheidend limitiert.

Speichelanalysen eigenen sich deshalb nicht zur toxikologischen Bewertung einer Quecksilberbelastung (40).

Komplementärmedizinische Testverfahren

Obwohl im Zusammenhang mit der Überprüfung zahnärztlicher Materia- lien eine nahezu unübersehbare Zahl von komplementärmedizinischen Me- thoden angepriesen wird, hat noch kein Verfahren ein Stadium erreicht, das nachvollziehbare und nachkon- trollierbare Ergebnisse belegen könn- te. Aus diesem Grund sind diese Me- thoden bis heute nicht allgemein aner- kannt. Besondere Zurückhaltung ist bei umstrittenen Verfahren wie Elek- troakupunktur nach Voll (EAV), Ve- ga-Test, Bioresonanzverfahren und Kinesiologie geboten (43, 44, 45). Un- ter dem Stichwort der Therapiefrei- heit werden solche Messverfahren, die dem Anwender aufgrund fehlender Instrumente der Qualitätssicherung einen großen Spielraum einräumen, von einigen Ärzten, Zahnärzten und

Heilpraktikern propagiert. Sie bilden die argumentative Grundlage für um- strittene „Entgiftungs- oder Auslei- tungsbehandlungen“, Austauschpro- zeduren von Zahnrestaurationen, Ex- traktion angeblich belasteter Zähne oder gar Ausfräsungen von Kiefer- knochen.

Nicht selten werden dadurch große Schäden angerichtet und nachfolgend umfangreiche spätreparative zahn- ärztliche Rekonstruktionen erforder- lich. Um hier künftig eine bessere Schadensbegrenzung zu erwirken, sollten die Folgeschäden nach kom- plementärmedizinisch motivierten zahnärztlichen Eingriffen den ärztli- chen Anwendern derartiger Verfah- ren mehr als bisher transparent ge- macht werden. Zumindest auf regio- naler Ebene lassen sich Vereinbarun- gen treffen, die dazu beitragen kön- nen, den Patientenschutz zu fördern (Textkasten).

Therapeutische Maßnahmen

Lokale, objektivierbare Störungen

Falls zahnärztliche Restaurationen Qualitätsmängel aufweisen (zum Bei- spiel okklusale Interferenzen mit entsprechenden Funktionsstörungen, überstehende Ränder oder Rand- defekte als Plaqueretentionsstellen) können diese oftmals durch gezielte Maßnahmen der Formkorrektur und Politur behoben werden. Besonders bei Restaurationen, die schon seit mehreren Jahren ohne Probleme in- korporiert sind, ist dem Belassen ge- genüber dem Entfernen beziehungs- weise Austauschen nach Möglichkeit der Vorzug zu geben. Bei ausgepräg-

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Abbildung 1 d: Zustand nach umfang- reichen, komplementärmedizinisch motivierten, zahnärztlich hingegen nicht nachvollziehbaren Extraktionen vitaler Zähne (Röntgenübersichtsbild).

Abbildung 1 e: Sukzessiv erfolgte Ex- traktion sämtlicher Zähne (mit Aus- nahme von fünf Unterkiefer-Frontzäh- nen), ohne Besserung des Beschwer- debildes.

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ten, nicht korrigierbaren Mängeln (zum Beispiel Füllungsfrakturen) ist allerdings aus zahnärztlichen Grün- den eine Entfernung der Restauratio- nen erforderlich. Auch bei Mund- schleimhautveränderungen (zum Bei- spiel Allergien, lichenoiden Reaktio- nen), die in einem topographischen oder zeitlichen Zusammenhang mit zahnärztlichen Versorgungen stehen, kann eine Entfernung von Restaura- tionen indiziert sein.

