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Archiv "„Kindereuthanasie„ im Dritten Reich: Der Fall „Kind Knauer„" (08.05.1998)

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it dem beschönigen- den Namen „Kinder- euthanasie“ wurde im Dritten Reich ein Mordpro- gramm bezeichnet, dem rund 5 000 bis 8 000 behinderte beziehungsweise „auffällige“

Kinder zum Opfer fielen.

Dieses Programm wurde von einer in der Kanzlei des Füh- rers untergebrachten Tarnor- ganisation mit dem Namen

„Reichsausschuß zur wissen- schaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ gesteuert.

Ärzte und Hebammen waren durch einen Erlaß des Reichsministeriums des In- nern vom 18. August 1939 verpflichtet worden, mißge- bildete Kinder und Säuglinge den Gesundheitsämtern zu melden. Diese leiteten die Meldungen an den „Reichs- ausschuß“ weiter. Nach ei- nem pseudowissenschaftli-

chen Begutachtungsverfah- ren wurden gemeldete Kin- der, die als „lebensunwert“

oder als „fragliche Fälle“ an- gesehen wurden, in eine der neugegründeten „Kin- derfachabteilungen“ aufge- nommen. Viele der aufge-

nommenen Kinder wurden anschließend ermordet.

Vorgeschichte Für die Erhellung der Vorgeschichte der „Kinder- euthanasie“ ist man im we-

sentlichen auf Aussagen von Angeschuldigten in Nach- kriegsprozessen angewiesen, die naturgemäß nur mit aller- größter Vorsicht verwendet werden können. Darin wird immer wieder auf den Fall

„Kind Knauer“ als „Anstoß“

oder „Anlaß“ für den Beginn der „Kindereuthanasie“ hin- gewiesen. Zwar stimmten die Aussagen zu diesem Fall in wesentlichen Punkten über- ein, doch gab es auch erhebli- che Abweichungen.

Dr. Hans Hefelmann war der ehemalige Leiter des Amtes II b der Kanzlei des Führers, der eigentliche bü- rokratische Organisator der

„Kindereuthanasie“. Er sagte am 31. August 1960 im Hey- de-Verfahren vor der Gene- ralstaatsanwaltschaft Frank- furt aus: „Der vorerwähnte Fall ereignete sich im Jahre 1938; einen genauen Zeit-

A-1187 Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 19, 8. Mai 1998 (67)

V A R I A GESCHICHTE DER MEDIZIN

„Kindereuthanasie“ im Dritten Reich

Der Fall

„Kind Knauer“

Die näheren Einzelheiten des Falles

„Kind Knauer“, dem eine wichtige Rolle in der Vorgeschichte der „Kindereuthanasie“ im Dritten Reich zugeschrieben wird, scheinen

jetzt geklärt.

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A-1188 (68) Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 19, 8. Mai 1998

V A R I A GESCHICHTE DER MEDIZIN

punkt kann ich nicht mehr nennen. Es handelte sich um das Kind Knauer. Meiner Er- innerung nach fehlten dem Kind Knauer drei Gliedmas- sen und das Augenlicht. In diesem Fall erfuhr ich erst- mals nach Weiterleitung des Gesuchs, dass Professor Brandt, der Leibarzt Hitlers, mit einer genauen Befunds- ermittlung beauftragt wurde.

Das Kind lag in der Univer- sitätsklinik in Leipzig. Der Leiter war damals Professor Catel. Bei Rückkehr des Pro- fessors Brandt aus Leipzig er- schien dieser bei mir auf der Dienststelle und setzte mich davon in Kenntnis, dass das Kind Knauer eingeschläfert wurde“ (GStA Frankfurt 17 Js/59, Anklageschrift, Seite 48).

