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Archiv "Euthanasie im Dritten Reich: „Ich klage an“" (26.10.2001)

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er Gnadentod für alle nach menschlichem Ermessen unheil- bar Kranken – geradezu zynisch klingt diese Formulierung des Ermäch- tigungsschreibens zur Euthanasie heu- te. Hitler hatte es auf den 1. September 1939 datiert, den Beginn des Zweiten Weltkrieges. Symbolhaft beginnt an diesem Tag auch der Krieg gegen das

„unwerte Leben“. Die schrecklichen Konsequenzen sind bekannt. In den folgenden Jahren der Nazi-Diktatur kommt es zur planmäßigen Ermordung unzähliger Behinderter und psychisch Kranker in den damaligen „Heil- und Pflegeanstalten“.

Es waren die Angehörigen der Op- fer, die sich für die Aufarbeitung der verbrecherischen Taten im Landes- krankenhaus Wehnen bei Bad Zwi- schenahn (Niedersachsen) eingesetzt haben. Jahrzehntelang waren die Ge- schehnisse in der psychiatrischen Klinik im Dunkeln geblieben. Erst durch ei- ne wissenschaftliche Untersuchung des Historikers Dr. phil. Ingo Harms war es ans Licht gekommen: In Wehnen hat es schätzungsweise 1300 bis 2 000 Eu- thanasiefälle gegeben. Die Dissertation bezieht sich auf den Zeitraum von 1913 bis 1947 und legt die Annahme nahe, dass eugenisch motiviertes Töten in Wehnen nicht nur während, sondern auch vor und nach der Zeit des Na- tionalsozialismus stattfand. Dies gelte auch für andere Anstalten. Dem „Ge- denkkreis Wehnen – Angehörige von Opfern der NS-Euthanasie“ ist es zu verdanken, dass seit dem 1. September ein Denkmal an die Toten erinnert. Die Sprecherin, Afra Cassens-Mews, sieht darin den Auftrag an alle, nie wieder zuzulassen, dass eigentlich schutz- und hilfsbedürftige kranke und behinderte Menschen als „lebensunwert“ gesehen und behandelt werden.

Zur Enthüllung des Denkmals sprach unter anderem der Hamburger Psychiater, Historiker und Soziologe Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus Dörner, Mitbegründer des „Bundes der Eu- thanasie-Geschädigten und Zwangsste- rilisierten“. Er ging in seiner Rede kri- tisch mit der Geschichte der Psychiatrie ins Gericht. Schon Ende des 19. Jahr- hunderts habe man die lebenslängli- che Unterbringung chronisch psychisch Kranker in überfüllten Anstalten zuge- lassen, die die Würde des Einzelnen existenziell bedroht hätten. Dafür klage

er die Psychiatrie und sich selbst als Psychiater an. Ebenso für die um 1900 definierten überwiegend unwis- senschaftlichen Krankheitsbegriffe wie Schizophrenie, Degenerationspsycho- se, Entartung und Psychopathie. Derar- tige Bezeichnungen seien unter unhalt- baren Anstaltsbedingungen entstanden und mit einer regelmäßig negativen

Prognose verknüpft gewesen. Diese Krankheitssicht habe dazu beigetragen, die Tötung solcher Patienten als mögli- chen Umgang mit ihnen in Betracht zu ziehen und sogar als eine Art „Erlö- sung“ von ihrem „nutzlosen Vegetie- ren“ zu sehen. Bereits während des Er- sten Weltkrieges seien ungefähr 70 000 Patienten in Anstalten den Hungertod gestorben. Nicht ausreichend wider- sprochen habe man auch den Forderun- gen des Juristen Karl Binding und des Psychiaters Alfred Hoche, die schon in den Zwanzigerjahren die Freigabe der „Vernichtung lebensunwerten Le- bens“ vorschlugen. Sie setzten sich für die Ermordung ohnehin „geistig Toter“

aus volkswirtschaftlichen Gründen ein.

Schließlich klage er die Zwangssterili- sation, die Deportation, die Tötung und das gezielte Verhungernlassen von Pati- enten zu Zeiten der Nazi-Herrschaft an.

Ferner spricht Dörner von einer zweiten Schuld: „Ich klage an, dass wir ab 1945 so getan haben, als sei nichts ge- schehen.“ Überlebende Opfer und de- ren Angehörige habe man über Jahr- zehnte allein gelassen. Dadurch sei ih- nen zusätzliches Leid angetan worden.

Auch mit dem in der heutigen Gen- technik-Debatte vorherrschenden Men- schenbild befasst sich die Anklage. Man sei heute wieder damit einverstanden, dass Menschen unter dem Aspekt der Verbesserung, Vermeidung oder Ab- schaffung infrage gestellt würden, an- statt sie in ihrem Sosein anzunehmen und zu schützen.

Der Blick auf die Geschichte der Psychiatrie zeigt, dass das Bild von psy- chischer Erkrankung als eine Form de- fizienten Lebens nicht nur in der Zeit des Nationalsozialismus anzutreffen ist.

Die sozialbiologische Deutung der dar- winistischen Selektionstheorie hat eine bedeutend längere Tradition und fand zahlreiche Anhänger in wissenschaftli- chen Kreisen. Die Parallelen, die sich unter anderem zur Debatte über Präim- plantationsdiagnostik ergeben, machen nachdenklich. In erschreckender Weise verdeutlicht der Vergleich, wie nahe sich einige Akteure in der Diskussion mit ihren Positionen an einem ähnlich bedenklichen Menschenbild befinden.

Deutlich wird außerdem, wie sehr sich die Öffentlichkeit an diese Standpunkte gewöhnt hat. Birgit Hibbeler P O L I T I K

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 43½½½½26. Oktober 2001 AA2779

Euthanasie im Dritten Reich

„Ich klage an“

Das Menschenbild der Psychiatrie und ihre unwissenschaftlichen Krankheitsbegriffe waren Klaus Dörner zufolge der Nähr- boden für die Verbrechen an Patienten während der NS-Zeit.

Foto: Afra Cassens-Mews

„Die Schwachen und Kranken zu schützen ist die Würde der Gesunden“, so lautet die In- schrift des Mahnmals in Wehnen.

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