Speziell bei der Entfernung von Amalgamfüllungen wurde auf die Ge- fahr einer zusätzlichen Quecksilber- belastung hingewiesen. Hierzu ist fest- zustellen, dass bei Einhaltung der üb- lichen Vorsichtsmaßnahmen (Verwen- dung geeigneter, intakter Instrumen- te, geringer Anpressdruck, Wasser- kühlung, Absaugung) beim Heraus- nehmen der Füllungen nicht mit einer klinisch relevanten gesundheitlichen Belastung des Patienten zu rechnen ist (3). Die vor allem von Vertretern der Komplementärmedizin gelegentlich zusätzlich angewandten Maßnahmen (Sauerstoffgabe, diverse „Entgif- tungs- oder Bindemittel“) sind toxiko- logisch nicht begründet. Die Isolie- rung des Arbeitsfeldes mit Spanngum- mi (Kofferdam) kann aus zahnärztli- chen Gründen geboten sein. Auch im Fall einer nachgewiesenen Allergie kann dadurch eine zusätzliche Ver- minderung der Exposition erreicht werden. Vom toxikologischen Stand- punkt aus betrachtet ist eine Verwen- dung von Kofferdam allerdings nicht zwingend erforderlich (8, 27).

Die Behandlung lokaler, objekti- vierbarer Symptome (zum Beispiel Funktionsstörungen oder Mund- schleimhautveränderungen) gestaltet sich durch die Behebung der jewei- ligen Ursache im Allgemeinen pro- blemlos.

Unspezifische Symptome

Eine große Herausforderung stellt die adäquate Behandlung von Patienten dar, die unspezifische Symptome (zum Beispiel Unwohlsein, Mattigkeit, Kopfschmerzen, Mundbrennen, Kloß- gefühl, Würgereiz) auf ihre zahnärztli- chen Restaurationen zurückführen und von einer Vergiftung von vornher-

ein fest überzeugt sind. Einige Patien- ten fordern vom Arzt oder Zahnarzt eine Bestätigung dieser Vorstellung und stehen weiteren differenzialdia- gnostischen Überlegungen zuweilen sehr skeptisch gegenüber. Insbesonde- re die Einbeziehung psychosomati- scher Aspekte in das Krankheitsbild wird nicht selten drastisch abgewehrt.

Allein der Vorschlag einer entspre- chenden Abklärung wird mitunter als Stigmatisierung empfunden und kann zum Arzt- beziehungsweise Zahnarzt- wechsel führen. Oftmals suchen die Patienten eine Vielzahl von Vertre- tern verschiedenster Heilberufe auf, bis sie schließlich die erwartete Be-

stätigung ihrer Vergiftungsvorstellun- gen finden, meist auf der Grundlage umstrittener Testmethoden.

Dieser Weg kann für die Betroffe- nen zu schweren Gebissschädigungen führen, wie das Beispiel einer 54-jähri- gen Patientin verdeutlicht (Abbildung 1 a–f). Die betroffene Patientin war seit vielen Jahren zahnärztlich weitge- hend problemlos versorgt worden.

Nach einem Umzug in eine andere Stadt wechselte die Patientin mehr- fach den Zahnarzt. Ohne zwingende Notwendigkeit wurde eine neue pro- thetische Versorgung vorgenommen.

Die Neuversorgung wurde von der Pa- tientin, die sich aufgrund erheblicher beruflicher Belastungen (schlechte Bedingungen am neuen Arbeitsplatz) und familiärer Probleme (Suizid des Lebenspartners) in einer existenziel- len Lebenskrise befand und erhebli- che Alkoholprobleme entwickelte, schlecht adaptiert. Die Patientin klag- te über ein hartnäckiges Mundbren- nen, das vom Gaumen bis zum Ster-

num ausstrahlte. Mehrere Zahnärzte und Ärzte konnten keinen plausib- len Zusammenhang zwischen dem Mundbrennen und der zahnärztlichen Versorgung herstellen. Nach einer umfangreichen Ausschlussdiagnostik wurde die Diagnose „atypischer Ge- sichtsschmerz mit Burning-Mouth- Syndrom“ gestellt. Ein komple- mentärmedizinisch orientierter Zahn- arzt nahm diverse „bioenergetische“

