ternheit und Sicherheit der Fakten, die bestimmend werden sollten. Vir- chow trat nicht gegen die Entwick- lungslehre, den Darwinismus im be- sonderen, als Kronzeuge auf, wie ei- nige meinten, sondern er wollte ver- hindern, daß Halbwahres, nur in umgrenzten Bereichen Gültiges oder nur Gedachtes und Gewünsch- tes als Tatsächliches über den Kreis der Naturwissenschaften hinaus- drang und verhängnisvolle Wirkung entfaltete.
Natur - Mensch - Gesellschaft
An Beispielen aus seiner Zellu- larpathologie machte Virchow deut- lich, wie Fakten und Bilder, die im Bereich der Anatomie, der Physio- logie und der Pathologie Geltung hatten, in außermedizinische Berei- che übertragen wurden und damit Wahrheit und Sinn verloren. Vir- chow wies so auf einen Vorgang hin, der nicht nur zu seiner Zeit bedeut- sam wurde, der vielfach ein Prinzip der Erkenntnis und der wissen- schaftlichen Methodik in der Ver- gangenheit war: ich meine die Ana- logisierung. Als die Naturwissen- schaft in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts sich mächtig in Breite und Tiefe auszudehnen begann, ent- wickelte sie eine erdrückende Hege- monie. Sie gewann eine solche Fas- zination, daß ihre Arbeitsergebnis- se, ihre Ideen und Modelle, die sie entwickelte, anscheinend Prägekraft für andere Wissenschaften und Le- bensbereiche gewannen. An vieler- lei Beispielen läßt sich das demon- strieren. So wurden zeitweise die Gesellschaftslehren, wie sie Auguste Comte in Frankreich, Herbert Spen- cer in England entwickelten, weithin von naturwissenschaftlichen Vor- stellungen beherrscht. Albert Schäffle (1831 bis 1903), ein schwä- bischer Gelehrter, ein Journalist zu- nächst, dann Professor der politi- schen Ökonomie in Tübingen und Wien, Mitglied des Württembergi- schen Landtags 1862 bis 1865, des Deutschen Zollparlaments, österrei- chischer Handelsminister im Kabi- nett Hohenwart 1877, danach Pri-
vatmann in Stuttgart, dieser Albert Schäffle veröffentlichte 1875 bis 1878 ein dickleibig deutsches, vier- bändiges Werk von 2500 Seiten über
„den Bau und das Leben des socia- len Körpers, einen encyklopädi- schen Entwurf einer realen Anato- mie, Physiologie und Psychologie der menschlichen Gesellschaft mit besonderer Rücksicht auf die Volks- wirtschaft
als socialem Stoffwech- sel".
Darin werden bis in die Details Begriffe der Medizin und Naturwis- senschaften in soziale Bereicheübertragen. Ein Naturmodell der Gesellschaft als Organismus mit all seinen Entsprechungen zum menschlichen Körper konstruierte darin Schäffle Ähnliches versuchte der Balte Paul von Lilienfeld, ein Nationalökonom, Gutsbesitzer und Staatsbeamter in russischen Dien- sten, mit einem umfangreich fünf- bändigen Werk, „Gedanken über
die Socialwissenschaft der
Zu- kunft` mit Teilstücken über „die menschliche Gesellschaft als realem Organismus" , „die sociale Physiolo-Medizin im Dritten Reich
Mit diesem Artikel beginnt das DEUTSCHE ÄRZTEBLATT ei- ne umfassende Reihe mit Beiträgen über die Medizin im Nationalso- zialismus — umfassend sowohl was die Thematik wie auch den über Monate angelegten Erscheinungsrhythmus betrifft.
Das Interesse an Fragen der jüngeren Vergangenheit ist auch in der Ärzteschaft offensichtlich groß. Das zeigt sich immer wieder in Gesprächen und in der Leserreaktion auf Beiträge über die NS-Zeit, etwa auf das Interview mit Dr. Karsten Vilmar in Heft 18/1987. Davon ausgehend hat der 90. Deutsche Ärztetag im vorigen Jahr eindrucks- voll, wenn auch kurz, über das Verhalten von Ärzten im Dritten Reich diskutiert und beschlossen, das Thema weiterhin und vertiefend zu be- handeln. Das DEUTSCHE ÄRZTEBLATT, von der Bundesärzte- kammer mit herausgegeben, wird mit den hier angekündigten Artikeln dazu beitragen, im Sinne des Ärztetages, der Hauptversammlung der Bundesärztekammer, aufarbeitend und aufklärend zu wirken.
Dementsprechend behandeln die Beiträge dieser Artikelfolge nicht allein Geschehnisse der NS-Zeit; sie gehen vielmehr auch den Ursachen — soweit möglich und soweit wissenschaftlich erforscht — so- wie den Wirkungen bis in unsere Zeit hinein nach. Die Beiträge basie- ren auf der medizinhistorischen Forschung nach dem jüngsten Stand;
sie sind von kompetenten Fachleuten geschrieben.
Die Artikel werden in loser Folge erscheinen. Vorgesehen ist zu- nächst, die Grundlagen zu behandeln, die der Ideologie und dem Han- deln der NS-Zeit den Boden bereiteten, wie zum Beispiel die Konzep- te von Biologismus und Sozialdarwinismus, die Rassenhygiene und das politische und gesellschaftliche Selbstverständnis der deutschen Ärzte vor 1933. Sodann werden gesundheitspolitische Vorstellungen der Na- tionalsozialisten (zum Beispiel genetische Auslese, Ausmerzung
„Minderwertiger", Leistungsorientierung, Neue Deutsche Heilkun- de) vorgestellt sowie das tatsächliche Handeln beschrieben — von der Machtübernahme über die Ausschaltung jüdischer Ärzte bis hin zu Zwangssterilisation, Euthanasie und anderen Medizinverbrechen.
Die Redaktion dankt den Medizinhistorikern, die sich bereit er- klärt haben, an dieser aufklärenden Artikelfolge mitzuwirken, und na- mentlich auch Professor Dr. med. Rudolf Toellner, Münster, der, nach einem Gespräch im Hause der Bundesärztekammer, die ersten Fachkontakte angebahnt hat. Professor Dr. med. Johanna Bleker, Berlin, hat die Themenauswahl vorbereitet, die Verbindung zu den Autorinnen und Autoren aufgenommen und das Vorhaben koordi- niert. NJ
Dt. Ärztebl. 85, Heft 17, 28. April 1988 (27) A-1177