Aussagen

Im November 1960 er- gänzte Hefelmann, daß er sich „mit Sicherheit erinnern zu können“ glaube, daß die Kanzlei des Führers „auf den Fall des Kindes durch ein Ge- such der Grossmutter des Kindes aufmerksam gemacht worden ist“ (Seite 49). Und weiter: „Ich meine, dass der Fall Knauer sich spätestens in den beiden ersten Monaten des Jahres 1939 ereignet ha- ben muss“ (Seite 51). Über die Bedeutung des „Falles“

für die Genese der „Kinder- euthanasie“ sagte Hefelmann in dieser Vernehmung: „Der Fall K. führte dazu, dass Hit- ler Brandt und Bouhler [den Leiter der Kanzlei des Füh- rers] ermächtigte, in Fällen ähnlicher Art analog dem Falle Kind Knauer zu ver- fahren“ (Seite 53).

Ähnliches hatte Karl Brandt, der ehemalige Be- gleitarzt Hitlers, im Nürn- berger Ärzteprozeß 1947 ausgeführt. Im Detail wich seine Aussage jedoch von den Aussagen Hefelmanns ab: Brandt gab beispielswei- se an, daß er ein Gnaden- todgesuch gekannt habe, das „im Jahre 1939 dem Führer über seine Adjutan- tur zugeleitet worden ist. Es handelte sich darum, dass

der Vater eines missgebilde- ten Kindes sich an den Füh- rer wandte und darum bat, dass diesem Kinde oder die- sem Wesen das Leben ge- nommen würde. Hitler gab mir seinerzeit den Auftrag, mich dieser Sache anzuneh- men und sofort nach Leipzig zu fahren“ (zitiert nach 17 Js/59, Anklageschrift, Seite 51).

Die Akten der Kanzlei des Führers, die Aufschluß über Einzelheiten des „Fal- les“ hätten geben können, gelten ebenso wie die Ak- ten der Leipziger Kinder- klinik als verloren. Eine Überprüfung der Angaben aus anderen objektiven

Quellen schien unmöglich.

Deshalb folgte die For- schung wohl auch, trotz des nahezu obligatorischen Hinweises auf die Wider- sprüche in den zitierten Aussagen, der in der Ankla- geschrift der Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft erarbeiteten Darstellung.

Danach ereignete sich der

„Fall Knauer“ Ende 1938 oder gleich zu Beginn des Jahres 1939. Nur in einem in Deutschland unbeachteten Werk eines französischen Journalisten fanden sich weiterführende Angaben.

Es handelte sich um den vierten Band (1975) eines in Genf erschienenen vierbän-

digen Werks mit dem Titel

„Les médecins de la mort“

von Philippe Aziz. Im ersten Teil berichtete Aziz über ein Interview, das er im April 1973 in Pomßen (einem klei- nen Ort in der Nähe von Leipzig) mit einer Familie

„Kressler“ geführt hatte. Es ging dabei offenkundig um den Beginn der „Kinder- euthanasie“.

Interview aus dem Jahr 1973 Aus diesem Interview ging folgendes hervor: Der am „Vorabend des Krieges“

(es ist nicht klar, ob 1938 oder 1939 gemeint war) geborene

Sohn der Familie „Kressler“

war schwerbehindert. Das Kind war blind, der linke Un- terarm fehlte, das Bein war mißgebildet. Mit der Zeit wurde auch deutlich, daß es

„zurückgeblieben“ war.

Die Familie stellte das Kind Prof. Werner Catel vor, dem Leiter der Universitäts- kinderklinik in Leipzig. Die- ser sagte zu Frau „Kressler“, daß das Kind niemals normal sein werde. Er sagte weiter, daß ein solches Wesen nicht leben sollte. Nach der Rück- kehr aus Leipzig besprach Herr „Kressler“ die Angele- genheit mit seinem Bruder, der Mitglied in der NSDAP war. Dieser brachte ihn dar-

auf, dem „Führer“ zu schrei- ben. Herr „Kressler“ verfaß- te einen langen Brief, in dem er Hitler um die Erlaubnis bat, dem Kind den Gnaden- tod zu geben. Einige Zeit nach der Absendung kam an einem heißen Sommertag im Jahr 1939 überraschend Dr.

Karl Brandt nach Pomßen.