Testverfahren vor, unter anderem die so genannte Elektroakupunktur nach Voll (EAV) und führte aufgrund der Testergebnisse das Mundbrennen der Patientin auf eine Unverträglich- keit gegenüber Dentalmaterialien zu-

rück. Trotz weitgehend unauffälligen zahnärztlichen Befunden empfahl er nicht nur die gesamte Entfernung des vorhandenen Zahnersatzes, sondern auch die Extraktion einiger angeblich

„belasteter“ Zähne. Allerdings änder- te sich dadurch die klinische Symp- tomatik ebensowenig wie durch die Einnahme einer Vielzahl von Medi- kamenten (unter anderem Homöopa- thika, Bach-Blüten, Selen-Präparate).

Auch die – mehrfach wiederholte – zahnärztliche Neuversorgung mit Ma- terialien, die mittels umstrittener

„bioenergetischer“ Methoden (Kine- siologie, Bioresonanz und andere)

„ausgetestet“ worden waren, führte nicht zur Schmerzlinderung. Obwohl durch mehrere Ärzte und Zahnärzte vor weiteren Zahnextraktionen drin- gend gewarnt wurde, wurde von kom- plementärmedizinischer Seite die Ver- mutung einer toxischen Belastung („Restvergiftung“) aufrechterhalten.

Die komplementärmedizinischen Dia- gnosemethoden wirkten im Sinne von A

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Abbildung 1 f: Ausgeprägte, iatrogen verursachte Gebissdestruktion, die eine suffiziente zahnärztliche Versorgung (Prothesenintoleranz) erheblich er- schwert und die psychosoziale Lage der

Patientin weiter belastet.

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Nocebo-Effekten und fixierten eine somatoforme Störung. Aufgrund be- fürchteter, nicht näher definierter

„Belastungen“ wurden von einem komplementärmedizinisch orientier- ten Zahnarzt sukzessive sämtliche Zähne (mit Ausnahme von fünf Un- terkiefer-Frontzähnen) extrahiert, oh- ne dass sich das Beschwerdebild ent- scheidend verändert hätte. Erst nach einem erfolgreichen Alkoholentzug und einer Verbesserung der äußeren Lebensverhältnisse gelang es der Pati- entin, das nach wie vor bestehende Mundbrennen einigermaßen zu tole- rieren.

Wie dieses Beispiel zeigt, werden je nach Aggressivität der Behandler nicht nur intakte zahnärztliche Re- staurationen entfernt, sondern auch erhaltungsfähige Zähne extrahiert und sogar vermeintlich vergiftete Kie- ferknochen ausgefräst.

Wenn Arzt und Patient von einer Vergiftung im Sinne eines Nocebo-Ef- fekts überzeugt sind, können derartige

„Sanierungen“ zu einer subjektiv empfundenen Entlastung führen und zwar auch dann, wenn davon auszuge- hen ist, dass keine analytisch fassbare Intoxikation vorlag. Vielfach klagen die Patienten aber auch nach vollstän- diger Entfernung ihrer Restauratio- nen und weiterführenden Eingriffen über anhaltende Befindlichkeits- störungen. Diese werden dann von den Behandlern unter anderem als

„Restvergiftung“ interpretiert. Durch umstrittene medikamentöse „Entgif- tungs- und Ausleitungsbehandlun- gen“ werden die betroffenen Patien- ten in solchen Fällen zum Teil jahre- lang an entsprechende Behandler ge- bunden, was zu einer iatrogenen Ver- stärkung und Fixierung einer somato- formen Störung führen kann.

Deshalb kommt dem Zahnarzt bei der Erstberatung seiner Patienten ei- ne außerordentlich große Verantwor- tung zu. Obwohl die frühzeitige Ein- beziehung eines psychosomatischen Konsils sinnvoll wäre, verbietet sich dies häufig aus den oben genannten Gründen. Nach einer eingehenden Befragung und Untersuchung des Pa- tienten kann es aber trotzdem sinnvoll sein, die Beschwerden des Patienten anhand eines psychodiagnostischen

Testverfahrens zu dokumentieren, um damit eine objektivierbare Basis für spätere Abklärungen zu schaffen.

Zunächst erscheint es jedoch vorteil- hafter, ein vorwiegend lokalisiertes zahnärztliches Problem anzugehen.

Da viele der betroffenen Patienten plaqueassoziierte, entzündliche Paro- dontopathien aufweisen, bietet sich hierbei zum Beispiel eine bedarfsge- rechte parodontale Initialbehandlung an. Dabei erhält der Patient in mehre- ren Sitzungen ein Mundhygiene-In- tensivtraining, das mit professionellen Zahnreinigungen und weiteren paro- dontalen Maßnahmen kombiniert wird. Dabei soll dem Patienten seine anfängliche Gebisssituation deutlich vor Augen geführt werden. Dem Pati- ent wird das Bluten der Gingiva nach Sondieren gezeigt oder es wird ihm die Entfernung der meist übelriechenden interdentalen Beläge demonstriert.

Der Sinn der parodontalen Initialbe- handlung liegt zunächst in einer Besei- tigung der Entzündungserscheinun- gen des marginalen Parodonts. Der Patient muss aktiv dazu beitragen, ei- ne für ihn spür- und sichtbare Verbesse- rung zu erzielen. In aller Regel kommt es bei entsprechender Mitarbeit des Patienten innerhalb weniger Wochen zu einem deutlichen Rückgang der ent- zündlichen Veränderungen (vor allem der Blutung, Schwellung und Rötung).

Damit lässt sich gleichzeitig eine aller- gische Ursache der Entzündungsreak- tionen ausschließen, sodass durch das Verschwinden solcher Mundschleim- hautveränderungen unnötige allergo- logische Testungen vermieden werden können.

Durch die aktive und passive Ent- fernung der fötid riechenden Beläge erhält der Patient zudem ein neues, für ihn attraktives Hygienebewusstsein (verbesserte Ästhetik, weniger Mund- geruch, frischerer Atem). Man erzielt dadurch auch einen verbesserten Aus- gangszustand für die zahnärztlich-re- staurative Situation. Ein weiterer Ef- fekt der Initialbehandlung liegt darin, einen besseren Zugang zu dem Patien- ten mit der Schaffung eines persönli- chen Kontakt- und Vertrauensverhält- nisses zu finden. Auf diese Weise steht nach einigen Sitzungen die anfänglich stark dominierende Vergiftungsvor-

stellung nicht mehr allein im Vorder- grund. Falls der Patient regelmäßig ei- nen Arzt seines Vertrauens aufsucht, kann eine solche Vorgehensweise durch persönliche Rücksprache des Zahnarzts mit dem ärztlichen Kolle- gen sehr wirksam unterstützt werden.

Erst dann, wenn ein Vertrauensver- hältnis geschaffen werden konnte und eine zahnärztliche Intervention erste Erfolge gezeigt hat, erscheint es er- folgversprechend, das Thema einer weiterführenden Abklärung der Be- schwerden einschließlich einer even- tuellen psychosomatischen Begleit- therapie in geeigneter Form zu erör- tern. Dazu kann die individuelle Be- sprechung der psychodiagnostischen Testergebnisse hilfreich sein.

Oftmals ist es schon als Erfolg zu werten, wenn es gelingt, den Patienten aus dem komplementärmedizinischen Circulus vitiosus herauszuführen und weitere Extraktionen erhaltungsfähi- ger und unter Umständen für die Gebissfunktion strategisch wichtiger Zähne zu vermeiden.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 2000; 97: A 3344–3351 [Heft 49]

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literatur- verzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser und über das Internet (www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Dr. med. dent.

Hans Jörg Staehle

Poliklinik für Zahnerhaltungskunde Mund-, Zahn und Kieferklinik des Universitätsklinikums Heidelberg Im Neuenheimer Feld 400 69120 Heidelberg

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 49½½½½8. Dezember 2000 AA3351

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