Brandt sagte, daß es dem

„Führer“ ein großes Anlie- gen gewesen sei, sich dem Problem der Wesen ohne Zu- kunft zuzuwenden, deshalb habe er ihn persönlich ge- schickt. Der „Führer“ stimme dem „Gnadentod“ des Kin- des zu. Dr. Brandt veranlaßte dann alles Weitere. Er suchte Prof. Catel in Leipzig auf. Ca- tel habe einige Tage nach dem Besuch Brandts in Pomßen den Sohn „einge- schläfert“.

Soweit Aziz. Konnte man dem Glauben schenken? Um dies abschätzen zu können, mußte zuerst geklärt werden, ob die Familie „Kressler“ mit der vielzitierten Familie

„Knauer“ identisch war. Eine Anfrage bei dem für Pomßen zuständigen Landratsamt in Grimma erbrachte jedoch, daß 1938/39 beziehungsweise 1973 weder eine Familie Knauer noch eine Familie Kressler in Pomßen gemeldet war. Es war jedoch nicht aus- geschlossen, daß sowohl der Name Knauer als auch der Name Kressler Pseudonyme darstellten. Es war also nach einem in Pomßen geborenen Kind zu suchen, das 1939

„verstorben“ war.

Die Suche nach

„Kind K.“

An dieser Stelle halfen die Kirchenbücher der Gemein- de Pomßen weiter. Die Re- cherche ergab, daß in den Jahren 1938/39 nur drei Kin- der von in Pomßen ansässi- gen Familien gestorben wa- ren. Ging man davon aus, daß die von Aziz referierten An- gaben zur Familie „Kressler“

stimmten (demnach war das behinderte Kind männlich, es war das erste Kind der Fami- lie, die Tötung erfolgte im Sommer 1939), dann kam von Dr. Karl Brandt, ehemaliger Begleitarzt Hitlers, während des

Nürnberger Ärzteprozesses 1947 Foto: US-Army

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diesen drei Kindern nur eines in Frage: Dieses männliche Kind, das Erstgeborene der Familie, kam laut Kirchen- buch am 20. Februar 1939 in Pomßen zur Welt. Als Todes- tag ist im Kirchenbuch der 25.

Juli 1939, also ein Tag im Sommer, angegeben. Für die Richtigkeit der Hypothese, daß es sich bei diesem Kind um das gesuchte handelt, sprach auch, daß der Nachna- me der Familie mit „K“ be- ginnt (aus Gründen des Da- tenschutzes kann der voll- ständige Name nicht angege- ben werden).

Zur weiteren Überprü- fung der Angaben wurde beim Landratsamt in Grim- ma angefragt, ob Herr „K.“

einen Bruder gehabt hatte, der ihn aufgefordert haben könnte, an Hitler zu schrei- ben. Die Antwort war positiv:

Herr „K.“ hatte einen älteren Bruder.

Die Indizien verdichteten sich also dahingehend, daß die eruierte Familie „K.“ mit der von Aziz interviewten Fa- milie „Kressler“ identisch war. Um jedoch ganz sicher- zugehen, wurde Kontakt mit Aziz aufgenommen, der be- stätigte, daß „Kressler“ ein Pseudonym sei. Er bestätigte außerdem, daß der recher- chierte Name der richtige sei.

Mit dieser Familie „K.“ habe er 1973 gesprochen.

Damit kann als sicher gel- ten, daß es den Fall „Kind K.“

– wie man ihn künftig nennen sollte – tatsächlich gab. Der Fall „Kind K.“ war insofern wichtig für die Entschlußbil- dung der Verantwortlichen, als daß hier tatsächlich eine von Hitler inoffiziell legiti- mierte Tötung vorgenommen wurde. Ob der Fall mehr war, eventuell sogar der Anlaß für die konkrete Planung der Aktion, bleibt zu klären.

Anschrift des Verfassers Prof. Dr. med. Dr. phil.

Udo Benzenhöfer Abt. Medizingeschichte Medizinische Hochschule Hannover

Carl-Neuberg-Straße 1 30625 Hannover

A-1189 Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 19, 8. Mai 1998 (0)

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